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Mit dem Autozug in Richtung Türkei
Von Reinhold Mager
„Wer in eines der Autos auf dem Temeswarer Bahnhof einsteigt, der kann in Istanbul aussteigen - und ist in der Freiheit.“ Diese Worte aus dem Mund des Tubaspielers Hans Rieder aus dem Orchester der Temeswarer Philharmonie haben mich und meinen Freund Johann Wagner, den wir Schlopp nannten, an einem Tag Anfang 1968 aufhorchen lassen. Rieder hatte sie aufgeschnappt von seinem Orchesterkollegen Peter Rieß, der bei den Philharmonikern die Trompete spielte. Obwohl Hans manchmal zu leichten Übertreibungen neigte, nahmen Schlopp und ich das Gesagte ernst. Ich überlegte, ob es technisch eine Möglichkeit gibt, ohne Schlüssel in die Autos zu gelangen, Reinhold Mager ohne dabei Einbruchspuren zu hinterlassen. Wir sagten uns, wenn jeder sich in den Kofferraum eines Autos einschließt und frühestens in der Türkei aussteigt, sei alles geschafft. Schlopp und ich recherchierten, wohin die Pkw geliefert wurden, zu welchen Zeiten die Züge fuhren. Es hat sich herausgestellt, dass die Güterzüge nach einem festen Fahrplan verkehrten, nur Frachten und Adressen waren verschieden. Es gab verschiedene Autotypen, die transportiert wurden. In allen Fällen waren die Autos verschlossen und die Schlüssel am Kühlergrill befestigt und versiegelt. Es war unmöglich, die Schlüssel abzumachen, ohne das Siegel zu beschädigen. Also mussten wir entweder direkt in den Kofferraum gelangen oder durch das Auto über den Rücksitz, um anschließend den Rücksitz richtig einrasten zu lassen. Den Kofferraum direkt zu öffnen erwies sich als unmöglich. Deshalb blieb nur die Variante, durchs Auto einzusteigen. Wegen der Größe des Kofferraums legten wir uns auf die Ford-Modelle Taunus 17 M und 20 M fest. Wir bastelten Werkzeuge, um die Autotüren zu öffnen und vom Inneren in den Kofferraum zu gelangen. Wir haben begonnen, mit Drahtschlingen zu experimentieren. Wir haben die Gummidichtung an der Vordertür durchstochen und mit der Schlinge die Knöpfchen an der Innenseite der Tür gehoben. Stetig haben wir unser Werkzeug verbessert und weiter geprobt. Am 6. Mai 1968 sollte es losgehen. Wir haben uns für 19.30 Uhr am Bahnhof
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verabredet. Hans Rieder, Schlopp und ich, jeder hatte seine Tasche mit Werkzeugen und Verpflegung dabei. Der Zug war pünktlich, wir warteten, bis die technischen Prüfungen der Bahn abgeschlossen waren. Ich bin auf den Wagen gestiegen, Schlopp ist mir gefolgte. Wir mussten uns hinlegen, um nicht gesehen zu werden. Der Zug fuhr immer schneller, Rieder war nicht aufgestiegen. Auf offener Strecke konnten wir uns setzen. Wir überlegten, was wir tun sollten, und beschlossen beim ersten Halt in Rekasch auszusteigen und zurückzufahren. Wir wollten Hans nicht zurücklassen. Nun hat alles seine guten und schlechten Seiten. Es war die beste Gelegenheit, unsere Werkzeuge zu testen. Es hat geklappt, wir konnten die Türen öffnen und in den Wagen gelangen. Auch vom Wageninneren in den Kofferraum zu gelangen war nicht schwierig. Trotz alledem habe ich meine Werkzeuge für den nächsten Einstieg verbessert. Aber nicht nur die technischen Fragen hatten uns vor der Flucht beschäftigt. Wir haben uns auch gefragt, was uns erwartet, falls wir ertappt werden. Grenzgänger wurden nach den damals geltenden Gesetzen zu drei bis zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Aber wir wussten, dass dieses Gesetz demnächst geändert werden soll. Die Strafen sollten milder werden. Auch das hat uns veranlasst, die Flucht zu wagen. Am 9. Mai 1968 sind wir zu dritt auf dem Rekascher Bahnhof in je einen Ford eingestiegen. Wir haben uns für Rekasch entschieden, weil der kleine Bahnhof viel ruhiger war als der Temeswarer. Wir haben die Wagentüren mit der Drahtschlinge geöffnet, die Rückbank samt Lehne entfernt, die Streben vor dem Kofferraum durchsägt; danach sind wir eingestiegen, haben die Türen verriegelt, sind in den Kofferraum gekrochen und haben Bank und Rückenlehne wieder eingesetzt. Jeder von uns hatte drei Liter Wasser und Kekse bei sich. Das sollte unserer Ansicht nach reichen, um die drei Tage zu überstehen, die der Zug über Bukarest, Russe, Sofia und Swilengrad nach Edirne in der Türkei zurücklegt. Die Fahrt konnte beginnen. Ich lag im Kofferraum und überlegte: Ich sollte am 14. Mai zum Geburtstag meiner Mutter nach Hause fahren. Ich rechnete nach und dachte, ich werde von Deutschland aus anrufen können und ihr alles Gute wünschen. Im schlimmsten Fall könnte ich aus der Türkei ein Telegramm schicken. Die erste Nacht ist planmäßig verlaufen, der Zug war in Bukarest ziemlich pünktlich angekommen. Ich hörte das Rangieren, und die Fahrt ging weiter. Am nächsten Tag, gegen 10 Uhr, hörte ich das typische Geräusch des Überquerens einer Eisenbahnbrücke. Wir hatten bei Russe die Donau passiert. Ich hatte nachgerechnet, die Fahrt werde höchstens noch einmal so lange dauern, denn wir hatten von der Strecke schon fast zwei Drittel geschafft. Doch ab da hat das Elend begonnen. Unser Waggon wurde abgehängt, und wir standen in der heißen Sonne. Es wurde immer unerträglicher. Wir fuhren ab, und an eine Stunde und wurden wieder abgehängt. Der Zug stand wieder einmal
einen halben Tag. Je südlicher wir kamen, desto unerträglicher wurde die Hitze, das Wasser wurde knapp. Am fünften Tag nach der Abfahrt in Rekasch stand der Zug in Swilengrad im Dreiländereck Bulgarien, Türkei, Griechenland. Doch das war mir nicht bekannt. Ich habe beschlossen, in der nächsten Nacht auszusteigen und mich mit Schlopp und Hans Rieder zu beraten, denn ein weiterer Tag in der prallen Sonne war nicht zu ertragen. Was ich nicht wusste, Schlopp und Hans Rieder hatten schon am dritten Tag kein Wasser mehr. Schlopp hat es schließlich vor Durst nicht mehr ausgehalten. Er hat am Nachmittag schon den Kofferraumdeckel von innen geöffnet, ist ausgestiegen, um im Bahnhof Trinkwasser zu suchen. Er hat einen Brunnen gefunden, getrunken, einen Schock erlitten, ist zusammengebrochen, hat sich aber wieder aufgerappelt; Leute wollten ihm helfen, er konnte sich aber nicht mit ihnen verständigen, nicht nur weil er kein Bulgarisch sprach, sondern einfach auch, weil Mund und Hals so ausgetrocknet waren, dass er sich nicht artikulieren konnte. Schlopp wollte nun die Dunkelheit abwarten, um ungesehen zurück in den Bahnhof zu gelangen und wieder ins Auto einzusteigen. Er hat versucht, sich auf Umwegen zurück zum Waggon zu schleichen, doch dabei ist er einem Grenzsoldaten in die Arme gelaufen. Der Grenzer war mehr erschrocken als der Gefasste. Die Polizei konnte sich nicht mit ihm verständigen und hat ihn freigelassen, vermutlich, um ihn zu beobachten. Doch Wagner ist nicht zum Zug gegangen, er wollte die Dunkelheit abwarten. Noch vor Einbruch der Nacht haben die Bulgaren ihn wieder kassiert. Gegen 23 hörte ich die Kontrolleure, die sich von Wagen zu Wagen bewegten. Doch was ich zu jenem Zeitpunkt nicht wissen konnte: Der Kofferraumdeckel an Schlopps Wagen war geöffnet. Als die Zöllner das bemerkt hatten, wurde es plötzlich laut. Ich ahnte, dass etwas nicht stimme. Und dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis sie den Wagen geöffnet haben, in dem ich lag. Mit vorgehaltener Pistole hat ein Grenzer mir befohlen, auszusteigen. Fürs erste war ich froh, an der frischen Luft zu sein, ich hatte keine Angst. Als ich auf den Beinen war, bin ich beinahe umgekippt, die Knie zitterten. Am 9. Mai waren wir in Rekasch losgefahren, am 14. Mai, dem Geburtstag meiner Mutter, wurden wir festgenommen. Ein Telegramm mit Geburtstagswünschen konnte ich leider nicht schicken. Die erste Nacht verbrachten wir drei bei der Grenzpolizei, die uns mit Hilfe eines Dolmetschers verhörte. Dann ging es nach Sofia und nach 14 Tagen über den Donauhafen Russe in das Gefängnis Văcăreşti in Bukarest zum Verhör. Danach wurden wir in das berüchtigte Gefängnis Jilava verlegt. Wir waren mit politischen Häftlingen in einer Zelle, insgesamt zwölf Mann. Ausgestattet war die Zelle mit einem 50 Liter großen Fass ohne Henkel, das als Toilette diente. Zwei Mann mussten das Fass jeden Morgen hinaustragen und leeren. Täglich standen uns 20 Liter Wasser zur Verfügung: zum Trinken und zum Kleiderwa-
schen. Jeder Häftling war einmal in zwei Wochen an der Reihe, ein paar Kleidungsstücke zu waschen. Zu mehr reichten Wasser und Seife nicht. Das Essen war karg. Wir zwölf bekamen täglich einen Laib Brot, den wir penibel in ebenso viele Stücke schnitten. Einmal am Tag gab es Maisbrei und Suppe. Wir waren ständig hungrig. Unsere Nasen wurden allmählich spitz. Hans Rieder war der einzige, der ab und an den Fraß verweigert hat. Doch das hat niemanden gekümmert. In Jilava blieben wir sechs Monate, bis zur Urteilsverkündung. Das schlimmste in der ganzen Zeit war die Untätigkeit. Zu lesen gab es lediglich kommunistische Propagandaliteratur. Das Gericht hat mich nach dem alten Gesetz zu vier Jahren und Schlopp und Hans zu je drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die erhoffte und angekündigte Amnestie war noch nicht in Kraft. Nach der Urteilsverkündung wurden wir nach Straßburg am Mieresch in Siebenbürgen verlegt, in eine Zelle für vier Mann, die kaum Platz zum Stehen bot. Schlopp und ich wurden in die Produktion von Sparherden eingegliedert; unsere Aufgabe war, Backröhren herzustellen. Ich stanzte den ganzen Tag, Schlopp hämmerte. Wir schafften an die 200 Backröhren am Tag. Die Überproduktion wurde uns gutgeschrieben und sollte uns helfen, frühzeitig entlassen zu werden. Es war eine sehr schwere Arbeit. Lebensmittel, die wir von zu Hause in Paketen erhalten haben, konnten unseren Hunger stillen. Monatlich durfte jeder Häftling ein 10 Kilogramm schweres Paket mit Lebensmitteln und Zigaretten entgegennehmen. Mit Zigaretten konnte der Häftling alles kaufen. Grenzgänger sind 1968 noch nicht unter das Amnestiegesetz gefallen, haben wir eines Tages erfahren. Doch unser Prozess wurde auf Antrag neu aufgerollt; wir wurden nach dem neuen Gesetz zu je einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach einem Jahr waren wir frei: Am 9. Mai 1968 waren wir in Rekasch in die Autos gestiegen, am 14. Mai 1969 war ich zu Hause in Hodon auf dem Geburtstag meiner Mutter, mit einjähriger Verspätung. Mein Vater, dem ich nach der Entlassung bei der Arbeit auf dem Feld half, hat sich gewundert, wie viel Kraft ich inzwischen hatte. Die schwere Arbeit im Gefängnis hatte meine Muskeln gestärkt. Die Gefängniszeit hat uns nicht nur zusätzliche Kraft gebracht, wir haben sie auch zum Lernen genutzt. Ich habe Englisch gelernt, denn in der Zelle mit uns saß ein Englischlehrer, der über Jugoslawien in die Freiheit zu flüchten versucht hatte. Die Fluchtgeschichte des Lehrers: Er hat den Rhythmus des Grenzerwechsels bei Turnu Severin an der Donau studiert und sich mit einem Fahrrad auf die Flucht begeben, das er mit zusätzlichen Schläuchen versehen und auf ein Strandkissen gebunden hatte, so dass es schwamm. Damit hat er das serbische Ufer erreicht. Weil die deutsche Botschaft in Belgrad ihn abgewiesen hatte, hat sich der behinderte Lehrer, er hinkte, mit dem Fahrrad auf nach Dubrovnik aufgemacht. Er hat sich in der Ankerluke eines israelischen Schiffes versteckt und
hatte Glück, dass der Anker nicht bewegt wurde. Als er sich beim Kapitän gemeldet hatte, hat der ihn dem noch an Bord befindlichen jugoslawischen Grenzschutz ausgeliefert mit der Begründung, er sei noch in jugoslawischen Hoheitsgewässern. Danach hat alles seinen gewohnte Gang genommen: Die Jugoslawen haben ihn an Rumänien ausgeliefert. Nach der Verurteilung hat er uns im Gefängnis getroffen. Bei der Entlassung habe ich festgestellt: Ein Häftling versucht vergebens zu verbergen, dass er aus dem Gefängnis kommt, denn man sieht es ihm immer an. Der Weg aus dem Gefängnis hat mich direkt in eine Gaststätte geführt. Nach dem Essen, als der Kellner abräumen wollte, habe ich den Löffel vom Teller genommen. Das hat mich verraten. In den rumänischen Gefängnissen war nichts wertvoller als der Löffel. War der einmal weg, hat der Häftling so rasch keinen neuen mehr bekommen. Deshalb der rasche Griff danach. Im Zug habe ich eine junge Frau getroffen, die mich auszufragen begonnen hat. Doch alles Ausweichen hat nicht geholfen, sie hat schließlich direkt nach der Dauer meiner Haft gefragt. Beim Friseur ist es mir ähnlich ergangen. Nach der Entlassung ist Hans Rieder wieder Musiker in der Philharmonie geworden. Während des Aufenthalts im Gefängnis wurde sein Sohn geboren. Auch Schlopp hat wieder Arbeit gefunden. Ich habe eine neue Stelle in einem Entwurfsinstitut für Werktransport-Maschinen angetreten. In der neuen Firma habe ich die Offensive gesucht. Bei einem Bier habe ich meinem Chef meine Vergangenheit erklärt. Da er auch Parteisekretär im Betrieb war, hat er meine Geschichte schon gekannt und wollte lediglich wissen, ob ich es noch einmal versuchen wollte. Weil ich seine Frage glaubhaft verneint habe, hat sich zwischen ihm und mir ein entspanntes Verhältnis angebahnt. Ich habe jetzt einen anderen Weg eingeschlagen. Meine Cousine war auf dem Weg der Familienzusammenführung nach Deutschland gelangt, ihr Vater war nach dem Krieg aus Angst vor den Kommunisten nicht mehr heimgekehrt. Der Cousine und deren Mutter sind unsere gemeinsamen Großeltern gefolgt. Ich hatte mich, um rascher nach Deutschland zu kommen, scheiden lassen. 1974 bin ich legal mit meinen Eltern ausgereist. Inzwischen weiß ich, dass es ein Fehler war, mich scheiden zu lassen, meine Frau hätte zusammen mit mir den Pass bekommen. Jetzt galt es, diese Scharte auszuwetzen. Therese, meine auf dem Papier von mir geschiedene Frau, und ich haben offiziell bei den rumänischen Behörden einen Heiratsantrag gestellt. Wir haben erneut geheiratet, und meine Frau war am 16. September 1976 bei mir in Deutschland. Meine Fluchtgeschichte hat eigentlich schon im Krieg begonnen. Ich habe erlebt, wie der Vater eingezogen wurde und was Angst bedeutet. Ich habe nachgefragt, was Vater im Krieg macht und wer die Russen sind. Und Großvater hat mir gesagt, „hoffentlich musst du nicht in den Krieg“. Als Siebenjähriger habe ich gesehen, wie meine Landsleute im Januar 1945 in die Viehwaggons verladen und in die Arbeitslager nach Russland verschleppt wurden. Meine Mutter
hat dazugehört, es war nach dem Einmarsch de Russen. Der Vater war noch im Krieg. Mein Bruder, erst fünf Jahre alt, und die Schwester, sie war noch keine zwei, blieben bei den Großeltern. Es war eine Zeit, in der die Alten für die Kinder sorgen mussten. Wir Kinder waren uns den ganzen Tag allein überlassen, wir kamen abends nach Hause, weil wir hungrig waren. Dem von der Arbeit müden Großvater blieb kaum Zeit für uns. Er sagte meist nur, wir sollten die Füße waschen und ins Bett gehen. Vater ist noch 1945 nach Hause gekommen. Er führte uns Kinder wieder an der kurzen Leine. Als Schüler habe ich die Schulreformen erlebt, die Experimente der Kommunisten. Die Technische Mittelschule, an der ich eingeschrieben war, wurde in eine Berufsschule umgewandelt, mit dem Ergebnis, dass die Schüler zum Schluss statt eines Abiturzeugnisses einen Gesellenbrief erhielten. Doch der Gesellenbrief hat uns kaum etwas genutzt, denn wir hatten keine praktischen Kenntnisse erworben in dem Beruf, den wir entsprechend dem Zeugnis angeblich erlernt hatten. Ich war angeblich Elektriker. Meine Arbeit war, auf Baustellen Löcher für Hochspannungsmasten zu graben. Bei dieser schweren Arbeit erinnerte ich mich der Worte meines Lehrers Dr. Hans Weresch: „Mager, mach das Abitur“. Ich habe mich am Abendgymnasium eingeschreiben, 1958 hatte ich das Abiturzeugnis in der Tasche und habe Maschinenbau zu studieren begonnen. Tagsüber haben ich Kalk, Zement und Kohle verkauft, um mich über Wasser halten zu können. 1961 habe ich den ersten Flug des Russen Juri Gagarin ins Weltall erlebt. Ich war der Meinung, als Ingenieur auch im Kommunismus etwas bewegen zu können. Aber zwischendurch überkamen mich immer wieder Zweifel, denn die Mängel des Systems waren nicht zu übersehen. Die ersten Ausreisegedanken haben zu keimen begonnen. Als Ingenieur war ich auf viele Baustellen in ganz Rumänien tätig. 1966 bin ich nach Temeswar zurückgekehrt, habe den Maschinenbauingenieur Johann Schlopp Wagner kennengelernt. Die kommunistische Mangelwirtschaft verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Ich musste mit weiteren zwei Kollegen eine Betriebswohnung teilen. Ich habe über die Firma immer wieder ausländische Kollegen kennengelernt und bin immer mehr ins Grübeln gekommen. Und dann ist der Tag gekommen, an dem Hans Rieder von dem erzählt hat, was Peter Rieß bei einem Glas Bier hatte fallen lassen: „Wer in eines der Autos auf dem Temeswarer Bahnhof einsteigt, der kann in Istanbul aussteigen.“ Es hätte tatsächlich so kommen können, wenn die rumänische und bulgarische Eisenbahn rascher gearbeitet hätten. Hans Rieder konnte sich den Wunsch, in Freiheit zu leben, nicht erfüllen. Er ist 1970 in Temeswar gestorben. Johann Schlopp Wagner, am 17. Januar 1940 in Sackelhausen bei Temeswar geboren, hat einen weiteren Fluchtversuch im April 1971 gewagt. Schlopp ist zusammen mit Horst Zdiarsky, geboren am 1. Juni 1942 in Bogarosch, bei Neumoldowa über die Donau geschwommen, die
in jenen Frühjahrstagen Hochwasser geführt hat. Die Fluten haben die beiden Schwimmer auseinandergebracht; doch im serbischen Gefängnis haben sie sich wieder getroffen. Sie wollten den Serben weismachen, sie wären Bundesbürger. Die jugoslawischen Behörden haben in den beiden aber DDR-Bürger gesehen und haben sie nach Ungarn abgeschoben. Als die Ungarn sie den DDRBehörden übergeben wollten, hat Zdiarsky die Wahrheit gesagt. Die Ungarn haben Schlopp und Zdiarsky den rumänischen Behörden ausgeliefert. Schlopp wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, Zdiarsky zu einigen Monate weniger. Sie mussten die Strafe in Karansebesch und Gherla absitzen und auf Baustellen arbeiten. Schlopps Strafmaß wurde nach einem Revisionsverfahren reduziert, weil er vor dem Prozess die Anklageschrift nicht einsehen durfte. Am 12. Oktober 1972 wurde Wagner aus der Haft entlassen. Im Oktober 1974 durfte er schließlich legal mit seiner Frau ausreisen. Er hat sich in Augsburg niedergelassen. Seit der Entlassung aus dem Gefängnis quälte Wagner ein Nierenleiden. Kaum in Deutschland angekommen, wurde er Dialysepatient. Trotz einer Nierentransplantation ist er früh am 2. September 2005 gestorben. Zdiarsky ist nach weiteren vergeblichen Versuchen 1978 die Flucht gelungen. Mit einem Freund und dessen Frau haben sie bei Neumoldowa ein Boot zu Wasser gelassen. Dieses Mal hat ein Bekannter sie am serbischen Donauufer mit dem Auto abgeholt und nach Belgrad zur deutschen Botschaft gebracht.
Zdiarsky hat sich in Deutschland als Elektroingenieur selbstständig gemacht. Seit Herbst 2007 ist er Rentner. In Temeswar hat er in der Firma Eletrotimiş gearbeitet. Reinhold Mager hat in Deutschland den Beruf gewechselt: Er ist bei einer Firma als Programmierer eingestiegen und hat seinen Weg als Computerspezialist gemacht. Heute lebt er als Rentner in Köln.