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Ohne Visum nach Österreich

Von Alexander Oprendek

Ich lag mit Nierensteinen im Krankenhaus, war seit zwei Wochen von heftigen Schmerzen geplagt. Bei allem Unbill kamen mir in der Klinik immer wieder Gedanken in den Kopf, die ich nicht verdrängen oder verscheuchen konnte. Ich war als junger Ingenieur seit einigen Jahren im Temeswarer Unternehmen „Elba“ tätig. Schnell habe ich mich in eine leitende Stellung in der zweiten Reihe emporgearbeitet, aber nach und nach stagnierte alles. Ich war Deutscher, stammte aus einer Beamtenfamilie und war kein Parteimitglied. Unter diesen Bedingungen war es aussichtslos, weiter Karriere zu machen. Außerdem war ich noch Junggeselle und wohnte nicht standesgemäß. Ich hatte lediglich ein Zimmer mit abgeschalteter Zentralheizung. Küche und Bad fehlten. Wasserzapfstelle und Toilette waren auf dem Flur, ein Stockwerk tiefer. Mein Arbeitgeber, der für die Wohnungsvergabe an seine Mitarbeiter zuständig war, hatte eine lange Warteliste, auf der ich ganz unten stand. Vor mir waren viele bedürftige Familien mit Kindern an der Reihe. Wäre ich verheiratet, so sagte man mir, hätte ich vielleicht eine kleine Chance auf eine Wohnung. Ohne Wohnung konnte ich andererseits nicht heiraten. Es war ein Teufelskreis. Genau so sah die Lage aus, als ich mich bemühte, eine Gasflasche für den Sparherd - in Rumänien stets Mangelware - zu kaufen. Ich sah keine Zukunft für mich und beschloss, Rumänien zu verlassen. Ein einziger Gedanke beherrschte mich: weg aus Rumänien, legal oder illegal, aber umsichtig und überlegt. Ich wollte vermeiden, dass an der Grenze auf mich geschossen wird, dass ich gefangen, verurteilt oder zum ewigen Staatsfeind gestempelt werde. Wieder in Arbeit nach meiner Genesung, galt all mein Trachten und Handeln nur diesem Ziel. Erstmals versuchte ich, eine Reise in die DDR zu buchen. Die Fahrt wurde ohne Begründung abgelehnt. Es war naiv, an eine Genehmigung zu glauben, solange man ungehindert in Berlin durchs Brandenburger Tor in den Westen gelangen konnte. Ein Jahr verging. Nun zeichnete sich eine weitere Möglichkeit ab. Unser Unternehmen war dabei, in der Schweiz eine moderne Elektroerosions-Maschine zur Stahlbearbeitung zu kaufen. Ich drängte mich in den Vordergrund, erledigte und übersetzte die Korrespondenz, dolmetschte, führte Telefongespräche, kurzum, ich organisierte alles, um im Zentrum des Geschehens zu sein. Alles klappte, eine Maschine wurde gekauft und installiert. Nun kam der von mir erwartete Moment. Mitarbeiter sollten beim Hersteller in der Schweiz die Arbeitstechnik der Maschine kennen lernen. Ich meldete mich, weil mich der Lieferant dazu eingela-

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den hatte. Die Antwort meiner Firma lautete: „Sie können doch nicht allen Ernstes erwarten, dass wir Sie in die Schweiz schicken.“ Der Plan Nummer zwei war somit auch gescheitert. Die Idee, aus Rumänien zu entkommen, ließ mich nicht mehr los. Zwischendurch quälten mich aber immer wieder auch Zweifel. Unsere Vorfahren haben vor mehreren hundert Jahren das Banat besiedelt und urbar gemacht. Hatte ich das Recht, von hier wegzulaufen? Ein Ast des Stammbaumes meiner Familie würde ausscheren und in eine andere Richtung zeigen. Unser Stammbaum beginnt damit, dass unser Urahn Liborius Oprendek um 1795 aus Böhmen als Glasermeister ins Banat zugewandert ist, und zwar nach Neupetsch. Was würde aus meinem Bruder und meiner Mutter, wenn ich die Familie verlasse. Mein Bruder war ein geschätzter Professor am Polytechnikum in Temeswar. Wird er womöglich wegen meiner Flucht in Schwierigkeiten geraten? Wer wird für meine Mutter sorgen, die seit 1953 Witwe war? Nun, dies waren keine unrealistischen Gedanken, denn wie sich später herausstellte, bekamen alle tatsächlich große Probleme, die erst mit deren Übersiedlung nach Deutschland gelöst wurden. Doch trotz aller Bedenken: Ich blieb bei meinem Entschluss, zu fliehen. Wie sich später herausstellte, war es die richtige Entscheidung. Da ich weiter eine Gelegenheit abwarten musste, habe ich auch Nutzloses zu tun begonnen, nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich erstellte detaillierte Tabellen von Gegenständen, die ich im Falle einer Flucht oder Ausreise mitnehmen wollte, studierte die Landkarten von Österreich, Deutschland und Berlin und prägte mir die Grenzübergänge ein. Ständig wurde ich bedrängt, in die kommunistische Partei einzutreten, was mir keinesfalls behagte und für mich nicht in Frage kam. Dann zeichnete sich unerwartet eine neue Möglichkeit ab. Ich hatte mittlerweile geheiratet. Ingrid Mann, ein deutsches Mädchen aus Hatzfeld, das einen Onkel in Magdeburg hatte. Da müsste doch eine Hochzeitsreise dorthin möglich sein, so schätzte ich. Die Chancen, eine Reisegenehmigung in die DDR zu erhalten, waren jetzt besser, denn inzwischen bestanden neue Bedingungen. Die politische Lage war gespannt, und das Land wurde abgeriegelt: Es gab keinen freien Verkehr mehr zwischen den beiden deutschen Staaten, die früheren Fluchtwege wurden verschlossen. Diese Lage müsste doch eine Erleichterung für die Reisegenehmigung in die DDR bewirken. In meiner Vorstellung würde sich auf dem Weg von Rumänien in die DDR eine Möglichkeit ergeben, ein besseres Reiseziel anzupeilen. Mein Antrag wurde wiederum abgelehnt, aber jetzt legte ich Einspruch ein und begründete meinen Reisewunsch mit einer ausführlichen und langatmigen Denkschrift. Diesmal klappte es, und wir, meine Frau und ich, erhielten die ersehnten Reisepässe. Begünstigend war, dass zu dieser Zeit zwischen Rumänien und Österreich die

Visumpflicht abgeschafft worden war. Jetzt änderte ich meinen Reiseplan: Statt mit der Eisenbahn wollte ich die Reise mit dem Auto antreten. Ich verkaufte mein Motorrad, verwertete weiteres Hab und Gut, erwarb ein Auto und bereitete die Reise vor. Allen blieb das Vorhaben verborgen, nur meine Mutter war eingeweiht. Wenn sie aus dem Ausland eine Grußkarte mit Kirche von Tante Eulalia erhalten sollte, so ist unser Plan aufgegangen und wir sind in Sicherheit, haben wir vereinbart. Jetzt ging alles schnell. Im September 1969 reisten wir ab. Am ersten Tag kamen wir bis Budapest. Ich beschloss, nicht über die Tschechoslowakei in die DDR zu fahren, sondern bei Straßsommerrain und Nickelsdorf nach Österreich. Nach der Abschaffung der Visumspflicht musste dies doch möglich sein. So geschah es auch. Der ungarische Grenzschutz in Straßsommerrain inspizierte uns noch recht minutiös - zuerst unsere Reisepässe, dann uns, und schließlich sah ein Mitarbeiter mit einem Spiegel unter unser Auto. Es wurde uns klar, hier ging es nicht so sehr um uns, sondern womöglich um zu verhindern, dass Personen aus dem Land geschleust werden. In Nickelsdorf war dann die dumpfe, argwöhnische und misstrauische Atmosphäre aus Ungarn wie weggeblasen; der österreichische Grenzbeamte blätterte nur kurz in unseren Reisepässen und winkte uns durch. Wir konnten es nicht fassen: Wir waren ohne Mühe und ohne uns in Gefahr zu begeben, plötzlich in Österreich, im ersehnten Westen. Ich war jetzt stolz auf meine so ausgeklügelten Pläne. Hätte uns jemand - damals fühlte man immer die Securitate, den rumänischen Geheimdienst, im Nacken - gesagt, dass wir von unserem Weg in die DDR abgekommen seien, so hätten wir mit Fug und Recht sagen können, dass der kürzere und bessere Weg in die DDR über Österreich geführt habe. Kein Mensch verlangte von uns übrigens eine Erklärung. Verwandte Ingrids waren nicht wenig erstaunt, als wir bei ihnen in der Nähe von Kufstein erschienen. Keine Frage, wir wurden herzlich willkommen geheißen, blieben einige Tage dort, besorgten die Einreisepapiere für Deutschland. Über München ging es nach Nürnberg. Um nicht untätig zu sein, rief ich meine noch aus Rumänien bekannten Maschinenlieferanten in der Schweiz an und teilte den Partnern mit, dass ich die ehemalige Einladung zu einem Besuch annehme. Wir erlebten in Zürich, in Locarno und Lugano am Lago Maggiore einige herrliche Spätsommertage. Ich bekam noch einige Informationen, aktuelle Unterlagen und Sonderwerkzeuge für die gelieferte Maschine. Dann machte ich ein Päckchen und schickte alles per Eilpost an den Betrieb in Temeswar, mit besten Grüßen eines engagierten, ehemaligen Mitarbeiters. So hatte ich noch die Genugtuung, eine Arbeit zum Vorteil aller Beteiligten abschließen zu können.

Alexander Oprendek wurde am 30. November 1931 in der Banater Gemeinde Tschakowa geboren. Er lebt heute als Rentner in München.

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