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Durch Reisfelder in die Freiheit

Herbert Hammes:

Es war eine mit Geduld vorbereitete Flucht, die Herbert Hammes aus Temeswar und Hans Altmann aus Detta am 27. Juli 1970 gewagt haben. Drei Wochen lang sind der am 29. April 1940 in Temeswar geborene Hammes und der damals erst 18 Jahre alte Altmann von Detta an das Flüsschen Partosch in der Nähe des gleichnamigen Ortes geradelt, um beim Angeln die Grenze und die Bewegungen der Grenzer zu beobachten. Für das Unternehmen besorgen sich die beiden Angelscheine und opfern ihren Urlaub. Sie sind täglich in der Nähe des auf der rumänischen Seite liegenden Dorfes Kleingaj. Über die nach Serbien fließende Partosch führen zwei Brücken, stellen Hammes und Altmann fest. Für die Flucht eignet sich jedoch lediglich die große Brücke, sie ist erst ab 19 Uhr bewacht. Die kleine Brücke dient nur als Zugang zu den an der Grenze angelegten Reisfeldern; Soldaten bewachen sie Tag und Nacht. Hammes und Altmann suchen den Kontakt zu den Grenzsoldaten. Als sie auch auf die sich häufenden Fluchten zu sprechen kommen, äußern die Soldaten, durch die Reisfelder sei eine Flucht kaum möglich. Die beiden Angler suchen sich aber eben diese Reisfelder für ihr Vorhaben aus. Am 27. Juli 1970 ist es soweit. Am Tag schleichen sie sich über die große Brücke und verstecken sich im Gebüsch. Mit Einbruch der Dunkelheit wagen sie sich in die Reisfelder. Wo die Felder im Gebüsch enden, halten sie sich wieder versteckt. Grenzsoldaten müssen verdächtige Geräusche wahrgenommen haben, denn sie suchen hin und her. Die beiden Flüchtenden haben wahrscheinlich auf den Stegen in den Reisfeldern, von denen sie auch abgerutscht sind, Geräusche verursacht. Der Weg durch die Reisfelder ist etwa ein Kilometer lang, schätzt Hammes. Nach etwa einer halben Stunde Suchens feuern die Grenzsoldaten eine rote Rakete ab und entfernen sich von der Stelle, wo sich die beiden versteckt halten. Was Hammes damals noch nicht weiß: Die rote Rakete bedeutet, alles ist in Ordnung; eine grüne Rakete hätte Alarm bedeutet, bei dem sich alle Grenzer des Abschnitts an der ausgemachten Stelle versammelt hätten. Der roten oder grünen Rakete ist stets eine rosa Rakete vorausgegangen. Das erfährt Hammes Jahre später, und zwar von einem Bekannten, der bei den Grenztruppen Dienst leisten musste. Sobald die Grenzsoldaten weg sind, setzen Hammes und Altmann die Flucht fort. Sie kommen über den eingeebneten Grenzstreifen und stehen vor dem letzten, unerwarteten Hindernis: einem sehr breiten, mit Wasser gefüllten Graben. Sie durchwaten ihn, steigen hinauf ans Ufer und sind in Serbien. Am Ufer des Grabens verliert Hammes seine Weste. Sie und die beiden zurückgelassenen

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Fahrräder sind Beweisstücke der Flucht. Was Hammes und Altmann stets von der rumänischen Seite aus gesehen haben, ist plötzlich nicht mehr vorhanden: der Kirchturm von Großgaj. Um nicht umherzuirren verstecken sich die beiden erneut und warten bis zum Morgengrauen. Dann ist der Kirchturm auszumachen. Sie orientieren sich und erreichen das erste Dorf mit Bahnstation. Weil der Frühzug schon abgefahren ist, nehmen sie einen Bus in Richtung Belgrad. In der jugoslawischen Hauptstadt angekommen, ruft Hammes seine Verwandten an, die von seinen Fluchtplänen wissen. Bei ihnen werden sie fünf Tage verbringen. Ihr Ziel ist Triest. Doch sie wissen nicht, wie sie die lange Reise bis zur italienischen Grenze schaffen sollen, ohne verraten zu werden. Schließlich kommt Hammes' Cousin mit der Nachricht, die deutsche Gesandtschaft könne ihnen helfen. Sie suchen die Botschaft auf, bekommen Ersatzpässe und fahren mit dem Zug in die Freiheit. Am 4. August sind sie in Nürnberg. Hammes, der in Temeswar im Betrieb „Electrobanat“ als Werkzeugmacher tätig war, zieht nach Bietigheim und arbeitet schon am 13. August 1970. Arbeitskräfte sind in jenen Tagen in Deutschland noch sehr gefragt. Nach einer Umschulung arbeitet er anschließend 25 Jahre lang in der technischen Planung bei Standard Electric Lorenz, anfangs in Stuttgart, danach in der Zweigstelle Pforzheim des Konzerns. Hans Altmann zieht es zu Verwandten nach Hamburg. Er heuert auf einem amerikanischen Frachter an. Seither hat Hammes nichts mehr von ihm gehört. Der Geheimdienst Securitate wird Hammes' Bruder in Temeswar mehrmals belästigen. Er will herausfinden, ob der Bruder etwas von der Flucht gewusst hat und nervt ihn so lange, bis er sagt, wenn er gewusst hätte, dass sein Bruder durchbrennt, wäre er mitgegangen. Dann geben sie endlich Ruhe. Den Fluchweg über die grüne Grenze hat Hammes gewählt, weil er und seine Familie auf den 1960 gestellten Ausreiseantrag nie eine Antwort erhalten haben.

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