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Der Wolf im Schafpelz
Susanne Lehne-Gärtner:
Meine Mutter ist heute noch auf der Flucht, sagt Natalie Lehne. Die junge Frau muss es wissen. Nicht einmal hat sie die Geschichte gehört, wie ihr Vater ihre Mutter vor 36 Jahren aus dem kommunistischen Rumänien über drei Grenzen nach Köln geholt hat. Es ist eine Geschichte, die wahrscheinlich nur einem Mann einfallen kann, der bei einem Automobilhersteller beschäftigt ist. Hartmut Lehne (1943-1996) war im Personalbüro der Ford-Werke in Köln beschäftigt, hat aber auch gerne an Autos geschraubt. Im April 1971 lernt er Susanne Gärtner kennen, die am 7. Dezember 1948 in Blumenthal als Tochter von Banater Schwaben geboren wurde. Die Bekanntschaft kommt zustande über Christl, eine ehemalige Schulfreundin Susannes. Sie ist verlobt mit einem Kollegen Hartmuts. Hartmut Lehne und Susanne Gärtner Susanne Lehne-Gärtner mit dem Fluchtauto mögen sich. Sie verloben sich und wollen heiraten. Doch wer im kommunistischen Rumänien eingesperrt ist, muss eine Erlaubnis beantragen, will sie oder er einen Ausländer heiraten. Hartmut und Susanne werden einen solchen Antrag nie stellen. Susanne beendet im Juni 1971 ihr Germanistik- und Rumänistikstudium an der Universität in Temeswar, der Hauptstadt des seit Ende des Ersten Weltkriegs dreigeteilten Banats. Hartmut wird sie von April bis August 1971 siebenmal besuchen und sein Erspartes dafür opfern. Ein achtes Mal wird er erst 1977 nach Rumänien reisen. Denn am 22. August 1971, einen Tag vor dem rumänischen Nationalfeiertag, fährt Hartmut mit Susanne in die Freiheit. Hartmut hat vorgesorgt. Mit Hilfe von Kollegen baut er in den Ford-Werken eine Attrappe für seinen gelben Ford Capri 2000. Die Attrappe sieht genau so aus wie der Tank dieses Autotyps. Er schneidet hinter den Rücksitzen die Karosserie auf, so dass der Tank durchpasst. Hartmut muss ein gutes Augenmaß besessen haben. Bevor er zum siebten Mal nach Rumänien einreist, hält er kurz vor der serbisch-rumänischen Grenze in einem Maisfeld an, versteckt dort einen
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Reservetank und reist am Grenzübergang Stamora-Morawitz ein. Hinter der Grenze scheinen sich Hindernisse aufzutürmen. Auf dem Weg nach Blumenthal muss Hartmut einem unbeleuchteten Trecker ausweichen und fährt frontal in eine Bahnschranke. Die Windschutzscheibe des Capri ist zerborsten. Die Polizei droht ihm mit drei Monaten Gefängnis, falls er den Schaden von 300 Mark nicht begleicht. Um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, willigt er ein und bezahlt die geforderte Summe. Weil in Rumänien kein Ersatzteil für einen Ford zu haben ist, fährt Hartmut mit einem Taxi nach Belgrad; doch auch dort ist keine Windschutzscheibe vorrätig. Er bestellt eine. Hartmut wird sie auf dem Heimweg in Belgrad einbauen lassen. Doch zurück nach Blumenthal in Südwestrumänien. Auf dem Hof der Familie Gärtner in Blumenthal trifft Hartmut die Vorbereitungen für die Flucht. Er verlegt die Leitung für die Benzinzufuhr aus dem Kanister, den er zusammen mit Susanne in der Mulde platziert, aus der er den Tank ausgebaut hat. Was er vollbracht hat, ist reines Augenmaß. Susanne trägt einen Pullover, der genau so gelb ist wie der Ford Capri, und eine kurze Hose. Die Schuhe muss sie ausziehen, die passen nicht mehr in die Mulde. Einen einzigen gefährlichen Punkt hat die ganze Geschichte. Susanne kann das linke Knie nicht einziehen, es drückt gegen die Lehne des Rücksitzes. Wenn ein Zollbeamter die Stelle berühren sollte, fliegt die ganze Geschichte auf. Das wissen die beiden vor dem Start. Doch sie riskieren alles. An der Grenze begrüßen die Zöllner und Grenzschützer Hartmut freundlich. Er ist nach so vielen Fahrten mit seinen Geschenken schon ein Bekannter an dem Grenzpunkt. Er steigt aus dem Auto, schließt die Fahrertür ab, lässt aber die Beifahrertür offen und entfernt sich vom Wagen. In seiner Abwesenheit tastet ein Zöllner die Rückenlehne auf der Beifahrerseite tatsächlich ab. Susanne spürt es. Doch damit gibt er sich zufrieden. Als Hartmut zum Wagen zurückkehrt, öffnet sich der Schlagbaum. Er fährt über die Grenze, und kurz dahinter schreien die beiden aus Leibeskräften: „Wir haben es geschafft.“ Im Maisfeld setzt Hartmut den zurückgelassenen Tank ein, und ab geht es nach Belgrad. Während das Auto wegen der fehlenden Windschutzscheibe in der Werkstatt ist, kaufen Hartmut und Susanne Sandalen ein. Ihre Füße sind schmutzig, doch die Schuhverkäuferin nimmt es gelassen. Die beiden müssen sich gedulden, denn der Windschutzscheiben-Einbau verzögert sich, weil jeder Mitarbeiter der Werkstatt wenigstens eine Runde auf dem Hof in diesem neuen Ford drehen will. Erst am späten Nachmittag geht es weiter. Zweimal werden Susanne und Hartmut das Versteckspiel noch üben: kurz vor dem Loibl-Paß an der österreichischen und dann vor der deutschen Grenze verschwindet Susanne im Versteck. Den Tank lassen sie in Slowenien liegen. Kurz hinter der jugoslawisch-österreichischen Grenze geraten sie in ein schlimmes
Gewitter. Beide sind erschöpft, unterbrechen die Fahrt und schlafen bis zum Morgen. Aus Klagenfurt verständigen sie Susannes Familie mit einem Telegramm über die gelungene Flucht. Jetzt weiß nicht nur die Mutter davon, sondern auch Oma und Vater. Mutter und Vater müssen zu einigen Verhören zur Polizei und zum Geheimdienst. Doch auch das geht vorbei. Als Susanne und Hartmut in Deutschland ankommen, haben sie kein Geld mehr. Die zertrümmerte Schranke und die zerborstene Windschutzscheibe haben Hartmuts Reserven aufgebraucht. Sie übernachten in einer Pension in München und warten, bis das von Hartmuts Eltern angewiesene Geld eintrifft. Eine Nacht später treffen sie in Köln ein. Weil Hartmut schon viel Urlaub in jenem Jahr genommen hat, muss er zur Arbeit. Die zukünftigen Schwiegereltern fahren mit Susanne nach Nürnberg, wo sie sich im Durchgangslager anmelden muss. Weil die Schwiegereltern Angst haben, auf ihren Sohn könne ein schlechtes Licht fallen, wenn bekannt werde, dass er als Fluchthelfer aufgetreten ist, erzählt Susanne dem Bundesnachrichtendienst ein Märchen: Ein junges Pärchen habe sie mitgebracht. Der BND-Mann sagt ihr zwar, er glaube ihr kein Wort, doch sie bleibt bei der erzählten Geschichte. Ein Gericht in Rumänien verurteilt Susanne wegen Flucht zu zweieinhalb Jahren Gefängnis. Sie muss in der rumänischen Botschaft in Köln 600 Mark Bearbeitungsgebühr bezahlen, um aus der rumänischen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Sie traut sich jedoch nur in Hartmuts Begleitung in die Botschaft, obwohl ein Mitarbeiter namens Jirjea ihr versichert, dass ihr nichts geschehen werde. Dieser Herr lädt Susanne eines Tages telefonisch zum Essen ein. Weil sie die Einladung nicht annimmt, erfährt sie erst später, dass Jirjea Geld für Ausreisen kassiert hat - angeblich auf eigene Faust; vermutlich ist er deswegen zurück nach Rumänien beordert worden. Susannes Familie kommt in Raten nach Köln: die Oma 1974, die Eltern 1977. Vor der Ausreise der Eltern besuchen Susanne - sie ist inzwischen begnadigt - und Hartmut noch einmal Rumänien und stellen fest: Die von Hartmut zertrümmerte Schranke ist noch immer notdürftig mit Draht repariert. Susannes Flucht ist eigentlich eine Lappalie. Nervenaufreibender und ziemlich dubios sind eigentlich Geschehnisse in den Monaten davor. Im November 1970 lädt Susannes Vater ein paar deutsche Monteure nach Blumenthal zum Kirchweihfest ein. Sie bleiben bis Januar 1971 in Temeswar und laden Susanne im Gegenzug einige Male zum Essen ein. Sie besuchen in Temeswar oft das Restaurant Lloyd. Was Susanne nicht auffällt, merken zwei ihrer Kommilitonen: Edi und Nandi machen sie darauf aufmerksam, dass ein als Schafhirt getarnter Mann ihr auf Schritt und Tritt folgt. Erst jetzt bemerkt sie den Mann vom rumänischen Geheimdienst Securitate. An einem Junimorgen, unmittelbar nachdem sie ihre Diplomarbeit an der Universität erfolgreich verteidigt hat, feiert Susanne mit einer Kommilitonin, deren Freund und einem Kollegen in
Temeswar den erfolgreichen Studienabschluss, und zwar in der Gaststätte „Groapa“ (deutsch das Loch) an der Bega. Am Nebentisch bemerkt sie erneut den Mann in der rumänischen Hirtentracht und macht die Freunde an ihrem Tisch auf den Wolf im Schafpelz aufmerksam. Der Freund ihrer Studienkollegin dreht sich um, mustert den Mann und meint: „Wenn ich gewusst hätte, dass ein Schafhirte solch saubere Fingernägel hat, ich hätte aufs Studium verzichtet.“ An diesem Tag ist die Observierung beendet. Doch endgültig los ist Susanne den Mann noch immer nicht. Er taucht eines Tages wieder in der Hauptpost auf und fragt, mit wem sie denn telefoniert habe. Auf Susannes Antwort, sie habe ihren Freund gesprochen, macht der angebliche Hirte anzügliche Bemerkungen. Als Susanne ihm sagt, sie rufe gleich die Polizei, verschwindet er aber sofort. Weiteren Schikanen dieses Mannes entzieht sich Susanne schließlich durch die Flucht. Eines ist ihr aber aufgefallen: Wenn Hartmut zu Besuch war, ist der Mann vom Geheimdienst nie aufgetaucht. Aber das könnte auch daran liegen, dass sie meist in ihrem Heimatort Blumenthal waren. In Köln findet Susanne bei einer Versicherung Arbeit. Nach einem DeutschTest ist ihr zukünftiger Chef so begeistert, dass er sie sofort einstellt. Sie muss ab sofort die aus dem Haus gehende Post auf Fehler prüfen. Damit schafft sie sich gleich einen Feind in der Person ihres Abteilungsleiters, der sie über Kollegen wissen lässt, sie solle sich mehr um den Inhalt kümmern als um die Orthographie. Als ihr alter Chef aufhört, soll Susanne zusätzlich die Stelle einer Sekretärin ausfüllen. Aus diesem Grund wechselt sie zu einer Kölner Versicherung, bei der sie noch heute arbeitet. Susanne und Hartmut werden nie Details ihrer gelungenen Flucht preisgeben, weil sie anderen, die eventuell dieselbe Idee haben, nicht den Weg verbauen wollen. Eine Ausnahme macht Hartmut bei einem Besuch von Verwandten. Dabei ist auch der 16 Jahre alte Sohn der Familie. Er spitzt die Ohren, sagt aber nichts. Zwei Jahre später, er hat kaum die Fahrerlaubnis in der Tasche, holt er mit Hartmuts Trick ein Mädchen aus dem Banater Dorf Jahrmarkt nach Deutschland.