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Im Stich gelassen
Erich Fett:
Mit demselben Fischer wie die Franks machen sich am 12. November 1976 die Brüder Erich (geboren am 21. April 1949) und Dr. Reinhold Fett (6. Februar 1943 - 29. Mai 2005) zusammen mit ihrer Mutter Anna (30. Januar 1915 - 20. August 1977) auf den Weg in die Freiheit. Sie erreichen das serbische Ufer, doch der ser-
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Dr. Reinhold und Erich Fett mit Mutter Anna bische Fluchthelfer ist nicht da. Er lässt die drei einfach im Stich, trotz der 3000 Mark, die er im voraus kassiert hat. Die beiden Brüder lassen ihre Mutter im Maisfeld stehen und machen sich auf den Weg ins Dorf. Um 2 Uhr entdecken sie vor einem Haus zwei Autos mit deutschen Kennzeichen. Sie klopfen ans Fenster, es wird geöffnet. Die beiden Flüchtlinge geben sich als Bundesbürger aus, sie geben vor, ihr Wagen sei liegengeblieben. Dr. Reinhold Fett erinnert sich, dass er vor kurzem eine Frau aus dem Dorf behandelt hat, die zu Besuch in Rumänien war. Er bittet den Mann, der ihnen geöffnet und in deutscher Kriegsgefangenschaft etwas Deutsch gelernt hat, sie zu dieser Frau zu fahren. Der Frau schenken die beiden reinen Wein ein. Sie ist bereit, ihnen weiterzuhelfen. Sie holen die Mutter aus dem Maisfeld, fahren zu dem Fluchthelfer nach Werschetz. Der droht ihnen mit der Polizei. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Hilfe der Frau weiter in Anspruch zu nehmen. Sie fährt die drei Flüchtlinge nach Belgrad zur Botschaft. Die Reise von Belgrad nach Nürnberg verläuft ähnlich wie Tausende andere. Diese gelungene Flucht ist nicht der erste Versuch der beiden Brüder, in die Freiheit zu gelangen. Erich hat zwei misslungene Versuche und sein Bruder einen hinter sich. Den ersten wagen die beiden im April 1969 gemeinsam mit einem Ehepaar aus ihrer Heimatgemeinde Sackelhausen in der Banater Heide. Der Schlepper verrät sie. Die Flucht soll auf dem Donaunebenfluss Nera mit Schlauchbooten beginnen. Grenzer stellen die vier schon in der Nähe des Städtchens Orawitz. Die Grenzer verprügeln sie. Im Arrest im Grenzerstützpunkt von Orawitz können sie nächtelang nicht schlafen. Sie sind in Einzelzellen im Keller eingesperrt, in die kaum ein Bett hineinpasst. Zur Toilette dürfen sie nicht, wenn sie müssen, sondern wenn es die Wachhabenden sagen. Zu essen gibt es
täglich ein Stückchen Brot, das sich jeder einteilen oder auf einmal essen kann. Nach zwei Wochen sind sie in Reschitz in Untersuchungshaft beim Geheimdienst Securitate. Dort werden sie erneut verprügelt, aber auch all die anderen Foltermethoden müssen sie über sich ergehen lassen. Sie müssen nachts die Zimmer wechseln, die Geheimdienstler sperren Mörder zu ihnen in die Zellen. Die ganze Einschüchterung dauert fünf Tage, dann geht es zurück nach Orawitz, wo das Gericht sie zu je 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Ihr Verteidiger ist der aus DeutschSankt-Michael im Banat stammende Anwalt Martin Mühlroth, der später selbst über die Donau flüchten wird. Nach ein paar Monaten in Orawitz werden Die Fett-Brüder in das Bukarester VăcăreştiGefängnis verlegt. Die etwa 500 Kilometer lange Reise dauert eine Woche lang. In dem Eisenbahnwaggon sind 70 Mann eingepfercht. Als Toilette dient ein Loch im Fußboden.
Abgemagert nach der Entlassung aus der Haft: Dr. Reinhold Fett und sein Bruder Erich Vor der Flucht hat Reinhold Fett 97 Kilogramm gewogen, nach der Entlassung nur noch 63. Im Gefängnis erkrankt er an Diabetes. Erich Fett magert von 75 auf 62 Kilogramm ab. Kaum sind die beiden aus dem Gefängnis, wagt Erich Fett im Juli 1970 einen zweiten Fluchtversuch. Er will von Orawitz aus die Donau zu Fuß erreichen. Doch etwa fünf Kilometer vor dem Ziel entdecken Unbekannte ihn und rufen die Grenzer. Dieses Mal verprügeln ihn die Soldaten noch fürchterlicher als beim ersten Mal. Dasselbe Gericht verurteilt ihn zu zehn Monaten Gefängnis. Auf seiner „Reise“ durch die Gefängnisse trifft Erich Fett auch seinen Vetter Johann „Schlopp“ Wagner, der ebenfalls schon zum zweiten Mal wegen eines Fluchtversuchs verurteilt ist. Nach gelungener Flucht lässt sich Erich Fett in Trier zum Physiotherapeuten ausbilden. Seit 24 Jahren hat er seine eigene Praxis in Limburg an der Lahn. Dr. Reinhold Fett findet nach der Flucht 1976 eine erste Stelle in einer Kinderarztpraxis in Limburg. Nach erfolgter Anerkennung als Kinderfacharzt übernimmt er diese Praxis und die Kinderbelegabteilung am Sankt-Vincenz-Krankenhaus
in Limburg. Ihm obliegt auch die Untersuchung der Neugeborenen in den drei Krankenhäusern in Limburg, Diez und Hadamar. Als Mitvorsitzender und späterer Obmann der Semmelweis-Vereinigung Banater Heilberufler erwirbt er sich bleibende Verdienste. Eng verknüpft mit der beruflichen ist die wissenschaftliche Tätigkeit von Dr. Fett, die ihm schon als Schüler und Student in Temeswar Verdienstdiplome einbringt. Als Arzt verfolgt er aufmerksam den wissenschaftlichen Fortschritt, sammelt umfangreiches statistisches Material und stellt eigene Untersuchungen an. Die Resultate veröffentlicht er in einschlägigen Fachzeitschriften in Rumänien und Deutschland. Aus Dr. Fetts reger publizistischer Tätigkeit zeugen vor allem drei von seiner Heimatverbundenheit. Es sind dies das „Heimatbuch Sackelhausen“, „Dr. med. Hans Röhrich. Biografie eines Chirurgen“ und seine Beiträge zum ersten Band der Geschichte des Heilwesens im Banat. Den schon weitgediehenen zweiten Band kann er nicht mehr abließen. „Dr. Fett war Kinderarzt mit Leib und Seele; er war es nicht nur von Beruf, sondern auch aus Berufung. Das Wohl seiner zahlreichen und zufriedenen Patienten ging ihm über alles, auch über sein eigenes Wohl - wie man nachträglich wohl feststellen kann. Aus gesundheitlichen Gründen musste Dr. Fett erst die Kinderabteilung des Sankt-Vincenz-Krankenhauses und dann auch seine Praxis aufgeben. Die rapide einsetzende Verschlechterung seines Zustandes band ihn in den letzten vier Jahren ans Krankenbett“, schreibt Professor Dr. Diethard Schiller in einem Nachruf.