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Mit dem Pfarrer vom Kirchweihball über die Grenze

Dominik Kerbel:

Diese Flucht hat in der kommunistisch kontrollierten Presse keine Schlagzeile bekommen. Doch die Nachricht war im Südwesten Rumäniens in aller Munde: Der Dolatzer Pfarrer samt Kirchweihjugend ist durchgebrannt. Die Flucht nach Jugoslawien ist geglückt. Auch in der Redaktion der deutschen Tageszeitung „Neuer Weg“ im entfernten Bukarest erzählen sich die Redakteure lachend die Neuigkeit, manch einer klopft sich sogar heimlich auf die Schenkel. 21 Personen, davon zehn Frauen, haben den Grenzern ein Schnippchen geschlagen: Pfarrer Wenzel Demel (1921-1999) mit seiner Köchin, deren Kindern, zwei Töchter und der neunjährige Sohn, mit einem Bienenzüchter und 15 weiteren Jugendlichen. Doch die 21 werden noch staunen: Das Tüpfelchen aufs i setzen sieben weitere Dolatzer, die ihnen zwei Tage später folgen und die schon in Serbien Inhaftierten im Gefängnis überraschen. Über die Flucht aus dem nahe der serbischen Grenze gelegenen Dorf Dolatz berichtet Dominik Kerbel, der am 28. August 1979 zusammen mit den 20 Gleichgesinnten die Grenze nach Jugoslawien überschritten hat. Die 28 Mann, die das kleine Dorf Ende August 1979 in zwei Schüben verlassen, gehören zu den 118 Dolatzern, denen die Flucht von 1975 bis zum Sturz Ceauşescus im Dezember 1989 gelungen ist. Zwei Brüdern ist es geglückt, einen Grenzsoldaten zu fesseln und zu fliehen. Zehn Personen wurden auf der Flucht gestellt, vier mit Besucherpässen nach Deutschland gereiste Personen sind nicht mehr nach Dolatz zurückgekehrt. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg waren in Dolatz rund 1300 Deutsche zu Hause. Ferner lebten dort 160 Ungarn und Rumänen. Bis 1950 ist die Zahl der Deutschen auf 780 gesunken. Heute lebt kein Deutscher mehr in dem Dorf. Wer nicht vor dem Fall des Kommunismus flüchten konnte, hat dem Dorf danach den Rücken gekehrt. Den Fluchtzeitpunkt hätten die 21 wohl nicht besser auswählen können: das Ende des Kirchweihfestes, das in den Banater Dörfern ursprünglich am Tag des Schutzpatrons der Kirche abgehalten und später auch als Erntedankfest empfunden wurde. In Dolatz hat es drei Tage lang gedauert. Samstags haben die Kirchweihbuben den Maibaum aufgestellt, am Sonntag ist die Kirchweihjugend - unverheiratete Paare in örtlicher Tracht - mit Musik in die Kirche marschiert, hat nach der Messe die Honoratioren im Dorf eingeladen, um am Nachmittag und Abend zum Tanz einzuladen. Mit einem erneuten Marsch durchs Dorf und einer Tanzunterhaltung ist der dritte Kirchweihtag zu Ende gegangen. So auch am Montag, dem 27. August 1979. Vom Kirchweihball über die Grenze, diese Parole hat Pfarrer Demele der Dorfjugend für jenen späten Abend ausgegeben.

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28. August 1979: Vor der Flucht feiert die Dolatzer Dorfjugend noch Kirchweih. Der Straußversteigerung geht ein Tanz ums Fass voraus

Um 23.30 Uhr bilden sich am Rande von Dolatz kleine Gruppen. Keiner, außer den Drahtziehern, weiß, wer zu welcher Gruppe gehört. Auch die Namen der Teilnehmer in den anderen Gruppen sind unbekannt. Die kleinen Gruppen schließen sich zu zwei voneinander unabhängigen Gruppen zusammen. Die Flucht ist gut vorbereitet. Ein Imker, der seine Bienen an der Grenze weiden lässt, leistet wichtige Vorarbeit. Er markiert den Fluchtweg mit aus Papier gefalteten Pfeilen, die er mit Steinen beschwert. Ihnen werden die Flüchtenden folgen - wie Hänsel und Gretel den Kieselsteinen. Doch noch ist es nicht soweit. Die beiden Gruppen müssen noch durch manches Feld marschieren. Um 5.20 Uhr sind sie an der Grenze. Treffpunkt ist ein mit dem Bienenzüchter vereinbarter Punkt zwischen Gier und Tschawosch. Als die zweite Gruppe eintrifft, ist das Staunen

groß. Denn keiner hat erwartet, dass noch andere Fluchtwillige auftauchen. Doch so einfach, wie sich das anhört, verläuft das Unternehmen nicht. Die Teilnehmer sind ständig auf der Hut. Große Sorgen bereiten ihnen die Schafhirten mit ihren scharfen Hunden. Die Schaftreiber kennen keine Gnade, sie schicken die Hunde los, sie sind Spitzel und kassieren für jeden Erwischten eine Belohnung. Mehrmals müssen sich der Pfarrer und die Dolatzer Kirchweihjugend in dieser Nacht auf den Boden werfen und ruhig verhalten, um nicht von den Hunden aufgespürt zu werden. Auf dem Weg zur Grenze durchwaten die Flüchtenden einige Entwässerungskanäle. Die Strapazen sind groß. Pfarrer Demele ist kurz davor, aufzugeben, weil seine Kräfte schwinden. Er will zurückbleiben und für die anderen beten, dass sie gut in Deutschland ankommen. Doch das lassen die anderen nicht zu. Kerbel und sein Schwager tragen ihn durch den letzten Graben. Auch der Seelsorger schafft es. In Serbien angekommen, marschieren die 21 Frauen und Männer auf dem Deich des Flusses Temesch, der auf rumänischer Seite in Wolfsberg im Banater Bergland entspringt, hinter Tschwaosch Serbien erreicht und in Pantschowa, kurz hinter Belgrad in die Donau mündet. Auf dem anderen Temeschufer taucht ein Mann auf. Und der erkennt an der schmutzigen Kleidung sofort die Flüchtlinge. Kurz darauf nähern sich serbische Polizeiautos. Was dann passiert, ist filmreif, sagt Kerbel. Die Polizisten springen mit Maschinenpistolen im Anschlag aus den Autos und fordern die 21 Dolatzer auf, einzusteigen. Wenn auch der Auftritt der Polizei am Temeschufer dramatisch ausgesehen hat, was danach folgt, ist harmlos. In Konak angekommen, können die Flüchtlinge nur staunen, die Polizei serviert ihnen ein Mal, zu dem auch Melonen und Obst gehören. Ein Richter verurteilt die 21 Banater Schwaben zu je zehn Tagen Haft wegen illegalen Grenzübertritts; Männer, Frauen und die minderjährige Tochter und der neun Jahre alte Sohn der Pfarrersköchin werden im Gefängnis von Großbetschkerek getrennt untergebracht. Und dort erleben sie ein nicht geahntes Wiedersehen mit sieben Landsleuten, die den Wirrwarr nach der Flucht der 21 Mann starken Truppe genutzt haben, um selbst in die Freiheit zu gelangen. Dominik Kerbels Grenzgang 1979 ist nicht sein erster Fluchtversuch. Ein erster ist dem am 24. Oktober 1949 im benachbarten Tschakowa Geborenen am 31. Juli 1969 misslungen. Damals hatte er sich mit einem noch Minderjährigen auf den Weg gemacht durch den Grenzort Stamora-Morawitz. Während Kerbel durch die strenge Kontrolle am Bahnhof kommt, behalten die Grenzer den von ihm getrennt gehenden Fluchtgefährten zum Verhör zurück, und der gibt zu, dass er mit Kerbel flüchten wollte. Die Soldaten stellen Kerbel kurz vor der Grenze. Er hat Glück, die Grenzer verprügeln ihn nicht. Anderen ist es in solch einem Fall ganz übel ergangen. Kerbel berichtet von einem Kollegen aus dem Nachbarort Tolwadin, der mit ihm beim Militär war. Soldaten haben ihn 1972

zwischen Gier und Tschawosch auf der Flucht gestellt und totgeprügelt. Einen weiteren jungen Mann haben sie zum Krüppel geschlagen. Er hat die Freiheit in Nagold erlebt, doch seinen 50. Geburtstag nicht mehr. Nach einem Verhör in dem Städtchen Detta kommt er zu den politisch Inhaftierten in die Untersuchungsabteilung des Gefängnisses in der Banater Hauptstadt Temeswar. Das Gefängnis ist die Katastrophe, sagt Kerbel. 42 Mann teilen sich einen Raum, darunter sind sieben Grenzgänger. Drei Betten türmen sich übereinander. Tagsüber müssen die Häftlinge Weidenruten in einem stinkenden Sud kochen, um sie fürs Korbflechten vorzubereiten. Und wieder hat Kerbel Glück. Sein Prozess ist für den 25. August 1969 anberaumt. Doch am 21. August kommt er frei. Ceauşescu hat eine Amnestie anlässlich des Nationalfeiertags erlassen, der am 23. August gefeiert wird. Es ist der Tag, an dem Rumänien Deutschland 1944 den Krieg erklärt hat, um bis Mai 1945 an der Seite der Sowjetunion gegen den ehemaligen Waffenbruder zu kämpfen. Von den 28 Frauen und Männer, die Ende August 1979 Dolatz den kommunistischen Terror gegen die Freiheit in Deutschland eingetauscht haben, ist keiner auf der Strecke geblieben, sagt Kerbel. Zwei Beispiele: Pfarrer Demel war Seelsorger in zwei Gemeinden in Baden-Württemberg. Kerbel selbst hat es bei Mercedes-Benz in Sindelfingen bis zum Gruppenleiter Verfahren- und Umweltschutz gebracht.

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