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Bei der Einreise verhaftet

Von Andrea Dobré

Mein Vater, Vasile Dobré, war Kommunist. Ein richtiger Kommunist, so ganz nach der Weltanschauung von Marx und Engels. Ihm gefiel die Doktrin der Gleichheit aller. Zu dieser wurde er erzogen. Er war so etwas wie ein Selfmademan. Mit fünf Jahren wurden er und seine Schwester Waisen. Er kam in die Obhut einer Tante aufs Land. Die Tante, eine alleinstehende, arme, einfache und bigotte Frau, die keinen Beruf hatte, ernährte sich von den kümmerlichen Erträgen ihres kleinen Gartens. Das reichte kaum für einen, bestimmt aber nicht für drei. Der Junge musste arbeiten. Es gab keine andere Lösung. Sie nahm den Knaben und sprach in einer nahen Fabrik vor. Minderjährige durften jedoch nicht eingestellt werden. Das wusste auch die Tante; sie überzeugte die Herren in der Personalabteilung mit plausiblen Argumenten: „Wir haben keine andere Wahl. Soll er hier nachts die Fenster einschlagen und einbrechen, soll er ein Dieb oder ein Asozialer werden? Soll er ein Bettler oder ein Vagabund werden, oder soll er verhungern?“ Das beherzte und resolute Auftreten der alten Frau verfehlte die Wirkung nicht. Der Junge war für sein Alter schon gut entwickelt; man beschönigte seine Papiere und stellte ihn ein. Dem Jungen gefiel das gar nicht. Ungelernter Arbeiter wollte er nicht sein, sondern er wollte auf die Schule und einen Beruf lernen. Das trostlose und perspektivelose Leben auf dem Lande in einem rumänischen Weiler ödete ihn an und bot für seine Pläne keine Perspektiven. Kurzerhand ging der aufgeweckte, kluge Junge von zu Hause weg und meldete sich in einer Militärschule. Er nahm nun sein Schicksal und seine weitere Entwicklung selbst in die Hand. Er war begabt und strebsam und mauserte sich nach und nach zum Musterschüler. Sein Eifer hielt an; Fleiß, Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit deuteten schon früh auf eine außerordentliche Laufbahn hin. Er wurde Militärpilot und zuletzt Major der Luftwaffe im Stützpunkt Bukarest, wurde mehrfach ausgezeichnet und kam zu Geld und Ansehen. Der kommunistischen Ideologie war er zugeneigt. Deren praktische Verwirklichung verfolgte er jedoch argwöhnisch. Die Führungsschicht schuf sich selbst das Paradies auf Erden: Sie sicherte sich Macht, Wohlstand, Valutaläden und Auslandsreisen. Sie nannte ihre Politik „Diktatur des Proletariates“; in Wirklichkeit war sie jedoch der „Diktator des Proletariates“. Eine Frage quälte meinen Vater schon seit längerem, nämlich die, die schon Palmiro Togliatti (1893-1964), der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, in seinem politischen Testament seinen Zeitgenossen hinterlassen hat:

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Was ist falsch in unserer Politik und einem politischen System, das erlaubt, dass Leute wie Stalin an die Macht kommen, und ihnen gestattet, ungehindert ihr Unwesen zu treiben? Solche Fragen beschäftigten auch meinen Vater; er suchte darauf Antworten. Meine Mutter war eine Dame der guten Gesellschaft. Sie war eine Nachfahrin einer adeligen, früher einmal reichen deutsch-ungarischen Familie aus Siebenbürgen. Sie besuchte ein Mädchenpensionat, genoss eine erlesene Erziehung und sprach mehrere Sprachen. Sie pflegte die Tradition der vornehmen Bukarester Damen aus guter Familie, die untereinander nur die Sprache der Gebildeten sprachen: Französisch. Sie war stolz auf ihren Mann, hatte er es doch im Leben zu etwas gebracht; er war angesehen, die Familie war intakt, und er brachte reichlich Geld heim. Seine Bezüge waren die eines Ministers, obwohl er weder zur Nomenklatura gehörte, noch sich politisch betätigte. Unserer Familie fehlte es an nichts. So dachten wir. Mutter belehrte uns aber eines Besseren. Ihr kam die Idee, mit mir und meiner Schwester nach Bugarien zu fahren, um am Goldstrand des Schwarzen Meeres einen Badeurlaub zu genießen. Ihr Reiseantrag wurde aber von den Behörden abgelehnt: ohne Begründung. Sie war enttäuscht, fassungslos und fragte sich, wie kann man einer angesehenen, regimetreuen Familie eine Reise verweigern, und das sogar noch ins sozialistische Nachbarland. Vater Vasile nahm es gelassener. Seine tiefe Verachtung galt all den primitiven und gedankenlosen Apparatschiks. Er nannte sie einfach Schurken. Sein Stolz verbat ihm jeden Einspruch. Er sagte nur: „Der Weg zum Kommunismus ist mit Schurken gepflastert.“ In unserer Mutter gärte es seit dieser Reiseverweigerung. Sie fragte sich und ihren Mann, wenn wir nicht einmal nach Bulgarien fahren dürfen, wie können wir dann hoffen, einmal Paris oder Rom zu besuchen? Sind wir denn eingesperrt in unserem Land, und dürfen wir nicht die Welt sehen? Der Hinweis Vaters auf das schwierige Pflaster des Kommunismus genügte ihr nicht, und sie drängte ihn, etwas zu unternehmen, am besten dem sozialistischen Gedankengut abzuschwören und das Land zu verlassen. Vater und manche seiner Kollegen arbeiteten im Urlaub in der Landwirtschaft. Sie flogen Agrarflugzeuge. Dafür hatten sie russische Maschinen des Typs Antonow AN-2 zur Verfügung, die leicht für die jeweiligen Zwecke umgerüstet werden konnten, Flugzeuge mit starkem Motor und sicherem Flugverhalten, das auf kurzen Bahnen landen und starten konnte. Der Gedanke, mit dem Flugzeug zu fliehen, war Vater nicht geheuer; er wäre doch kein Abweichler oder Landesverräter. Die Idee blieb dennoch gegenwärtig, konnte aber mit keinem der Gefährten oder Genossen erörtert werden. Das wäre viel zu gefährlich gewesen, denn der Geheimdienst hatte viele Ohren. So blieb eine mögliche Flucht ein Thema, das Mutter immer wieder vorbrach-

te, aber für Vater zum quälenden, zermürbenden Gedanken wurde. In dieser Zeit der Unentschlossenheit, es war das Jahr 1980, kam Vater eines Tages ganz aufgewühlt nach Hause. Wir sahen sofort, dass etwas Aufregendes geschehen sein muss. Ich wurde hinausgeschickt, was mich veranlasste, an der Tür zu horchen. Aristide Mihalcea, ein Pilot und Kamerad meines Vaters, ist mit dem Flugzeug über die Grenze nach Jugoslawien geflohen. Er hat die Antonow umgerüstet, voll betankt und ist im Morgengrauen unter dem Radar über die Westgrenze geflogen. Große Aufregung beim Geheimdienst; Nachforschungen und Befragungen folgten. Fluchtpläne waren für uns plötzlich wahnwitzig und unmöglich. Alles wurde auf Eis gelegt und vorerst gar nicht mehr darüber gesprochen. Auch Mutter stellte aus Angst ihre Überzeugungsarbeit Vater gegenüber ein. Nach einigen Jahren dann die Überraschung: Mihalcea war auf einmal wieder da. Irgendwann wollen alle Flüchtlinge einmal zu ihren alten Bindungen zurück. Er hatte die rumänische Staatsbürgerschaft abgelegt und war zu Besuch nach Rumänien gekommen. Er war sich sicher, dass ihm nichts geschehen konnte. Doch er irrte. Er wurde bei der Einreise verhaftet und wegen Diebstahls und illegaler Ausfuhr eines Transportmittels aus dem Eigentum des Staates zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Diebstahl eines Flugzeuges kam für meine Familie keinesfalls in Frage. Sie resignierte und verzichtete darauf, das Land zu verlassen. Das war das Ende der Fluchtpläne meiner Eltern.

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