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Soldaten lassen die Hunde los

Von Erika Metzger

Ich war beseelt von dem Gedanken, mir eine neue, bessere Zukunft aufzubauen, in Freiheit - in einem Land wo Ordnung, Disziplin, Ehrlichkeit und Verlas als hohe Werte gelten; ein Land, von dem so viele meiner dort neu beheimateten Landsleute nur Gutes zu berichten wussten. Dort führten Fleiß und Zielstrebigkeit zum Erfolg. Dieses Land, welches ich so idealisierte, war Deutschland. Und dieses Land wollte ich auf alle Fälle erreichen. Es war im Jahr 1981. Zu jener Zeit lebten meine Eltern auf einer Baustelle am Fluss Poneasca bei Bosowitsch, wo ein Wasserkraftwerk gebaut wurde. Nach ersten Erfahrungen als Aushilfserzieherin im Kindergarten der Erika Metzger Hanffabrik in Billed betreute ich auf der Baustelle Poneasca die Kinder der Arbeiter und Angestellten. Mein festes Domizil war nach wie vor Billed; an den Wochenenden fuhr ich nach Hause zu meinen Großeltern. Der Weg führte durchs Grenzgebiet: durch die Orte Orawitz, Großscham, Detta, ganz nah entlang der grünen Grenze zu Jugoslawien. Mein Wunsch, über Jugoslawien nach Deutschland zu flüchten, wurde immer größer. Zwar wusste ich, dass die blaue Grenze, die Donau, nicht weit entfernt war, doch für die Flucht übers Wasser fehlte mir der Mut. In meiner Freizeit konnte ich mit anderen einkaufen fahren, Poneasca war als mein zweiter Wohnsitz im Personalausweis eingetragen. Mein rumänischer Familienname Găina ermöglicht es mir, die Region zu erkunden, ohne aufzufallen. Von meinem geheimen Plan erzählte ich niemandem, nach dem Motto: „Der Zaun hat Augen und die Mauer Ohren „. Lediglich meine Eltern wussten davon. Immer wieder bat ich meinen Vater, sich umzuhören, wer für so ein Vorhaben in Frage komme. Eines Abends erzählte mein Vater, dass es einen gewissen T. gibt, der sich sehr gut in der Grenzregion auskennt. Mit ihm könnte man es wagen, über die Sache zu reden. Es dauerte nicht lange, und ich wurde T. vorgestellt. Dann lernte ich drei Männer aus Mediasch kennen, die auf der Baustelle in Poneasca arbeiteten und das Land auch verlassen wollten. T. sagte, nicht er werde die Gruppe führen, sondern Bekannte, die oftmals durch ein Schlupfloch bis Öster-

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reich ziehen und danach an derselben Stelle wieder ins Land zurückkommen. Jene kennen sich besser aus als er. Der Schlepperlohn kostet 10 000 Lei sofort und nochmals 10 000 nach der Ankunft in Deutschland. Diesen Betrag sollten meine Eltern entrichten nach Erhalt eines Codeworts von mir. Wir warteten ungeduldig auf das Startsignal; manchmal dachte ich, wir seien reingefallen. Doch dann sollte plötzlich alles ganz schnell gehen. Es war der 9. Juni 1981, spät abends ging es los. Mein Vater fuhr uns mit einem geliehenen Wagen nach Orawitz. Vor dem Ort war eine Kontrollstelle der Grenzer - die winkten uns durch. Das hätte eigentlich für uns ein Alarmsignal sein müssen, denn normalerweise wurde jeder kontrolliert. Wir hielten uns geraume Zeit in einem Restaurant auf, nachdem mein Vater sich verabschiedet hatte und auf einem anderen Weg zurückfuhr. Zur vereinbarten Zeit kam der nächste Pkw, am Steuer saß nicht Herr T., sondern Frau T. Sie fuhr uns nach Großscham, wo wir unsere Schleuser trafen, zwei Zigeuner. Constantin, einer aus unserer Gruppe, sagte, er traue dem ganzen nicht, so sei das nicht vereinbart gewesen. Wir anderen jedoch waren nicht umzustimmen. Uns war alles recht, wir waren berauscht von der Vorstellung, in ein paar Stunden in Freiheit zu sein. Wir wollten von den Bedenken Constantins nichts hören. Viel Zeit blieb uns auch nicht. Das Auto war weg, und die Dämmerung brach herein. Viel hatte ich nicht bei mir: Deutsche Mark, Dollar, Dinar, meinen Schmuck, mein Adressbuch, in dem auch die Telefonnummer der deutschen Botschaft in Belgrad stand. Ich trug Jeans, einen dünnen Pullover und einen Anorak mit Kapuze. Wir gingen los: Einer unserer Führer voran, der zweite hinter uns vier Fluchtwilligen. Der Weg führte durch die dunklen Gassen des Ortes, nur ab und an brannte eine Straßenlaterne. Wir verließen Großscham und gingen durch Felder. Geredet haben wir kaum. Die Sinne waren bis zum äußersten angespannt, um Konturen des fremden Umfeldes zu erkennen oder Geräusche wahrzunehmen. Man hörte immer wieder Hundegebell, mal in der Ferne, mal näher, so wie es auf dem Land im Banat damals war. Es war ein unbeschreibliches Gefühl: Ich hatte den Eindruck, die anderen hören mein Herz rasen, meine Atemzüge wären so laut, als würden sie mich verraten, dann war noch die Angst da, es könnte doch etwas schief gehen. Aber der Wunsch, nach Deutschland zu gelangen, die Hoffnung, bald das Tor der Freiheit zu betreten, gab neuen Mut und Antrieb. So wurde der Schritt wieder leichter, schneller, fast trat man dem Vordermann auf die Fersen, aber man sah auch forschend nach hinten, ob alle noch da seien, sah das bleiche Licht der paar Straßenlaternen in die Ferne rücken. Wir wurden sicher geführt. Als ich schon den Eindruck gewonnen hatte, dass die beiden Kenner des Terrains wären, fielen plötzlich aus dem Gebüsch am Wegrand Schüsse. Soldaten schossen abwechselnd in die Luft und in den Bo-

den. Mit den ersten Schüssen setzte lautes Gekläffe ein. Dann brüllten die Soldaten Befehle: „Runter, auf den Boden, Gesicht auf den Boden, Hände seitwärts“. Und immer wieder Schüsse. Diese sollten uns den nötigen Respekt einflößen, aber auch Verstärkung herbeirufen. Ich war erstarrt, ich war in jenem Moment unfähig, das Geschehene zu begreifen. Ich wünschte, die Erde sollte sich auftun und mich verschlingen, um der ganzen Situation zu entkommen. Die Schau schien aber kein Ende nehmen zu wollen. Erdklumpen flogen um uns, ich dachte, die Zeit steht still, aber ich war noch am Leben. Später wurde protokolliert, wie viele Salven die Soldaten abgefeuert hatten. Mein Körper fühlte sich bleischwer an, ich verspürte einen Druck im Kopf, ein Sausen in den Ohren, als ob mir das Trommelfell geplatzt wäre. Dann umzingelten die Soldaten uns, sie verteilten Fußtritte nach Belieben, mancher bekam weniger ab, der andere mehr; anfangs blieb ich noch etwas verschont. Dann haben sie uns befohlen, uns hintereinander aufzustellen. Die Soldaten teilten sich auf, sie gingen vor, seitlich und hinter uns. In diesem Moment warf ich mein Portemonnaie weg. Die Soldaten, die uns seitlich bewachten, führten Hunde an der Leine. Diese schnappten zu, kläfften fortwährend, ich hatte riesige Angst vor den Hunden. Und so kam es, dass die Bestien mich am meisten angriffen. Sie ließen nicht los, quetschten mehr als sie bissen, und die Soldaten schimpften uns Vaterlandsverräter und Deserteure. Dazwischen hagelte es immer wieder Hiebe mit dem Gummiknüppel. Kein Laut kam über meine Lippen, um jene nicht noch mehr zu reizen, aber auch aus Trotz, weil wir ihnen so leicht ins Netz gegangen sind und jetzt zurück ins Elend mussten. Diese Tortur nahm mit der Ankunft auf dem Hof des Grenzerstützpunktes Großscham ein Ende. Im Licht der Hofbeleuchtung merkten sie erst, dass ich als einzige Frau dabei war. Nun wurden wir getrennt, die zwei Roma kamen zusammen zum Verhör in einen Raum, uns vier brachte man in einen Raum mit Tischen und Bänken - es könnte ein Speise- oder Aufenthaltsraum gewesen sein. Soldaten bewachten uns, machten sich lustig über uns und freuten sich über fünf Tage Sonderurlaub, weil sie uns erwischt hatten. Papiere und alles andere, was wir bei uns hatten, mussten wir vor uns auf den Tisch legen, alles wurde erfasst, Daten aufgenommen. Immer wieder waren Stimmen zu hören und Geschrei, die beiden Roma wurden geschlagen und haben mit Sicherheit mehr verraten, als sie wollten. Von unserer Gruppe war ich am meisten zugerichtet. Meine Jeans war zerlöchert, ich konnte kaum stehen, die Beine von den Hundebissen geschwollen, sie brannten wie Feuer - so tapfer wie ich vorher war, so gab ich mich jetzt ganz meinem Schmerz hin. Am frühen Morgen wurden die zwei Roma und ich in einem geschlossenen Auto in die Dorfambulanz gebracht, wo wir ärztliche Hilfe bekamen: Die Wunden wurden mit Jod gesäubert, ich glaube, wir wurden auch geimpft. Das Ausmaß der Prügel konnte man erst jetzt erkennen. Die Gesichter

der beiden Fluchthelfer waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, ihr Gang war nicht besser als der meine - schräg, verzerrt. Ich dachte: Oh, Gott, werden wir wieder normale Menschen? Wir wurden zurückgebracht in den Stützpunkt mit den Worten: Blicke nach unten, Schande über euer Tun. Inzwischen waren hohe Offiziere aus Temeswar angekommen. Gegen Mittag wurden wir in einem geschlossenen Auto über Detta nach Temeswar gebracht. Ab nun war ich in UHaft im Polizeigebäude. In der U-Haft wurden mir meine persönlichen Sachen weggenommen. Danach wurde ich verhört. Ich versuchte, alles so wie auf dem Grenzerstützpunkt zu wiederholen, obwohl man hier schon in die Details ging. Irgendwann knallten die mir meine Brieftasche auf den Tisch. Sie hatten das Terrain, wo wir erwischt worden waren, nochmals abgesucht und sie gefunden. Leugnen half nichts. Ich gestand, dass es meine Brieftasche ist. Weil darin ausländisches Geld war, haben sie mich plötzlich zur Rädelsführerin gestempelt, die Kontakte zu Personen im Westen pflegt. Sie wussten mehr aus meinem Leben und Umfeld als ich selbst. Die Chance, mich zu rechtfertigen oder zu verteidigen, war gleich null. Die Vorgehensweise der Securitate war mir bekannt. Ich hatte jetzt nur noch den Wunsch, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Was ich zu jenem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass sie auch meinen Vater verhaftet hatten mit der Begründung, Fluchthilfe geleistet zu haben. Auch Frau T. sollte verhaftet werden, weil sie aber drei kleine Kinder hatte, blieb sie verschont. T. ist nach unserer Verhaftung selbst geflüchtet, genau an jener Stelle, wo es uns nicht gelungen war. Später wurde er in Abwesenheit verurteilt - er war schon in Italien. Als der Fall geklärt war, ging es ins Temeswarer Gefängnis. Zwei Tage war ich mit drei Frauen in einer Zelle; wir wurden ärztlich untersucht und danach in andere Zellen verteilt. Anfangs arbeitete ich von 6 bis 18 Uhr in der Konservenfabrik. Bald merkte ich, dass es dort noch andere Flüchtlinge gab, dass ich nicht die einzige war, der die Flucht missglückt war. Weil wir nur morgens und abends beim Transport in und aus der Fabrik Tageslicht zu sehen bekamen, meldete ich mich zur Arbeit im Garten. Anfangs konnte ich den Rhythmus mit den anderen nicht mithalten, doch es kam Hilfe. Eine Lehrerin und ihre Mutter aus Hermannstadt nahmen mich in die Mitte und halfen mir beim Hacken, mal die ein paar Meter, mal die andere ein paar Meter. Die Aufseher duldeten es. Pause hatten wir von 12 bis 13 Uhr, in der gab es Mittagessen, es war sehr schlecht. Verurteilt wurde ich in Detta. So wie mein Fall vor Gericht geschildert wurde, war er mir total fremd. Doch hatte man eine Wahl? Meine Mutter hatte für mich einen Anwalt verpflichtet, der die Richter kannte. Meine Oma hatte ihm 10 000 Lei gegeben, damit er ein mildes Urteil erwirken soll. Später habe ich erfahren, dass er meiner Oma das Geld zurückgegeben hat. Er hat ihr zu erklären versucht, dass es eine Amnestie geben wird und wir entlassen werden. So war es

dann auch: Am 19. August 1981 war ich frei. Erst beim Prozess in Detta habe ich erfahren, dass mein Vater auch wegen Fluchthilfe angeklagt worden war, weil mich niemand bis zum Beginn des Verfahrens im Gefängnis besuchen dufte. Er ist am selben Tag wie ich freigekommen. Mein Wunsch, nach Deutschland auszuwandern, erfüllte sich erst am 24. März 1985. Heute lebe ich zufrieden mit meiner 15 Jahre alten Tochter Nicole in einem kleinen Ort in der Vorderpfalz. Die Ereignisse von damals kann ich wohl nie ganz vergessen, aber sie haben an Intensität verloren und gehören der Vergangenheit an. Ich weiß heute, dass Licht und Schatten zusammengehören und dass es viel schlimmer hätte ausgehen können. Ich durfte aber auch eine positive Erfahrung machen: Es gibt auch anständige Leute. Der Anwalt verhielt sich in der damaligen korrupten Zeit äußerst human und loyal.

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