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Eine Reise gen Westen

Von Erich Müller

Frühjahr 1981. Meine Frau und ich sitzen an einem Sonntagnachmittag beim Kaffee, den wir natürlich von Verwandten in der Bundesrepublik hatten. Während unserer Plauderei kam der Gedanke auf, nach längerer Zeit wieder einmal in den Sommerferien zusammen mit den Kindern nach Ungarn zu fahren. In Ungarn hatten sowohl meine Frau als auch ich Verwandte, die wir in früheren Jahren schon, jedoch ohne die Kinder, öfter besucht hatten. Mit einer Ausnahme: einmal war die ältere Tochter allein bei den Verwandten in Ungarn. Ich habe stundenlang bei der Polizei angestanden, um Reisepässe beantragen zu können. Die sorgfältig ausgefüllten Formulare habe ich rechtzeitig abgegeben. Wir warteten relativ gelassen auf die Antwort, zumal wir bis dahin die Genehmigung zu Besuchen in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei stets anstandslos bekommen hatten. Diesmal sollte es anders laufen. Weil sich nach vier Monaten immer noch nichts getan hatte und die Schulferien allmählich zu Ende gingen, habe ich mich schriftlich an den Kommandanten des Passamtes gewandt und um Antwort gebeten. Nach einigen Tagen wurde ich in der Firma verständigt, ich sollte ins Passamt kommen und mich am nichtöffentlichen Eingang melden. Ein Mitarbeiter des Passamtes führte mich ins Büro eines etwas dunkelhäutigen Majors. Dieser reichte mir die Hand und bot mir einen Stuhl an. Er war die Höflichkeit in Person. Soll mein Brief eine derart ungewohnte Wirkung ausgelöst haben? Er fragte mich, womit er mir helfen könne. Ich antwortete, dass meine Frau und ich zusammen mit den beiden Töchtern gerne noch in den Sommerferien nach Ungarn fahren möchten und dass unser Antrag nach Monaten immer noch unbeantwortet sei. „Ja, wissen Sie, es tut uns leid, wir sind jedoch mit der Arbeit völlig überfordert. Unsere Mitarbeiter kommen einfach nicht nach mit der Abwicklung der Passformalitäten.“ „Gewiss“, antwortete ich, „man kann gut verstehen, dass Ihre Leute überfordert sind“, entgegnete ich, um ihn bei Laune zu halten. „Aber in Ihrem Fall gibt es kein Problem. Sie oder ihre Frau können mit einer der Töchter sofort nach Ungarn fahren.“ Meine Hoffnung wandelte sich in Enttäuschung um, die man mir auch angesehen haben muss, denn mein Gesprächspartner fügte etwas schuldbewusst hinzu: „Wissen Sie, wir müssen auch gewisse Vorschriften einhalten. Sprechen Sie mit Ihrer Frau, und wenn sie sich entschieden haben, wer fährt, kommen Sie wieder zu mir, und Sie erhalten sofort den Pass.“

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Wir überlegten, ob wir das Angebot annehmen sollten, und wenn ja, wer mit wem fährt. Schließlich entschieden wir uns, dass ich mit der jüngeren Tochter fahre. Die ältere war schon einmal mit uns in Ungarn, die jüngere noch nie im Ausland. Den Pass mit dem Visum für Ungarn hatte ich binnen einer Stunde, trotz völlig überlasteter Mitarbeiter des Passamtes. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, bei passender Gelegenheit über Ungarn die Reise in den Westen zu wagen, rief ich von einem öffentlichen Telefon bei der österreichischen Botschaft an und erfuhr, dass bei der Einreise nach Österreich kein Visum nötig war. Daraufhin teilte ich meiner Frau die Absicht mit, gegebenenfalls den Versuch zu unternehmen, von Ungarn nach Österreich zu gelangen. Bei den Verwandten in Ungarn angekommen, absolvierten wir das von ihnen vorgeschlagene Programm. Sie zeigten uns eine Reihe von Sehenswürdigkeiten, die vor allem für die Tochter neu waren. Ich war mit meinen Gedanken meistens ganz woanders. Eines Vormittags, als ich mit der Tochter allein in der Stadt war, ging ich zur deutschen Botschaft und wurde erstaunlicherweise auch von der ungarischen Wache durchgelassen, nachdem ich dieser auf Deutsch erklärt hatte, dass mir mein Reisepass gestohlen worden wäre. In der Botschaft empfing uns ein nicht besonders freundlicher Beamter, dem ich meinen Wunsch mitteilte, mit der Tochter in die Bundesrepublik zu den Verwandten zu fahren, um mich als Spätaussiedler zu melden. Wir hatten damals schon eine Aufnahmegenehmigung, jedoch noch keinen Antrag auf Ausreise gestellt. Der Beamte legte einen Bogen Papier und einen Kugelschreiber auf den Tisch und erklärte mir, ich solle mein Anliegen schriftlich an Außenminister Hans Dietrich Genscher richten. Das tat ich auch und überreichte dem Beamten das Papier. Daraufhin verabschiedete er mich. Ich vermute, dass das Papier in den nächsten Papierkorb gewandert ist. Zumindest war es nicht die sofortige Lösung, die ich mir erhofft hatte. Von Bekannten wusste ich, dass die Botschaft in Belgrad provisorische Pässe ausstellte, mit denen man in die Bundesrepublik gelangte. Ich überlegte, was ich tun sollte: unverrichteter Dinge nach Rumänien zurückzukehren oder die Flucht nach Österreich zu versuchen. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit. Also ging ich an die Arbeit. Ich musste das Visum für Ungarn auch auf Österreich erweitern. Den Pass hatte ich schon zu Hause studiert und festgestellt, dass neben dem mit Tusche eingetragenen Ungaria noch freier Platz war. Also nahm ich von zu Hause Tusche und Feder mit, um in Ungarn die nötige Ergänzung vorzunehmen. Mit der Ergänzung Austria im Pass, verabschiedeten wir uns von den Ver-

wandten. Statt in Richtung Osten fuhren wir gen Westen. In der Nähe der Grenze hielt ich noch einmal an und betrachtete im Pass mein „Meisterwerk“. Es schien mir in Ordnung zu sein. Die erste Grenzkontrolle passierten wir problemlos. Die zweite Kontrolle fand direkt an der Grenze vor dem massiven Schlagbaum statt. Der Grenzer ging mit dem Pass ins Büro, um - wie ich meinte - den Ausreisestempel hineinzudrücken. Es dauerte lange, und allmählich sorgte ich mich, dass man mir auf die Schliche gekommen ist. Endlich kam ein Major mit einer ziemlichen Alkoholfahne, zeigte mir ein Blatt Papier und meinte „Ez a papir nem jo“ - dieses Papier ist nicht in Ordnung. Jetzt erst merkte ich, was geschehen war, und wusste gleich, dass mein Traum vom Westen erst einmal ausgeträumt war. Was war tatsächlich passiert? Ich hätte es längst selbst sehen müssen. Zu jener Zeit war dem Pass ein gefalteter Bogen beigefügt. Die eine Seite war der sogenannte „talon de ieşire“, der Ausreiseabschnitt, die andere der „talon de intrare“, der Einreiseabschnitt. Bei der Ausreise hatten die rumänischen Grenzer das Papier in der Mitte durchtrennt und den Ausreiseabschnitt zurückbehalten. Bei der Rückkehr wurde der Einreiseabschnitt einbehalten. Auf diese Weise hatten sie die Kontrolle darüber, wer noch im Ausland weilte und wer ins Land zurückgekehrt war. Bei mir hatten sie aus Versehen bei der Ausreise den Einreiseabschnitt zurückbehalten und mir den Ausreisabschnitt mitgegeben. Den ungarischen Grenzern war dieses Papier fremd. Wie gesagt, ich hätte das längst bemerken müssen, hatte jedoch darauf einfach nicht geachtet. Ich versuchte, dem Offizier in meinem schlechten Ungarisch zu erklären, die rumänischen Grenzer hätten einen Fehler gemacht. Daraufhin ging er mit dem Pass noch einmal ins Gebäude. Nach langer Zeit, in der die Ungarn wohl mit den Rumänen telefoniert oder den Pass einer genaueren Untersuchung unterzogen hatten, musste ich das Auto seitlich abstellen. Meine Tochter, die bei der ganzen Sache erstaunlich ruhig blieb, und ich wurden in einen geschlossenen Raum gebracht und von Grenzern bewacht. Man erklärte mir, ein Auto aus Raab würde uns abholen. Zwischendurch mussten wir uns mit dem Major fotografieren lassen. Wahrscheinlich wurde er hinterher für seine Wachsamkeit belohnt. Vielleicht hatten wir auch die Ehre, auf der Wandzeitung der ungarischen Grenzer zu erscheinen. Es war schon spät am Abend, als wir in Raab die Polizeiwache erreichten. Wir mussten unsere Kleider, Uhren und Geldbörsen abgeben. Es wurde ein Protokoll erstellt, das ich mitunterschreiben musste, wir bekamen Sträflingskleider und wurden in eine Zweibettzelle einquartiert. Ich war froh, dass die Tochter nicht allein in einer Zelle untergebracht war. Wir konnten so beide die dunkle Zelle mit einer vielleicht 15-Watt -Glühbirne besser ertragen. Tagsüber kam etwas Licht durch ein 30 mal 30 Zentimeter großes, vergittertes Fenster.

Ich wurde mehrmals von einem Hauptmann namens Erdély verhört. Er sprach etwas Deutsch, ich etwas Ungarisch, die Verständigung klappte ganz gut. Die Chemie zwischen uns stimmte, und wenn ich nicht im Gefängnis gewesen wäre, hätten die Gespräche einen ganz netten Charakter gehabt. Weil das Essen verständlicherweise nicht besonders mundete, fragte er uns, ob er zusätzlich etwas zu essen besorgen sollte. Ich bat ihn, für meine Tochter Äpfel zu kaufen. Am nächsten Tag überreichte er uns tatsächlich eine Tüte mit schmackhaften Äpfeln. Er wollte kein Geld dafür. Die Zeit in der Zelle verging äußerst langsam. Ute hat zu meiner Überraschung Bleistift und Papier in die Zelle geschmuggelt. Auf meine Bitte hin gab man uns sogar einige deutsche Bücher. Das Lesen und Schreiben war jedoch wegen des schwachen Lichts auch tagsüber mühsam. Die Tochter stellte sich aufs Bett und war so dem kleinen Fenster sehr nahe. Auf diese Weise stellte sie Kreuzworträtsel zusammen. Einige dieser Rätsel veröffentlichte später die „Neue Banater Zeitung“ auf der Schülerseite. Ich versuchte, die Zeit mit Lesen auszufüllen; meine Augen tränten jedoch bald vor Anstrengung, so dass ich immer nur kurz lesen konnte. Die Wache war unfreundlich. Die Toilette war auf dem Flur, und bei Bedarf mussten wir klopfen, um hinausgelassen zu werden. Dabei hörten wir des öfteren: „ne kopogja“, nicht klopfen. Es kam vor, dass man uns erst beim dritten Mal öffnete. Auch das Zähneputzen im Waschraum dauerte dem Mann oft zu lange, und er drängte uns zu mehr Eile. Nach einer Woche ließ Hauptmann Erdely mich rufen und teilte mir mit, dass wir am nächsten Morgen zur rumänischen Grenze gebracht und den rumänischen Behörden übergeben werden. Tatsächlich kam ein Polizeiauto mit Fahrer und Begleitung. Meine Tochter musste auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, die Begleitung saß auf der Rückbank neben mir. Der Bewacher erklärte mir, dass er mit gezückter Pistole dasitzen müsse, um bei einem Fluchtversuch sofort schießen zu können. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich bestimmt nicht fliehen werde, und er steckte die Pistole dann auch weg. Es war für mich und wohl auch für ihn die angenehmere Variante. Mein Auto wurde von einem dritten Mann gesteuert, der uns stets schön hinterherfuhr. Vor der Abfahrt erhielten wir unsere Habseligkeiten zurück. Auch das ganze Geld war da. Meine Bewacher fragten mich, ob ich das übriggebliebene ungarische Geld vor der Rückkehr nach Rumänien noch ausgeben möchte. Ich bejahte, sie gaben uns eine Stunde Zeit, im Kaufhaus in Makó einzukaufen - ohne Begleitung. Nachdem wir für das ganze Geld Lebensmittel besorgt hatten, gingen wir zurück zum Auto und fuhren weiter. An der Grenze angekommen, nahmen die Rumänen uns in Empfang. Mein Auto wurde mir mit all dem Gepäck übergeben, und ich musste einen Bericht schreiben, in dem ich den gesamten Ablauf der Ereignisse darstellte. Wir wurden von den Grenzern höflich be-

handelt. Nachdem ich mit dem Schreiben fertig war und den Bericht abgegeben hatte, dachte ich, man würde uns nun in ein Auto setzen und nach Temeswar in Polizeigewahrsam bringen und bis zum Prozess festhalten. Umso größer war meine Überraschung, als man mir den Reisepass zurückgab mit der Bemerkung: Sie sind frei. Sie können nach Hause fahren. Ich habe vom ersten öffentlichen Telefon meine Frau angerufen und ihr mitgeteilt, dass wir wohlbehalten hier sind. Sie wusste mehr als eine Woche lang nichts von uns. In Deutschland sind wir nie angekommen, die Verwandten in Ungarn wussten, dass wir nach Hause gefahren waren. Meine Frau hatte schon an einen Unfall geglaubt. Sie ahnte nicht, dass wir eine Woche lang in Ungarn in Polizeigewahrsam waren. Spät nachts kamen wir in Temeswar an. An meinem Arbeitsplatz musste ich die gesamte Geschichte erneut aufschreiben und wurde auf einen anderen Posten versetzt. Kollegen und Vorgesetzte behandelten mich jedoch weiterhin sehr freundlich. Es kam nach kurzer Zeit in Bukarest zum Prozess. Meine Tochter musste als Minderjährige nicht mitkommen. Man verlangte jedoch von der Schule ein Führungszeugnis. Die Klassenlehrerin wollte den Grund wissen. Erst nachdem meine Frau ihr die Vorkommnisse erläutert hatte, stellte sie ein Zeugnis aus, das danach auch vom Direktor der Schule unterzeichnet wurde. Ich benachrichtigte den Direktor der Firma, in der ich arbeitete, von meinem bevorstehenden Prozess in Bukarest, und er genehmigte mir aus eigener Initiative eine Dienstreise zu unserer Zentrale in Bukarest. Auch so etwas gab es im Sozialismus. Im Gericht waren nur Frauen: Staatsanwältin, Richterin, Beisitzerinnen und meine Anwältin. Ich wurde zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. Es war der Anfang unserer vierjährigen Wartezeit auf die offizielle Ausreise, die im März 1985 nach unzähligen Audienzen erfolgte.

Erich Müller wurde am 10. April 1938 in Temeswar geboren, heute lebt er in Mannheim.

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