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Leichen verstopften die Schleusen

Nadia Boari:

Nadia Boari aus Temeswar berichtet über ihren Sohn, der bei einem Fluchtversuch unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist. „Valentin hat in seinem ganzen Leben einen einzigen Fehler begangen, und den hat er mit dem Leben bezahlt. Er hat oft gesagt: ‹Mutter, ich will, dass du an deinem Lebensabend ein besseres Leben führst, dass du dich nicht plagen musst, weil du immer wieder Einkaufstaschen schleppst.› Er war schon immer gegen das Regime. Manchmal erschrak ich bei dem Gedanken, dass er sehr entschlossen ist und dass er sicher fliehen wird. Endgültig. Er hat uns, unsere Generation, oft dafür verantwortlich gemacht, dass wir nichts für sie getan haben. Für seine Generation. Ich habe oft versucht, ihm zu erklären, was richtig und was falsch ist. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass sein Studium das wichtigste ist. Ich habe ihm geraten, die Grenze nicht illegal zu überschreiten. Mich wundert die Tatsache, dass er den Mut dazu hatte, obwohl er ein Einzelgänger, ein Braver war. Er verschwand nie von zu Hause, er ging nie in Bars oder Restaurants, er hatte keinen Freundeskreis. Er hat viel studiert. Die Mathematik begeisterte ihn. Ich bin mir sicher, dass Valentin nicht bei Bewusstsein in die Donau gelangt ist. Entweder wurde er durch Schläge auf den Kopf umgebracht, nachdem ihr überfrachtetes Boot gekentert war, oder aber sie wurden erschossen. Eins ist sicher: Sie sind bewusstlos ins Wasser gelangt. Bei der Identifizierung wurde mir gesagt, dass der Helfer des Gerichtsmediziners behauptet habe, auf dem Körper seien Spuren von Gewalttaten zu erkennen gewesen. Ich finde es seltsam, dass wir die Urkunden, die Valentin bei sich hatte, unversehrt erhalten haben. Es ist also ausgeschlossen, dass sie im Wasser gefunden wurden. Die Papiere wurden uns erst nach der Beerdigung gebracht. Ebenso sauber waren auch die Bilder, die er immer bei sich hatte und die wir ihm später in den Sarg gelegt haben. Auch das Abiturzeugnis war sauber. Warum war nur die Geburtsurkunde zerrissen? Sie wurde zerrissen von einem Polizisten aus Orschowa gebracht, zusammen mit Valentins anderen Sachen. Auf der Todesurkunde, die am 31. März 1987 ausgestellt ist, steht ‹Tod durch Ertrinken›. Aber mein Kind war ein sehr guter Schwimmer. Er wurde angezogen mit Schuhen und Kleidern gefunden; doch ein Mensch, der um sein Leben kämpft und bei vollem Bewusstsein ist, versucht mit allen Mitteln, sich dessen zu entledigen, was ihn bei seiner Rettung behindert. Ich habe erfahren, dass an dem Tag, an dem mein Sohn ertrunken ist, noch zwei weitere Personen, wahrscheinlich aus Valentins Gruppe, am serbischen

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Ufer gefunden wurden. Von diesen beiden Personen wollten die rumänischen Behörden nichts wissen, was sie damit begründeten, dass sie mit dem anderen Ufer nichts zu tun hätten. Valentins Leiche wurde von ein paar Männern entdeckt, die am Ufer Holz hackten. Die Urkunden wurden von einem Fischer gebracht, der Valentin angeblich im Golf bei Orschowa treiben sah, genau an dem Tag, als er ohne Identifizierung begraben wurde. Ein Staatsanwalt aus Turnu Severin, dessen Namen ich vergessen habe, hat mich beschuldigt, ich hätte meinen Sohn nicht richtig erzogen, ich hätte nicht auf ihn aufgepasst. Herr Staatsanwalt Roth, ebenfalls aus Severin, hat mir aber geholfen, den Exhumierungsantrag auszustellen. Valentin wurde nackt zwischen vier Brettern begraben. Als er aus dieser Kiste gehoben wurde, blieb das untere Brett im Grab. Vorigen Herbst hatte ich den Mut und die Kraft, auf den Orschowaer Friedhof auf der Sternwaldwiese zu gehen, um einen Blumenstrauß auf das frühere Grab meines Sohnes zu legen. Ich fand nur eine leere Stelle. Alle Kreuze, auf denen ‹Unbekannt› gestanden hatte, waren entfernt. Ich habe die Blumen mit vollen Händen auf eine große Fläche verstreut. Ich habe viele Kerzen angezündet, ebenfalls auf einer großen Fläche. Sehen Sie, bei uns versucht man, jede Spur zu verwischen. Auf dem anderen Ufer, bei den Serben, gibt es so einen Friedhof. Dort ist alles unversehrt... Ebenfalls damals habe ich erfahren, dass sich die Serben immer darüber beschweren, dass die Leichen der Rumänen die Schleusen auf ihrer Donauseite verstopfen. Es war herzzerreißend. Ich erfuhr von Menschen, die von den Propellern der Schnellboote zerstückelt wurden... Eigentlich ging Valentin damals von zu Hause weg, um sich zu entspannen. Wir fuhren oft nach Herkulesbad in den Wochenendurlaub. Es war am 28. März 1987. Nach drei Tagen waren wir beunruhigt, weil er nicht aufgetaucht ist. Wir riefen bei der Polizei in Herkulesbad an. Erst am 24. April haben wir erfahren, dass er in der Donau ertrunken und in Orschowa begraben ist. Es hieß, er sei drei Wochen lang im Wasser gewesen. Nach einer Autopsie und nach weiteren vier Tagen sei er in Orschowa begraben worden. Am 28. April brachten wir ihn nach Temeswar. Wir hatten sehr viele Bekannte. Valentins Grab wurde drei Tage nach der Beerdigung niedergebrannt. In der „Drapelul roşu“, der Parteizeitung, in den Ausgaben vom 30. April und 7. Mai 1987, durfte unser Namen nicht in der Rubrik ‹Sterbefälle› erscheinen... All das bringt mich auf ganz andere Gedanken...

Aufgezeichnet von Doina Magheţi im Mai 1995; Übersetzung aus dem Rumänischen: Linda Munteanu. Der Text ist dem Buch „Die Grenze“ mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnommen.

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