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Den Sohn im Sarg abgeholt
Von Doina Magheţi
Ion Ciucur aus Mădrigeşti im Kreis Arad wurde 1983 an der Grenze getötet. Bevor wir das Leben und den Tod des Opfers entsprechend den Erinnerungen seines Vaters schildern, zitieren wir, was im Bericht der Grenzer-Brigade Temeswar über die Zwischenfälle an der Grenze (1980-1989) über diesen Vorfall festgehalten ist: „23. September 1983, um 3.40 Uhr hat Ion Ciucur aus Brad (Kreis Arad) die gesetzmäßigen Warnungen nicht beachtet und den Soldaten mit einer Tüte mit harten Gegenständen getroffen. Der Soldat hat das Feuer eröffnet und ihn an der linken Schulter verletzt. Trotz aller geleisteten Hilfe ist Ion Ciucur wegen des Blutverlusts gestorben.“ Es war an einem Sonntag im Juni 1995, als wir bei Constantin Ciucur in Mădrigesti, das zur Gemeinde Gurahonţ gehört, anklopften. Er kam nachdenklich zwischen den Gemüsebeeten hervor und empfing uns skeptisch. Wir erzählten ihm über unsere Absicht, die während des ehemaligen Regimes verübten Niederträchtigkeiten zu enthüllen. Die Atmosphäre lockerte sich. Constantin Ciucur erinnerte sich an jede Einzelheit, die seinen Sohn betrifft: „Am Tag, als er von zu Hause wegging, es war der 23. September 1983, hat er mir nur gesagt, dass er nach Turnu Severin will, zu dem Arzt, der seine Magenkrankheit behandelte. Offensichtlich hatte er aber ein anderes Ziel… Wahrscheinlich ging noch jemand mit ihm. Seine Frau Lucretia wusste es, aber uns hat sie nichts darüber gesagt. Am 23. September 1983 bekam ich eine Nachricht, eigentlich ein Telegramm aus Temeswar, von der Militärstaatsanwaltschaft. Ich erfuhr, dass mein Junge tot ist und in der Leichenhalle des Kreiskrankenhauses in Temeswar liegt. Ich konnte es nicht fassen... Er hat gut gelebt, er hatte zu Hause alles, was er brauchte, er hatte einen guten Beruf und war sehr tüchtig. Er war Elektroniker in Gurahonţ. Er wohnte in dem Haus auf dem Hügel, das jetzt leer steht. Er hatte einen guten Lohn. Alles war in Ordnung, aber er ist gegangen... Was damals geschehen ist, weiß ich nicht. Ich habe also bei unseren Verwandten in Arad angerufen. Er hatte Gepäck dort gelassen. Es war sehr schwer für mich, als ich Ion mit dem Sarg abholen musste. Es wurde mir gesagt, ich sollte um 8 Uhr bei Oberst Robotin in der Staatsanwaltschaft sein. Er war ein älterer Mann, und er sagte mir: ‹Mein Lieber, so leid es mir tut, ich kann dir nicht helfen, dein Junge wurde an der Grenze getötet. Es wurde mit einem Schnellfeuergewehr auf ihn geschossen.› ‹Was hat er dort gesucht?› fragte ich. ‹Wie wurde er getötet?› ‹Es wurde mit einem Schnellfeuergewehr auf ihn geschossen›, das hat er, der Staatsanwalt, mir erklärt, und ich habe dann geantwortet: ‹Wenn es so ist, dann
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ist es eben so.› Der Oberst erklärte mir noch: ‹Er hat die Warnungen nicht beachtet, und es wurde auf ihn geschossen.› Das kann nicht sein, dachte ich. Er wurde am Bein getroffen. Wie konnte die Kugel dann durch den Bauch und die Hoden austreten? Und es sind noch drei Kugeln links, durch den Rücken und durch die Lungen ausgetreten. Er wurde mit vier Kugeln getötet. Das waren sicher keine Warnschüsse, denn sonst wäre er nur an den Beinen angeschossen worden. Wir haben ihn am Montagmorgen nach Hause gebracht und so schnell wir möglich beerdigt, denn er war schon in der Nacht vom 23. auf den 24. September gestorben. Anschließend versuchte der Alte etwas zurechtzustellen, schweren Herzens sagte er: ‹Er hätte doch eine Reise machen können, so wie andere auch, er hätte doch nicht über die Grenze gehen müssen.› Ich weiß“, fährt Ciucur, der Vater, fort, „dass er an diesem Morgen mit einem Netz wegging, in dem er einen Stromstärkemesser und seine Werkzeuge hatte, er reparierte nämlich Fernsehgeräte. Er hatte noch zwei kleine Schokoladentafeln und 3.000 bis 4.000 Lei bei sich. Außerdem noch ein Tonband, auf dem die Stimme des Kindes und kurze Wörter, die das Baby sagte, aufgenommen waren: Tata, Tata, Ta-ta. Und einen Film mit dem Kleinen. Das Tonband war am Körper festgebunden. Die Grenzer waren wohl neugierig, was er dort verbarg. Am 27. September wurde das Kind geboren und genau dann wäre Ion 31 Jahre alt geworden. O Gott... Sie fragen mich, was er noch bei sich hatte. Er hatte alle seine Urkunden und Diplome und seinen Personalausweis mitgenommen. Er hat nur die Kopien zu Hause gelassen. Bei der Staatsanwaltschaft in Temeswar habe ich alles zurückbekommen. Nur die Landkarte mit der Grenze und dem darauf eingezeichneten Fluchtweg ist bei ihnen geblieben. Ich muss immer an etwas denken: Bei der Militärstaatsanwaltschaft war ein Mann, der mich gefragt hat: ‹Was machst du hier, hast du Kummer mit den Kindern? Ich habe auch Kummer mit meinem, er hat nämlich einen an der Grenze erschossen.› Er sagte, er sei aus Marmarosch. Ich bin aber ins Büro des Herrn Oberst eingetreten, und danach habe ich ihn nicht mehr gefunden, um ihn zu fragen, wie er heißt.
Aufgezeichnet in Gurahonţ im Juni 1995; Übersetzung aus dem Rumänischen: Linda Munteanu. Der Text ist dem Buch „Die Grenze“ mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnommen.