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Erfolg im zweiten Anlauf

Anneliese X:

Am Anfang ihrer Fluchtgeschichte steht eine Enttäuschung: 1986 verlässt Anneliese X.' langjähriger Freund Siebenbürgen in Richtung Deutschland. Der Ausreisestrudel erfasst auch sie. Und dann hilft ihr der Zufall. Die am 28. September 1961 in Jakobsdorf im Harbachtal geborene junge Frau lernt im Sommer 1987 auf einer Tanzunterhaltung in Deutsch-Kreuz Hans kennen. Er stammt aus Elsterwerda (damals noch DDR) und hat sich inzwischen in der Bundesrepublik niedergelassen. Die beiden fahren zusammen ans Schwarze Meer; am 15. August sind sie wieder in Keisd auf der Hochzeit einer Cousine. Danach geht es Richtung Banat und ungarische Grenze. Hans ist überzeugt, dass Anneliese X. es schafft, durch die Marosch nach Ungarn zu schwimmen. Er selbst ist schon einmal illegal, ebenfalls als Schwimmer, nach Rumänien gekommen, er kennt sich aus. Als Schwimmhilfe dient beiden ein mit Luft gefüllter großer Plastiksack, in dem die zweifach verpackten Kleider noch Platz finden. Hans fährt Anneliese X. bis hinter Großsanktnikolaus, wo für die junge Frau ein Fußmarsch in Richtung Fluss beginnt. Sie hat Glück, kommt an ein paar Soldaten vorbei; eine Schweineherde läuft ihr über den Weg. Sie erreicht die Marosch und schwimmt nach Ungarn. Hans sucht sie vergebens mit seinem Auto zwischen Makó und Ungarisch-Tschanad. Anneliese X. gelangt durch Wald und ein Zwiebelfeld an die Straße nach Segedin. Einem anhaltenden LkwFahrer traut sie nicht. Sie begegnet schließlich einem Zöllner und wird ohnmächtig. Aus der Ohnmacht erwacht, teilt ihr der Zöllner mit, dass sie nach Rumänien zurückgeschickt wird. Doch Anneliese X. hofft auf eine Wendung, sobald Hans auftaucht, der Bundesbürger ist. Hans kommt tatsächlich mit seinem Auto, doch die ungarischen Behörden bleiben dabei: Anneliese X. wird entsprechend dem zwischen Ungarn und Rumänien gültigen Abkommen über die Auslieferung von Grenzgängern zurückgeschickt. Drei Monate später liefern die Ungarn keine deutschen Flüchtlinge mehr an Rumänien aus. Das Stadtgericht Segedin verurteilt Hans am 12. August 1987 wegen Hilfe zum illegalen Grenzübertritt zu 40 Tagen Gefängnis. Die Strafe kann er auch mit Geld begleichen. Für einen Tag Gefängnis hat er 150 Forint zu zahlen. Abgezogen werden die fünf Tage Untersuchungshaft. Hans entscheidet sich für die Geldstrafe und ist frei. Nach einer Nacht in ungarischem Gewahrsam kommt Anneliese X. ins Gefängnis von Arad. Die 310 Mark, die sie bei sich hat, werden jedoch vorher beschlagnahmt. In Arad erlebt sie, wie Wärter eine offensichtlich geistig gestörte Frau - sie ist in Ketten gelegt - verprügeln. Nach zwei Tagen geht es weiter nach Temeswar in das Gefängnis aus der Habsburger Zeit.

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Es sei schrecklich gewesen, doch heute könne sie darüber lachen, sagt Anneliese X. In einer für vier Personen vorgesehenen Zelle sind sie zu zehnt untergebracht. Schon gleich nach der Ankunft hört sie von einer geplanten Amnestie. Aus der Zelle kommt sie in einen Großraum, in dem 130 Frauen zusammengepfercht sind. Ihnen stehen zwei Waschbecken und eine Toilette zur Verfügung. Anneliese X. wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Als gelernte Täschnerin wird Anneliese X. der Invalidengruppe zugeteilt, die auf Feldern Tomaten und Paprikaschoten ernten muss. Um 6 Uhr ist Weckstunde. Um 6.30 Uhr ist Ende der Frühstückszeit. Dann geht es mit einem Häftlingsbus zur Arbeit auf die Felder. Um 18 Uhr sind alle zurück im Gefängnis. Nach dem Abendessen waschen die Häftlinge ihre Kleider in dem für 130 Insassen viel zu kleinen Raum, denn am nächsten Morgen müssen sie sauber antreten. Anneliese X. ist in dem Raum fast ausschließlich mit kriminellen Frauen zusammen. Am 31. Oktober 1987 ist sie nach einer Amnestie vorzeitig frei und nimmt die Arbeit als Täschnerin wieder auf. Im August 1988 fährt Anneliese X. mit dem Zug in die Freiheit. Hans hat den zweiten Fluchtversuch bis ins kleinste vorbereitet, selbst Annelieses Unterwäsche hat deutsche Aufnäher. Hans klebt ihr Foto in den Pass einer Studentin, und täuscht mit gefälschtem Stempel eine angebliche Einreise über Hatztfeld mit dem Auto vor. Der Stempel trägt das Datum 10. August 1988. Mit demselben Pass gelangt danach noch eine mit Anneliese X. in Temeswar Inhaftierte nach Deutschland. Anneliese X. fährt mit einem Neffen von Hans, der aus der DDR zu Besuch in Siebenbürgen ist, mit der Bahn über Klausenburg in Richtung Biharkeresztes in Ungarn. Vor der Grenze fragen Zöllner und Grenzer nach Abfahrts- und Zielort. Sie sprechen Anneliese rumänisch an, doch sie gibt sich keine Blöße. Sie ist zwar zwei Zentimeter größer als die zwei Jahre ältere Studentin, der eigentlich der Pass gehört, doch sie darf im Zug bleiben. Hans' Neffe jubelt schon, bevor der Zug in Ungarn ist. An der ersten Haltstelle in Ungarn steigen Anneliese und Tino aus dem Zug und fahren zusammen mit Hans an den Plattensee, wo einige seiner Angehörigen auf Urlaub sind. Dort wird diskutiert, ob Anneliese mit Hans im Auto nach Österreich fahren oder ob sie zu Fuß über die Grenze soll. Anneliese X. missfällt die Diskussion. Nach einer halben Stunde verabschiedet sie sich zusammen mit Hans. Sie übernachten noch einmal in Ungarn und fahren an die österreichische Grenze. Der Grenzbeamte winkt sie durch, die vorletzte Hürde ist genommen. Am 16. August ist Anneliese X. in Nürnberg. Sie erzählt eine fingierte Geschichte von ihrer Flucht: Sie wäre mit einem Lastwagen zwischen Kartons über die Grenzen geschmuggelt worden; dafür hätte sie 100 Mark bezahlt. Das glaubt ihr keiner, aber sie bleibt dabei. Sie darf und will ihre Einreise mit gefälschtem Pass nicht zugeben, denn der Ausweis hat noch nicht ausgedient.

Hans ist seinerzeit zum Staatsfeind der DDR abgestempelt worden, weil er es im Juni 1982 gewagt hat, illegal nach Rumänien und zurück in die DDR zu reisen. Zusammen mit drei Bekannten wollte er die Rumänien-Reise antreten. Doch die DDR-Behörden erlauben zwar den drei Bekannten den Urlaub in Rumänien, Hans jedoch nicht, weil sein Vater in der Bundesrepublik lebt. Er fährt kurzerhand mit den drei Freunden nach Ungarn, wo er sich von ihnen trennt, schwimmt durch Donau und Marosch nach Rumänien und ist einen Tag nach seinen drei Bekannten an der Kleinen Kokel in Siebenbürgen. Den Heimweg nimmt er über Großwardein. Beim Grenzübertritt stellen ihn ungarische Grenzer. Einen Monat verbringt er in Untersuchungshaft in Budapest und hat einen Freiflug in Handschellen aus der ungarischen Hauptstadt nach Ost-Berlin. Ein DDR-Gericht verurteilt ihn zu einem Jahr Gefängnis. Den Rat von Mithäftlingen, schon im Gefängnis einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik zu stellen, weist er zurück, denn er will eigentlich in der DDR bleiben. Das ist ein Fehler, doch das merkt er erst, als er wieder in Freiheit ist. Weil er nicht ausreisen will, darf er das Jahr voll absitzen. Nach der Haftentlassung ist ihm die Arbeit als Maschinenbauingenieur nicht mehr gestattet. Er stellt deshalb einen Ausreiseantrag und ist im August 1984 in der Bundesrepublik Deutschland. Als er von seiner Mutter erfährt, dass sich die Stasi an seiner Antiquitätensammlung zu schaffen macht, reist er zurück, um seine Schätze zu retten. Dabei tappt er in eine Falle und wird in der DDR zu drei Jahren Gefängnis wegen angeblichen Zollvergehens verurteilt. Er kommt ins „Ausländerhaus“ des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg, genannt Rummeline. Er tritt in Hungerstreik von November 1984 bis Februar 1985 und erleidet dabei einen Tinnitus. Der Hungerstreik macht die Westpresse auf ihn aufmerksam. Schließlich wird er mit 60 000 Mark freigekauft und ist nach 19 Monaten Haft wieder im Westen.

Anneliese X. und Hans lassen sich 1988 zuerst in Marburg an der Lahn nieder. Nach der Heirat ziehen sie nach Bielefeld, weil Hans dort eine Stelle als Maschinenbauingenieur bekommt. Anneliese X. findet Arbeit in ihrem alten Beruf als Täschnerin. Sie leben auch heute noch mit ihrem Sohn Martin und der Tochter Sonja in Bielefeld.

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