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Schüsse am Neusiedler See

Nicoleta Strobl:

„Mit 20 waren wir alle mit dem Bazillus Auswanderung infiziert“, erzählt Nicoleta Strobl. Es hat wohl keinen in unserer Clique in Hermannstadt gegeben, der nicht weg wollte. Um leichter wegzukommen, heiratet die am 6. Dezember 1961 in Hermannstadt geborene Nicoleta Strobl sofort nach dem Abitur. Sie und Freunde wollen die Flucht in Güterwaggons wagen. Doch nie finden sie einen, der bereit wäre, den Wagen wieder zu versiegeln. Nicoleta Strobl und ihr erster Mann beginnen internationale Übereinkünfte zu studieren, um den Geheimdienstmitarbeitern vom Passamt die angeblich auch in Rumänien geltenden Nicoleta Strobl Rechte vorhalten zu können. Nicoleta und ihr Mann gehen täglich vor Dienstbeginn zum Passamt, um die Geheimdienstleute abzufangen, zu befragen oder auf sie einzureden. Die raten den jungen Leuten, nach Hause zu gehen und Ruhe zu geben. Weil das ständige Erscheinen vor dem Passamt keinen der Geheimdienstler wirklich stört, stellen die beiden einen Ausreiseantrag. Aber auch danach erscheinen sie täglich vor dem Gebäude des Geheimdienstes und fordern Audienzen. Allmählich sind sie beim Geheimdienst Securitate allbekannt. Im Herbst 1980 kommt die Nachricht durchs Radio, dass Staats- und Parteichef Nicolae Ceauşescu die Stadt Ploieşti besuchen will. Nicoletas Mann macht sich auf den Weg nach Ploieşti und überreicht Ceauşescu einen Brief, in dem er und seine Frau die Ausreise fordern. Geheimdienstmitarbeiter nehmen ihren Mann fest und verprügeln ihn. Die Securitate beginnt dem Ehepaar zu drohen, dann wieder versucht sie es mit Zucker. Sie bietet Nicoleta beispielsweise eine Stelle in einer Apotheke in Hermannstadt an. In jenen Tagen arbeitet sie noch als medizinisch-technische Angestellte im Städtchen Fatschet. Doch die beiden lehnen ab. Jetzt ist der Geheimdienst richtig aufmerksam geworden auf die beiden und beschattet sie. Am Tag, als Bundespräsident Karl Carstens Hermannstadt im Frühjahr 1982 besucht, ist das Haus, in dem die beiden wohnen, bewacht. Doch damit haben sie gerechnet. Seit Tagen sind sie bei Freunden untergekommen, sie meiden ihr Zuhause. Nicoletas Mann gelingt es, Carstens einen für Ceauşescu bestimmten

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Brief zu überreichen. Die Übergabe ist sogar auf Video festgehalten. Nach der Übergabe schlagen Geheimdienstmitarbeiter Nicoletas Mann in einem Hinterhof zusammen. Einige Wochen später kommt er nicht von der Arbeit auf der Baustelle nach Hause. Sie macht sich Sorgen, denn längst drohen die Geheimdienstler den beiden: Es könnte sein, dass er eines Tages zwischen zwei Betonplatten gezwängt werde - wollte sie dann allein ausreisen, lautet die nachgeschobene Frage. Oder es könnte passieren, dass jemand überfahren werde. Schließlich bringen Jugendliche Nicoletas Mann eines Abends nach Hause. Sie haben gesehen, wie er aus einem fahrenden Auto auf die Straße geschleudert worden ist. Er hat eine Kopfwunde, ein ganzes Büschel Haare fehlt ihm. Am nächsten Morgen wartet der Verletzte stundenlang in der Ambulanz, doch kein Arzt ist bereit, ihn zu behandeln. Nicoleta und ihr Mann lassen sich trotz allem nicht einschüchtern. Sie gehen nach wie vor zum Polizeigebäude, um nach dem Stand ihrer Ausreise zu fragen. Dann erhalten sie doch noch einen Audienztermin. Der Vorschlag des Geheimdienstes: Die beiden sollen beim Rumänischen Tourismusamt einen für Ungarn gültigen Reisepass beantragen, alles sei vorbereitet. Die beiden erhalten tatsächlich die Pässe, reisen nach Ungarn, treffen einen Vetter, der sie von Budapest zur österreichischen Grenze fährt. Sie springen kurz vor Kroisbach am Neusiedler See aus dem fahrenden Auto. Es ist 23 Uhr. Nicoleta und ihr Mann robben eine Anhöhe hinauf, schneiden mit einer Zange einen zwei Meter hohen Grenzzaun auf. Dabei durchtrennen sie auch einen Stromkreis und lösen Alarm aus. Sie kommen noch durch einen drei Meter hohen Grenzzaun und erreichen ein Wäldchen. Autos fahren umher; die Grenztruppe ist alarmiert. Die beiden versuchen, sich zu verstecken. Sie lösen eine Leuchtrakete aus. Plötzlich spürt Nicoleta einen Schubs und im nächsten Augenblick eine Kugel an ihrem Kopf vorbeipfeifen. Die ungarischen Grenzer schießen, ohne Warnung. Den Schubs hat ihr Mann ihr instinktiv versetzt und sie wahrscheinlich gerettet. Die beiden verstecken sich. In der Früh durchkämmen ungarische Soldaten das ganze Grenzgebiet. Den beiden bleibt nichts anderes übrig, als sich mit einem weißen Tuch in der Hand zu ergeben. Nach einem Tag Gefängnis in Kroisbach kommen sie nach Raab. Zwei Tage später sind sie in Budapest. Die ungarischen Behörden behandeln sie höflich. Nicoleta teilt die Zelle mit einer Frau aus der DDR. Sie hatte versucht, mit Hilfe eines Freundes aus dem Westen nach Österreich zu gelangen. Sie ist guten Mutes, dass sie auch das Gefängnis in der DDR bald hinter sich haben wird. Sie setzt darauf, dass sie freigekauft wird. Nach zwei Wochen liefern die Ungarn das Hermannstädter Ehepaar mit weiteren vier Flüchtlingen den rumänischen Behörden aus. In Großwardein nimmt der Geheimdienst sie in Empfang. Jeder kommt in ein Zimmer und soll eine Erklärung schreiben. Die Festgenommenen merken bald,

dass die Türen nicht verschlossen sind. Sie gelangen auf den Gang und von dort auf die Straße. Keiner hindert sie daran, das Gebäude zu verlassen. Sie gehen einfach hinaus. Ohne Geld gelangen Nicoleta und ihr Mann nach Hermannstadt. Anfangs verstecken sie sich, dann aber wagen sie sich hervor. Nicoleta trifft einen bekannten Geheimdienstler auf der Post, der ihr sagt, die Securitate stelle keine Ansprüche an sie. Ansprüche stellen aber weiterhin Nicoleta und ihr Mann. Sie gehen wieder regelmäßig zum Passamt vor Dienstbeginn. Schließlich teilen die Geheimdienstler ihnen im April 1983 mit, sie erhielten Pässe, um nach Österreich zu reisen, dürften aber nie wieder zurück nach Rumänien kommen. Sie müssten binnen 24 Stunden ausreisen und mit niemandem darüber sprechen. Über Wien erreichen Nicoleta und ihr Mann Karlsruhe. Sie kann kein einziges Wort Deutsch. Sie wird Asylbewerberin. Ihr Mann, der halber Siebenbürger Sachse ist, aber auch kein Deutsch spricht, wird ebenfalls nicht als Deutscher anerkannt. Der Anfang ist schwer; Nicoleta jobbt fünf Jahre lang. „Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich damals alles rückgängig gemacht“, sagt sie heute. „Doch es gab kein Zurück mehr.“ Nach den fünf Jahren kommt die Wende für Nicoleta. In einer Stellenanzeige wird eine Pharmareferentin gesucht. Sie bekommt die Stelle, nimmt ein Darlehen auf, besucht einen Lehrgang, den sie mit der Pharmareferenten-Prüfung und der Note eins beendet. Inzwischen spricht Nicoleta längst fehlerfrei Deutsch, ist zum zweiten Mal verheiratet und hat eine Tochter. Die fünf schweren Anfangsjahre in Deutschland hat sie fast vergessen. Heute beantwortet Nicoleta Strobl die Frage, als was sie sich denn heute fühle, so: „Ich bin als Rumänin geboren, doch heute fühle ich mich als Deutsche.“

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