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Elf in einem Müllwagen
Von Katharina Rittinger
So, nun befanden wir uns mitten im Hochsommer in diesem übel riechenden Loch eines Müllautos, elf Personen verteilt auf einer Fläche von drei mal zwei Meter. Meine Oma, mit ihren 64 Jahren die älteste in der Flüchtlingsgruppe, und ich, die jüngste mit zwölf Jahren, saßen die meiste Zeit. Die Männer standen. Außer unserer Familie waren noch fünf erwachsene MänSusanna und Katharina Rittinger ner an „Bord“. Wir kannten sie nicht, und wir haben sie bis auf einen auch nicht wieder gesehen. Unsere Familie bestand aus meinen Eltern, meiner drei Jahre älteren Schwester, meiner Oma und ihrem Sohn, meinem Patenonkel, der keine eigene Familie hat, und mir: Barbara Kleemann (1920-1996), Peter Kleemann (Jahrgang 1945), Susanna Rittinger geborene Kleemann (Jahrgang 1949), Stefan Rittinger (Jahrgang 1939), Hannelore Rittinger (Jahrgang 1969) und Katharina Rittinger. In dieses Loch sind wir gegen 22 Uhr von unten hineingekrochen. Nur mühevoll haben wir meine Oma hineingehievt. Wir folgten ihr. Dann wurde die Öffnung zugenietet. Es kam kaum noch Luft in den engen Raum. Wir standen auf einem Parkplatz und mussten noch warten, bis es losging. Um 5 Uhr kam ein Abschleppwagen. Der Müllwagen war angeblich ein Geschenk aus Deutschland für die Türkei. Der Fahrer des Müllwagens, ein Ungar aus Rumänien, hat auf dem Parkplatz bei Arad die Luft aus den Rädern gelassen und eine Panne vorgetäuscht. Ein Abschleppwagen aus Österreich sollte nun das Müllauto zurück nach Deutschland bringen. Der Fahrer des Abschleppwagens, ein Türke, hatte keine Ahnung, dass in dem Müllauto Menschen versteckt sind. Die erste Etappe führte über Ungarn nach Österreich. Bis wir aber auf dem Parkplatz bei Arad eingetroffen waren, verging schon ein aufregender 30. Juni 1984, der für meinen Onkel und meine Schwester schon früh begonnen hatte. Verteilt mussten wir zu unserem Treffpunkt in Temeswar gelangen, damit die Dorfgemeinschaft nichts von unserem Verschwinden mitbekommt - immerhin stand das Haus verlassen da; außer unserem Hund war niemand mehr im Haus Nummer 90 in der Altgasse in Deutsch-Sankt-
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Michael. Unter dem Vorwand, wir wären zu einer Geburtstagsfeier eines ehemaligen Nachbarn in Temeswar eingeladen, zogen meine Oma und ich mittags los. Meine Eltern versorgten die Tiere und stellten dem Hund noch viel Fressen und Wasser hin. Eine Nachbarin kam sogar noch zu Besuch, doch meine Mutter musste sie bitten, zu gehen, weil der Bus bald fahren würde und sie doch auf der Geburtstagsfeier erwartet werde. Wir trafen uns in Temeswar bei einer Tante. Von dort wurden wir dann mit Pkw auf den Parkplatz gebracht. Durch einen Spalt kam der Fahrtwind als frische Morgenluft in unser enges Versteck. Um die Mittagszeit ging der Türke mit dem Fahrer des Abschlepptransporters essen. Sie ließen das Müllauto in der Mittagssonne stehen. Die Luft wurde immer schlechter. Wir dachten, jetzt ist es aus. Ein bisschen Erfrischung hatten wir aus einer kleinen Zitronenflasche, die wir als einzigen Proviant dabeihatten. Wir hatten schon einen Tag vor der Abreise nichts mehr gegessen und getrunken, weil es keine Toilette an „Bord“ gab. Wir standen da und jammerten, doch dann kamen die beiden und fuhren los. Nun ging es uns wieder besser; der Fahrtwind tat uns gut. Die nächste Aufregung gab es, als sich ungarische Grenzer mit Hunden näherten. Wir hörten, wie sie mit Eisenstangen an Autos klopften. Der ungarische Fluchthelfer hatte uns etwas zum Einreiben gegeben, damit die Hunde uns nicht riechen können. Doch welch Wunder, unser Auto kontrollierten sie nur flüchtig. Wahrscheinlich hat Geld das Wunder bewirkt. Unser ungarischer Fluchthelfer hielt uns auf dem laufenden; er informierte uns, sobald wir die ungarische Grenze passiert hatten. Er sagte immer: Allmählich geht es heimwärts. Wir waren schon 24 Stunden unterwegs, als die Fahrer wieder essen gingen. Wir standen und schmorten erneut in der großen Hitze. Das war das zweite Mal, dass wir dachten, wir müssten ersticken. Allmählich wurde es unerträglich. Die Männer beschlossen in der größten Verzweiflung, die Klappe aufzubrechen. Wir taumelten alle wie Mücken heraus. Als der Fluchthelfer kam, fand er uns alle an Bäume angelehnt, fix und fertig. Er gab uns zu trinken. Jetzt ging die Reise weiter mit Pkw. Gleich hinter der österreichischen Grenze hat uns der Fluchthelfer in einem Gasthof in Nickelsdorf untergebracht. Es gab viel zu essen und ein Zimmer zum Übernachten. Die Gastwirte waren alle sehr freundlich. Wir konnten ein Telegramm nach Rumänien schicken und versuchten, den Cousin meiner Mutter in Esslingen telefonisch zu erreichen. Doch der war in Urlaub, wie wir später erfahren sollten. Wir fragten unsere ehemaligen Nachbarn aus Deutsch-Sankt-Michael, Katharina und Jakob Krämer, die inzwischen in München zu Hause waren, ob wir bei ihnen vorläufig unterkommen könnten. Damit haben wir die zweite Etappe unserer Flucht in Richtung Deutschland eingeläutet. Nach zwei Tagen Aufenthalt in dem Gasthof wurden wir mit Pkw zu einem Park in Wien gefahren. Dort mussten wir abermals in das Müllauto,
wieder in das kleine Versteck. Über Linz an der Donau ging es nach München. Jetzt wurde es uns ganz anders zumute, denn das verdaute Essen musste raus, doch es gab keine Toilette. Einer hatte eine gute Tüte dabei, dort kam nun Großes und Kleines rein. Es bildete sich ein unvorstellbarer Gestank in dem engen Raum. Doch Gott sei Dank war diese Fahrt nach zwölf Stunden in München zu Ende. Dort wurden wir auf einem Waldparkplatz aus dem Müllauto gelassen und vom Schlepperboss erwartet. Er forderte von meiner Familie 10 000 Mark Aufschlag zu der Summe, die ausgemacht war, weil für den Transport nicht die gewünschte Personenzahl zusammengekommen war. Die Fluchthelfer wollten in den engen Raum 20 Personen pferchen und über die Grenze nach Deutschland schmuggeln. Meine Mutter wurde ganz wütend und stritt mit ihm unerbittlich. Sie hielt ihm entgegen, dass wir zweimal fast erstickt wären und Todesangst auf der bergigen Fahrt ausgestanden hätten. Zum Schluss gab er sich mit 4000 Mark Zusatzlohn zufrieden. Insgesamt hat meine Familie 54 000 Mark für die Flucht in dem Müllauto bezahlt. Die anderen fünf Männer mussten je 20 000 Mark bezahlen. Mit einem Taxi fuhren wir zu Familie Krämer. Es war der 3. August 1984, ein Freitag. Familie Krämer staunte. Wir waren alle so dreckig und stanken fürchterlich. Zuerst badeten wir und bekamen auch gleich von Familie Krämer und deren Nachbarn neue Kleider. Es war eine große Freude, dass wir es geschafft hatten, Rumänien zu verlassen. An den nächsten zwei Tagen haben wir Verwandte im Umkreis von München besucht, und am Montag, dem 6. August, sind wir zu sechst mit dem Zug nach Nürnberg gefahren. Das war eine wunderschöne Fahrt, weil wir so viel sehen konnten, anders als auf der langen Reise im dunklen Müllauto. Ursprünglich sollte der Ungar mit dem Müllauto schon an Ostern 1984 in Rumänien eintreffen. Doch daraus wurde nichts. Wir hatten vergebens eine brennende Kerze ins Fenster gestellt. Nach unserer Flucht haben die Schlepper noch einen zweiten Transport erfolgreich zu Ende geführt; auf dem dritten sind sie erwischt worden. Die Flucht hat meine Mutter noch eine ganze Weile verfolgt. Ein Jahr lang hat sie immer wieder davon geträumt. Die Verbindung zu den Fluchthelfern hatte eine weitläufige Verwandte in München über eine Nachbarin hergestellt.