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Den Grenzsoldaten eingesperrt

Horst Breitenbach:

Als sich Horst Breitenbach, geboren am 22. Dezember 1962 in Temeswar, zusammen mit seinem Arbeitskollegen Nicu Bădan auf die Flucht begibt, darf schon seit langem kein Deutscher mehr einen Auftrag der Erdölfördergesellschaft an der serbischen Grenze ausführen. Denn zu viele Mitarbeiter sind inzwischen über die Grenze gegangen. Dazu gehört auch einer, der sich selbst einen Zutrittsschein ausgestellt hat, in einem Augenblick, als das Büro des Dienststellenleiters unbesetzt war. Er gelangt mit einem Firmenwagen an die Grenze, wartet so lange ab, bis der Grenzer so positioniert ist, dass er nicht schießen darf. Und zwar gilt das Schießverbot, wenn die Gefahr besteht, dass eine Kugel serbisches Territorium erreicht. Als der Soldat und der Flüchtling eine gedachte Senkrechte zur serbischen Grenze bilden, beginnt die Flucht. Der Flüchtende soll den Soldaten sogar eingeladen haben, mitzukommen, doch diesen Mut bringt der Uniformierte nicht auf. Er bleibt zurück, der Flüchtende verspottet ihn. Als Rumäne hat Bădan eine Arbeitserlaubnis für die Erdölfelder erhalten. Er ist Lkw-Fahrer und versteckt am 21. Januar 1985 Horst Breitenbach in der Kabine und nimmt ihn mit zu einer Sonde in der Nähe von Hatzfeld. Die beiden passieren die Kontrollen und stellen das Auto an der Sonde ab. In der Mittagszeit laden sie den Soldaten, der in der Nähe als Bewachung Posten bezogen hat, in eine Baracke zum Mittagessen ein. Rumänische Soldaten sind in der Zeit des Kommunismus stets hungrig, sie bekommen nie satt zu essen. Der Soldat nimmt die Einladung an, aber Breitenbach und Bădan überrumpeln ihn. Sie geben vor, die Beutel mit dem Essen aus dem Auto zu holen. Der Soldat lässt sie gehen. Sobald die beiden die Baracke verlassen haben, verriegeln sie die Tür von außen und laufen in Richtung Serbien. Dem betrogenen Grenzer gelingt es, durch ein eingeschlagenes Fenster ins Freie zu kommen, doch es ist ihm verboten, auf die beiden Flüchtenden zu schießen, weil die Kugeln aus seiner Kalaschnikow serbisches Territorium erreicht hätten. Er gibt ein paar Salven in die Luft ab. Breitenbach und Bădan haben die 40 Meter, die sie von Serbien trennen, kaum hinter sich gelassen und den ersten Ort in Jugoslawien erreicht, da setzen serbische Polizisten die beiden schon fest. Sie müssen 20 Tage im Gefängnis von Großbetschkerek absitzen und werden danach ins UNO-Lager von Padinska Skela verlegt. Sie erreichen Jugoslawien zu einer Zeit, als die UNO-Dienststelle den eingetroffenen Flüchtlingen Ausweise ausstellt. Sie sind Freigänger, mit dem ausgestellten UNO-Ausweis können die Inhaber sogar die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos benutzen.

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Ein UNO-Büro in Belgrad hat in den 1980er Jahren Flüchtlingen aus Rumänien zeitweilig gültige Ausweise ausgestellt. Hier ist der von Horst Breitenbach zu sehen.

Diese Situation hält aber nicht lange an, denn es kommt anscheinend zu Diebstählen, da die Flüchtlinge mittellos und lediglich von dem leben, was ihnen die

UNO im Lager zur Verfügung stellt. Das ist nicht viel mehr als das Essen. Die jugoslawischen Behörden dulden die Übergriffe nicht mehr, es gibt keine Freigänger mehr. Horst Breitenbach verlässt Padinska Skela nach drei Tagen in Richtung Deutschland. Nicu Bădan wartet neun Monate lang, bis er die Einreiseerlaubnis nach Schweden erhält, wo er heute zu Hause ist. Horst Breitenbach gelangt über Nürnberg und das rheinland-pfälzische Osthofen nach Frankenthal. Den Weg dorthin ebnet ihm Horst Pritz, sein Patenonkel.

Horst Breitenbach, der aus Billed im Banat stammt, hat seinen Platz in der neuen Heimat gefunden, er arbeitet heute als Fahrer.

Josef Varga:

Ein großzügiger Grenzoffizier

Probieren geht über Studieren. Das haben sich Ende September 1985 Josef Varga und ein Freund in Temeswar gedacht. Sie sind in der Banater Hauptstadt mit dem Auto gestartet, um über Ungarn in den Westen zu flüchten. Der am 27. April 1957 geborene Josef Varga will schon seit seiner Jugendzeit dem Kommunismus den Rücken kehren. Doch das ist für jemanden, der im kommunistischen Rumänien eingesperrt ist, keine leichte Aufgabe. Schon als Kind lernt er in der westlich geprägten Stadt Temeswar unterscheiden, was Propaganda und was Wahrheit ist. Er sieht Westtouristen, er beginnt die Josef Varga Musik zu hören, die aus dem Westen kommt. Josef Varga ist Ungar und hat eine zehn Jahre jüngere Schwester. Sein Vater kommt bei einem Unfall ums Leben, die Mutter erzieht die beiden Kinder allein. Der Wunsch, so zu leben, wie es andere können, wächst im Laufe der Jahre. Josef Varga möchte die ideologische Zwangsjacke abstreifen. Er bekommt mit, wie einige seiner deutschen Nachbarn in dem inzwischen der Banater Hauptstadt Temeswar angeschlossenen Freidorf zu flüchten versuchen. Die Mutter warnt ihn, er solle ihr nicht so etwas antun. Die politische Linie, die die Lehrer am Gymnasium und Redakteure in der Presse vertreten müssen, sagen ihm immer weniger zu. Das stundenlange Warten auf das Staatsoberhaupt, wenn wieder einmal einer der vielen Arbeitsbesuche angesagt ist, hängt ihm zum Hals heraus. Er möchte die Heuchelei abschütteln. Weil er sich aber auf kein Abenteuer einlassen will, muss er Geduld haben. Nach dem Fachabitur studiert Josef Varga Lokomotiven- und Waggonbau am Polytechnikum in Temeswar, heiratet eine Deutsche aus Freidorf. Varga spricht kein Deutsch, aber seine Frau Ariane (geboren am 15. November 1959) kann wie die meisten Deutschen in dieser Stadt Ungarisch, das die Umgangssprache in der neugegründeten Familie sein wird bis zur Familienzusammenführung in Deutschland. 1985 stellen die Vargas zusammen mit einer befreundeten deutschen Familie Anträge auf Besucherpässe. Sie wollen eine vom Rumänischen Automobilklub angebotene Reise mit dem Auto in die DDR unternehmen. Die beiden Männer bekommen Pässe, den beiden Frauen werden sie verweigert. Josef Varga und

sein Freund fahren allein los. Sie weichen von der vorgegebenen Route ab und besuchen Verwandte Vargas in Budapest. Die raten den beiden, einfach an die österreichische Grenze zu fahren und zu sagen, sie wollten Verwandte in Wien besuchen. Auf dem Weg nach Nickelsdorf an der österreichischen Grenze treffen sie auf einem Parkplatz ein rumänisches Ehepaar, das nach Wien will und die beiden nach dem Wohin fragt. Varga und sein Freund sagen, sie wollten nach Preßburg. Die beiden fühlen sich in der Zwickmühle. Sie wollen den beiden nicht an der ungarisch-österreichischen Grenze begegnen. Deshalb beschließen sie, so rasch wie möglich zu fahren, um die beiden abzuschütteln. An der Grenze bei Straßsommerrain angekommen, geben sie ihre Pässe einem ungarischen Soldaten. Der sieht sie sich an und verschwindet in einem Büro. Nach etwa 30 Minuten kommen drei Offiziere aus dem Raum, der eine mit den Pässen in der Hand. Er fragt, wohin die beiden wollen, und bekommt als Antwort die Lüge mit den Verwandten in Wien zu hören. Wieso sie denn keine Visa in den Pässen hätten, will der Offizier wissen. Varga antwortet, weil das Staatsoberhaupt ihnen keine gewährt. Darauf sagt der Offizier locker: „Dann erteile ich sie euch“. Im nächsten Atemzug fügt er hinzu: „Ist es nicht so, dass ihr nicht mehr zurückkommt?“ Leugnen hat in diesem Fall keinen Sinn. Varga sagt dem Offizier: „Ich werde Sie nie vergessen“. Der Rest ist einfach: Die Schranke öffnet sich, Josef Varga umfährt den Wassergraben, er könnte vor Freude schreien. Sein Freund hingegen ist weniger begeistert. Wegen der fehlenden Visa gibt es keine Probleme auf österreichischer Seite, jedoch wegen der Autoversicherung. Der österreichische Beamte ist freundlich und meint, die beiden könnten das Auto stehen lassen oder eine Versicherung im Büro nebenan abschließen. Die Versicherung kostet 1200 Schilling, doch Varga und sein Freund haben nur 800. Der freundliche Beamte hilft erneut weiter: Er rät den beiden, zu warten, bis ein Landsmann komme, dann sollten sie sich das fehlende Geld borgen. Nach zehn Minuten kommt tatsächlich ein Rumäne vorgefahren. Der hat nur einen 100-Dollar-Schein. Auf Vargas Vorschlag wechselt der die 100 Dollar und borgt ihm 20 davon. Als Garantie überlässt Varga ihm seinen Pass. Varga will ihm das Geld in München zurückgeben, denn dort hat er Freunde. Varga schließt die Versicherung ab und darf weiterfahren. Der Mann, der ihm das Geld geborgt hat, fährt hinter ihm her. Vor Salzburg eine neue Hürde: Varga geht das Benzin aus. Der Rumäne, der das Auto mit Benzinkanistern voll bepackt hat, hilft erneut aus. Zusammen erreichen sie Salzburg. Es ist der 30. September 1985. Varga versucht vergebens, einen seiner Freunde in München telefonisch zu erreichen. Der freundliche Helfer nimmt auf dem Parkplatz eine Schnapsflasche heraus und bittet Varga und dessen Freund, einen Schluck zu nehmen. Während sie trinken und auf ihr Wohl anstoßen, fragt der freundliche Helfer, wieso Varga eigentlich kein Benzin dabei hat. Varga lässt jetzt die Katze

aus dem Sack: Er teilt dem Helfer mit, dass sie eigentlich nicht mehr heimkehren werden. Vor Schreck wirft der Helfer den Schnaps um, weiß nicht mehr, was er sagen soll; er stammelt nur noch etwas von müde und von schlafen legen. Im nächsten Augenblick ist er in seinem Auto verschwunden. Gegen Mitternacht erreicht Varga einen der Freunde in München telefonisch. Der macht sich auf den Weg nach Salzburg. Er zahlt dem freundlichen Helfer das Dreifache dessen, was er Varga an Geld und Benzin zur Verfügung gestellt hat. Varga tankt; mit seinem Auto und dem des Freundes aus München geht es an die österreichisch-deutsche Grenze. Auch der deutsche Beamte fordert eine gültige Versicherung für den rumänischen Wagen, außerdem lässt er Varga und seinen Freund wegen fehlender Visa nicht einreisen. Sie fahren nach Salzburg zurück, lassen den rumänischen Wagen stehen und fahren mit dem VW des Freundes zurück in Richtung Deutschland. Zufällig gelangen sie an den Übergang Freilassing und werden über die Grenze gewinkt. Es ist der 1. Oktober 1985. Die Zeiger der Uhr stehen auf vier. Josef Varga ist überglücklich, er lässt sich den Kognak schmecken, den er aus Temeswar mitgebracht hat. Als sie in der Münchner Wohnung ankommen, hat er einen Rausch, aus dem er erst gegen Abend erwacht. Er telefoniert nach Temeswar und erfährt, dass eben seine Tochter Christiane geboren worden ist. Varga muss als Ungar einen Asylantrag stellen; sein mit ihm geflüchteter Freund wird als Spätaussiedler anerkannt. Varga kommt bei Bekannten seiner Schwiegereltern in Ulm unter. Er ist Sozialhilfeempfänger, hat Arbeitsverbot und darf Ulm nicht verlassen. Er beginnt Deutsch zu lernen und kommt als Putzkraft bei der US-Armee unter. Nach zweieinhalb Jahren wird sein Asylantrag abgelehnt, doch er wird geduldet und darf in Deutschland bleiben. Der Anfang in Deutschland ist schwierig, doch das Gefühl, dass schließlich alles gut wird, lässt ihn immer wieder hoffen. Auch sein Glaube, sein Vertrauen in Gottes Kraft, richtet ihn stets auf. Varga zahlt in Rumänien 10 000 Mark Bestechungsgeld, damit seine Frau mit der Tochter ausreisen darf. Mittelsmann ist der im Banat allbekannte Gärtner. Weil sich alles in die Länge zieht und seine Frau den Pass nicht bekommt, entschließt sich Varga zu einem Interview mit dem Radiosender „Freies Europa“. Er informiert seine Frau telefonisch davon. Kurz nach dem Telefongespräch ist die rumänische Polizei bei seiner Frau, um ihr mitzuteilen, sie könne den Pass abholen. „Radio Freies Europa“ stoppt auf Vargas Wunsch die Sendung. Varga arbeitet inzwischen als Monteur und fährt am 31. Dezember 1988 nach Frankfurt am Main, um Frau und Tochter abzuholen. Er ist mit einem Firmenwagen unterwegs. In seiner Abwesenheit bereiten sein Chef und seine Arbeitskollegen einen gebührenden Empfang vor. Doch Varga kehrt am Abend nicht heim, weil seine Frau nicht in der rumänischen Maschine war, die am Silvestertag in Frankfurt gelandet ist. Schließlich erfährt Varga, dass das Flugzeug, das

in Bukarest gestartet war, wegen Nebels nicht in Temeswar zwischenlanden konnte. Varga bleibt in Frankfurt und wartet auf die Maschine, die am 1. Januar 1989 aus Rumänien ankommen soll. Diesmal sind Frau und Tochter unter den Passagieren. Inzwischen weiß auch Vargas Chef, dass alles gut ausgegangen ist. Er zieht seine Vermisstenmeldung bei der Polizei zurück. Nach ein paar Jahren schult Varga um. Er wird EDV-Fachmann und steigt bei der Firma Kögel ein, die in Burgenbach bei Günzburg ansässig ist und Sattelanhänger herstellt.

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