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Einleitung
Flucht ist ein Thema, das viele Schriftsteller beschäftigt, die die kommunistische Diktatur in Rumänien erlebt haben, vor allem solche, die das Land davor legal oder illegal verlassen haben. Aber keiner unter ihnen schildert das tragische Geschehen an der rumänischen Westgrenze so geballt, und trotzdem so vollkommen und treffend wie die Nobelpreisträgerin Herta Müller. Die preisgekrönte Schriftstellerin hat als junge Frau mitbekommen, was an der „blutigsten Grenze Europas“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende der 1980er Jahre die rumänische Westgrenze genannt hat, geschehen ist. In ihrem 2007 erschienenen Roman „Herztier“ schreibt sie: „Alle lebten von Fluchtgedanken. Sie wollten durch die Donau schwimmen, bis das Wasser Ausland wird. Dem Mais nachrennen, bis der Boden Ausland wird. Man sah es ihren Augen an: Sie werden sich bald, für alles Geld, das sie haben, Geländekarten von Landvermessern kaufen. Sie hoffen auf Nebeltage im Feld und im Fluss, um den Kugeln und Hunden der Wächter zu entgehen, um wegzulaufen und wegzuschwimmen.“
Welche Stimmung im Rumänien der 1970er und 1980er Jahre herrschte, sagt Herta Müller mit diesen Worten: „Nur der Diktator und seine Wächter wollten nicht fliehen. Man sah es ihren Augen, Händen, Lippen an: Sie werden heute noch und morgen wieder Friedhöfe machen mit Hunden und Kugeln. Aber auch mit dem Gürtel, mit der Nuss, mit dem Fenster und mit dem Strick.“
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Wie gefährlich es war, über die Grenze zu gehen, sagen folgende Zeilen: „Jede Flucht war ein Angebot an den Tod… Jede zweite Flucht scheiterte an den Hunden und Kugeln der Wächter.
Das fließende Wasser, die fahrenden Güterzüge, die stehenden Felder waren Todesstrecken. Im Maisfeld fanden Bauern beim Ernten zusammengedorrte oder aufgeplatzte, von Krähen leergepickte Leichen. Die Bauern brachen den Mais und ließen die Leichen liegen, weil es besser war, sie nicht zu sehen. Im Spätherbst ackerten die Traktoren.“
In ihrem Buch „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ vervollständigt Herta Müller das Bild, wenn sie schreibt: „Was suchen die Polizisten, was suchen die Hunde, fragt Adina… Sie bringen jede Nacht Verletzte von der Grenze, sagt er, die meisten sind tot…“
Etwas weiter fährt sie fort: „Neben der Leichenhalle ist eine Werkstatt, sagt Paul, dort werden die Särge zugeschweißt und mit Polizeiwache nach Hause geschickt. Da schaut niemand mehr rein, sagt Paul.“
Die Aufzählung all dessen, was einen Flüchtenden erwarten konnte, zeigt, wie verzweifelt mancher im kommunistischen Rumänien war. Denn wer geht schon gerne in die Fremde? Das fragt der Banater Schriftsteller Adam Müller Guttenbrunn schon Jahrzehnte vor der Instauration des Kommunismus in senem Werk
„Das Idyllische Jahr. Ein Sommerbuch“: „Wer sich einmal ein Nest gebaut hat, verlässt es nicht leichten Herzens. Da muss es irgendeinen Ruck gegeben haben, irgendein kleines Erdbeben im seelischen oder im wirtschaftlichen Leben. Wer sich wohlfühlt in seinem Heim, zieht nicht um; aus Übermut oder aus Vergnügen an der Ortsveränderung wechselt kein Mensch seine Wohnung.“
Der Siebenbürger Sachse Bernhard Ohsam (1926-2001) beschreibt in seinem Roman „Eine Handvoll Machorka“ seine Flucht aus einem Arbeitslager in der Sowjetunion und anschließend die Flucht aus Rumänien nach Österreich.
Constantin Virgil Gheorghius Roman „Die zweite Chance“ setzt in der Vorkriegszeit ein. Sein Hauptheld erlebt nach der Flucht aus Rumänien das Lagerleben in Ungarn und Deutschland, erst bei den Nazis, anschließend bei den amerikanischen Besatzern. Dem Haupthelden folgen mit dem Nahen der Front weitere Flüchtlinge, und der Dorfpriester wird traurig, denn er weiß, „wenn die Bauern fortgehen und ihre Häuser verlassen, wird alles in eine Traurigkeit gehüllt, die tiefer ist als die um den Tod eines Menschen. Ihre Häuser gehen in der Finsternis zugrunde.“ Was Gheorghiu vorausgesagt hat, ist im Banat eingetroffen: Die Häuser der Deutschen, die illegal oder legal das Land verlassen haben, gehen zugrunde und mit ihnen so manches Dorf.
Gheorghiu erkennt schon in den 1950er Jahren, dass der Kommunismus nichts taugt und schreibt: „Wenn der Bauer seine Erde verlässt, wird das Samenkorn, das er gesät hat, traurig, denn niemand wird kommen, um die Ähren zu ernten. Wenn der Landmann fortgeht, betrübt sich das Gras, weil er es nie mehr mähen wird. Die Kuh und der Ochse sind traurig und auch das Pferd, weil sie auf Wasser und auf Nahrung warten. Wenn der Bauer geht, sind die Vögel des Himmels traurig, denn sie können nicht mehr die Samenkörner in den Furchen aufpicken. Der Regen, der die Felder benetzt, wird so traurig wie der Tau der Nächte. Wenn der Bauer seinen Acker und sein Dorf verlässt, wird die ganze Erde traurig. Das ganze Weltall.“
Gheorghius Hauptheld nennt die Ursachen für die Flucht nach Westen, die nach ihm noch Zehntausende antreten werden: „Der Westen hat die Hälfte Europas an die Sowjets verkauft, damit ihm wenigstens gestattet wird, zu leben. Die Menschen der Länder, die an die Russen verkauft wurden, fliehen in den Westen, um dem Tod und dem Terror zu entgehen. Der Westen ist die zweite Chance für jeden Einwohner der Länder, die von den Russen besetzt wurden.“
Einer anderen Person legt er folgendes in den Mund: „Diese asiatischen Bestien verüben grässliche Verbrechen. Die Sowjets sind die blutdürstigsten Mörder, die je auf der Erde gelebt haben. Im Vergleich mit ihnen war DschingisKhan ein Engel. Die Kommunisten wenden im Leben, am lebenden Menschen, die Prinzipien an, die ich in der Kunst anwende. Sie glauben, es sei erlaubt, dem lebendigen Fleisch das anzutun, was man dem Stein antun darf. Der Mensch lässt sich nicht formen wie der Stein, das Holz und der Marmor. Der Mensch ist
in sich vollkommen. Wenn du dem menschlichen Geschöpf etwas raubst, so wird es verstümmelt. Die Kommunisten wollen aus dem Leben des Menschen die Gefühle, den Egoismus, die Instinkte, die Vorurteile, die Illusionen entfernen. Das Ergebnis ist, dass überall, wo die Sowjets hinkommen, sie nur Kadaver hinterlassen. Niemals kann eine kommunistische Gesellschaft erschaffen werden. Das Leben bedarf der Irrtümer, der Mystik, der Geheimnisse. Wenn du die Irrtümer der Menschen ausrottest, so rottest du den Menschen selbst aus.“ Und er schließt mit einem im Roman verstümmelten Schiller-Zitat, das korrekt folgendermaßen lautet: „Nur der Irrtum ist das Leben, und das Wissen ist der Tod.“
Flucht als einziger Ausweg
Für den siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller Dietfried Zink, der fast alle nur denkbaren Fluchtarten beschreibt, steht fest: „Wenn ein Mensch flieht, dann weiß er auch, warum und vor wem oder vor was. Und er glaubt zu wissen, dass die Flucht sein einziger Ausweg ist, um in Freiheit zu überleben. Er flüchtet aus einer Gefangenschaft, in der er seiner Bewegungsfreiheit völlig beraubt und als Mensch regelrecht entwürdigt ist. Niemand flieht um der Flucht willen“, schreibt er in „Für einen Fingerhut Freiheit“.
Der Roman ist die Geschichte einer Flucht aus Siebenbürgen in die Freiheit des Westens. Aus Zinks Buch spricht Erfahrung: „Jeder, der sich aus dem Staub macht, hat einen bestimmten Fluchtplan. Er steuert sein Ziel an, ungeachtet dessen, dass sein Weg ihn ins Ungewisse führt. Und je genauer ein Fluchtplan vorbereitet wurde, desto größer sind auch die Chancen seines Gelingens. Allerdings muss man bei jeder Flucht mit dem Zufall rechnen. Dieser kann eine Flucht begünstigen oder aber auch zerschlagen, und man ist letzten Endes doch immer dem Zufall ausgeliefert.“
Flucht ist ein Thema, das auch der Banater Schriftsteller Franz Heinz in der Erzählung „Lieb Heimatland, ade!“ behandelt. Er beschreibt, wie der Siebenbürger Sachse Joss, in einem Fernlastkraftwagen versteckt, nach Deutschland gelangt. Der Autor schildert auch, wie solche Geschäfte abgewickelt wurden: „Zehntausend Deutsche Mark hatte er kassiert, schweigend und fast verächtlich eingesteckt in die Jackentasche, ohne nachzuzählen. Ein Metzgermeister aus Mülheim an der Ruhr war dafür aufgekommen, hatte den Briefumschlag einem wildfremden Menschen in der Essener Münsterkirche ausgehändigt, dritte Bank rechts, ihm wortlos das Geld zugeschoben, hatte kurz und ein einziges Mal dem lieben Gott zugenickt, der gerade nicht anwesend war.“
Die Flucht, die Heinz beschreibt, ist eine vergleichsweise einfache, die folgendermaßen endet: „»Bist du noch am Leben?« Der Fahrer klopfte mit einem Schraubenschlüssel an die Blechwand. Es war am dritten Tag seit ihrer Abreise
aus Siebenbürgen… auf einem Parkplatz in Fürstenfeldbruck.“ Florescu, Schweizer Romancier mit rumänischen Wurzeln, lässt das Thema Flucht gleich in mehreren Werken anklingen: in „Wunderzeit“, „Der blinde Masseur“ und in „Zaira“. In „Wunderzeit“ erzählt er von der Flucht mit den Eltern in die Schweiz. In den beiden anderen Romanen beschreibt er die Flucht von Verwandten, doch die Narration ist nach Angaben des Autors mit Fiktion durchsetzt.
Wie an der serbischen Grenze gestorben wurde, deutet auch Johann Lippet aus dem Banat in seinem Roman „Die Tür zur hinteren Küche“ an: „Offiziell war Kurt Lehnert durch einen Unfall ums Leben gekommen, vom Traktor überrollt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit war er mit dem Traktor der Kollektivwirtschaft losgefahren, um den Hubers eine Fuhre Rübenblätter für die Kuh zu holen. Die Zuckerrübenfelder der LPG lagen an der Grenze zu Jugoslawien, es war Spätherbst. Der vorgerückte Grenzsoldat auf seinem Pferd stoppte den Traktor mit vorgehaltener Maschinenpistole. Er begleitete Kurt, den er kannte, bis ins abgeerntete Zuckerrübenfeld und verabschiedete sich, nachdem sie eine Zigarette geraucht hatten. Man fand Kurt Lehnert unter den Rädern des Traktors auf dem Grenzstreifen“. „In den Fängen der Securitate“ heißt das Erinnerungsbuch des aus Sanktanna nördlich von Arad stammenden Johann Kappes, auf dessen Konto zwei Fluchtversuche gehen, die er mit Gefängnisstrafen gebüßt hat. Im berüchtigten Gefängnis von Straßburg am Mieresch (Aiud) hat Kappes gescheiterte Grenzgänger als Zellengenossen gehabt. Es hieß, dass von den 3.000 Gefangenen an die 500 Grenzflüchtige gewesen seien.
Im Roman „Der Tanz in Ketten“ schneidet auch der im Burzenland/Siebenbürgen geborene Hans Bergel das Thema Flucht an.
Auch der aus Großsanktnikolaus im Banat stammende Soziologie-Professor Dr. Anton Sterbling hat Erfahrungen gesammelt an der rumänischen Westgrenze. Als 17jähriger war er Anfang der 1970er Jahre wegen eines Fluchtversuchs eingekerkert worden. In seinem Band ,,Suchpfade und Wegspuren“ nennt er den von den Richtern als Fluchtversuch eingestuften Spaziergang zur Grenze eine Provokation. Nach drei Monaten kann er das Gefängnis verlassen, und der Geheimdienst Securitate lässt ihn nach Deutschland ausreisen, um ihn loszuwerden.
Im Mai 1995, 15 Jahre später, besucht er erstmals Rumänien, um einen Vor d gegen seine Heimat, das Banat, um Emotionen zu verhindern. In Jassy kommt er mit dem Hausmeister des Gästehauses der Universität ins Gespräch. Der junge Mann staunt, dass Sterbling so gut Rumänisch spricht. Nachdem Sterbling ihm erklärt hat, dass er aus dem Banat stammt, sagt ihm der junge Moldauer, ohne sich etwas dabei zu denken, dass er seinen Militärdienst bei der Grenztruppe im Ba-
nat geleistet habe. Als er hinzufügt, das sei 1986/87 gewesen, beendet Sterbling das Gespräch. „Ich nehme an, dass es meinem Gesprächspartner nicht aufgegangen ist, dass es mit dieser Auskunft zusammenhing, dass meine Freundlichkeit und Gesprächsbereitschaft plötzlich verschwunden waren.“
Die Flucht über die Staatsgrenzen ist keineswegs ein Phänomen, das erst mit dem Kommunismus aufgetreten ist. Schon vor und während des Zweiten Weltkriegs sind Menschen illegal über die Grenzen geflohen, manche, um dem Konzentrationslager zu entgehen, andere wieder, weil sie nicht an die Front wollten. Zum Kriegsende ist es zur Massenflucht vor der Front gekommen. Gegen Ende der 1940er Jahre sahen sich die Kommunisten genötigt, die Grenzen besser zu sichern, weil immer mehr Menschen dem neuen Regime durch Flucht den Rücken kehren wollten.
Wer bis Ende der 1940er Jahre versucht hat, über Jugoslawien in den Westen zu fliehen, ist in Titos Konzentrationslager gekommen und hat, falls er nicht ausgeliefert wurde, dort den Tod gefunden. In den Nachkriegsjahren hat es auch eine Fluchtbewegung von Jugoslawien über Rumänien in den Westen gegeben. Geflüchtet sind in jener Zeit vor allem Banater Deutsche aus den von TitoPartisanen eingerichteten Arbeits- und Vernichtunsglagern. Bis zur Schließung der jugoslawischen Lager 1948 ist nach Ermittlungen der Donauschwäbischen Kulturstiftung in München 35.000 bis 40.000 Insassen die Flucht über die relativ nahen Grenzen nach Rumänien oder Ungarn gelungen, von dort weiter nach Österreich und Deutschland.
Das Elend in diesen Lagern und die Flucht beschreibt Reinhold Wehner aus Heufeld (Novi Kozarci) im serbischen Teil des Banats in dem Buch „Vom Himmel zur Hölle und zurück”. Wehner flieht als 15jähriger mit zwei gleichaltrigen Mitgefangenen im Mai 1947 über die rumänische Grenze nach Hatzfeld (Jimbolia). Verwandte in Marienfeld (Teremia Mare) bringen ihn vorübergehend im benachbarten Nero (Ner aus jugoslawischer Gefangenschaft entkommenen deutschen Soldaten macht sich Wehner im Oktober 1947 auf den Weg westwärts. Auf Nebenwegen erreichen die drei die 30 Kilometer entfernte ungarische Grenze. Mit Glück und Hilfe gelangen sie schließlich nach Österreich.
Von den rund 540.000 Jugoslawien-Deutschen waren beim Einmarsch der Sowjetarmee und der Tito-Partisanen im Herbst 1944 noch etwa 200.000 Zivilpersonen im Land. Rund 245.000 Zivilisten waren vorher geflüchtet oder evakuiert worden. 95.000 deutsche Männer waren als Soldaten irgendwo im Kriegseinsatz. Gleich nach dem Einmarsch in die einzelnen Ortschaften setzte das Morden der Partisanen ein. Erstes Ziel: Die deutschen Männer sollten ausgerottet werden, teils durch mobile Kommandos, teils in regionalen Liquidierungslagern. Weil fast alle wehrfähigen Männer an der Front oder in Kriegsgefangenschaft waren, wurden alte, junge und wehrunfähige Männer Opfer der unvorstellbar grausamen Mordor-
gien. In diesem „blutigen Herbst 1944“ haben die Tito-Partisanen rund 10.000 Deutsche umgebracht. Um die Jahreswende 1944/1945 wurden 12.000 Deutsche aus dem Westbanat und der Batschka zur Zwangsarbeit in sowjetische Lager verschleppt. Von den 8.000 Frauen und 4.000 Männern sind 2.000 an Unterernährung und Krankheiten gestorben.
Von den 170.000 Zivilisten, die ab 1945 in Lager geworfen wurden, fielen etwa die Hälfte, also 85.000, in die Kategorie „arbeitsunfähig“; das waren Kinder unter zehn Jahren, Mütter mit Kleinkindern unter zwei Jahren, Alte und Kranke. Die Hälfte davon, rund 42.500, ist ums Leben gekommen. Wie Herbert Prokle in seinem Buch „Der Weg der deutschen Minderheit Jugoslawiens nach Auflösung der Lager 1948“ festhält, sind von den 85.000 internierten Arbeitsfähigen rund zehn Prozent gestorben, das sind rund 8.500 Menschen. Die Gesamtzahl der Lagertoten beträgt demnach 51.000, das sind, bezogen auf die Gesamtzahl der Internierten, 30 Prozent unschuldige Tote innerhalb von drei Jahren. Wie die Donauschwäbische Kulturstiftung ferner ermittelt hat, wurden rund 8.000 in Mischehen Lebende oder aktive Kommunisten verschont.
Wie aus dem zweibändigen wissenschaftlichen Werk „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen“ hervorgeht, sind in Jugoslawien nach der Einnahme Belgrads im Oktober 1944 bei der bedingungslosen Kapitulation und auf den anschließenden „Sühnemärschen“ 1945 und in den Kriegsgefangenenlagern mehr als 80.000 Soldaten ums Leben gekommen.
Der Schutz der Staatsgrenzen ist keine Erfindung der Neuzeit. Sie wurden schon in den entferntesten Zeiten zur Notwendigkeit. Der Grenzschutz hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, bis er die heutige Organisationsform erreicht hat. Eines ist aber gleich geblieben: Die Grenzer hatten immer dieselbe Mission, die Staatsgrenze im Frieden zu schützen und illegalen Aktionen gegen die innere Sicherheit vorzubeugen, im Kriegsfall aber mussten sie neben den anderen Kampfeinheiten das Land verteidigen.
In Rumänien - es nahm damals schon am Krieg teil - wurden die Polizeistationen an den Grenzen am 23. Januar 1941 per Gesetz der Armee unterstellt. Am 1. Januar 1946 wurde das Kommando der Grenztruppen gegründet, das in drei Brigaden, einen Ausbildungsstützpunkt und eine Flottille eingeteilt war. Die Brigade setzte sich aus zwei Regimentern zusammen, die Regimenter bestanden aus zwei Bataillonen. Die Instruktion Nummer 28.860 vom 8. März 1947 sah vor, dass Polizei-Spezialeinheiten das Grenzland zu überwachen und kontrollieren hatten, um die zahlreichen Grenzübertritte einzudämmen.
Am 21. Juni 1947 wurde dem Verteidigungsministerium das Kommando über die Grenztruppen zu Gunsten des Innenministeriums entzogen. Ihre Mission blieb dieselbe: die Überwachung und Verteidigung der Landesgrenzen. In der Grenzzone mussten die Grenzer allgemeine Polizeiaufgaben übernehmen. 1948 wurde der dem Innenministerium unterstellte Grenzpass- und Grenzpo-
lizeidienst gegründet. Ein Jahr später haben die Grenztruppen die Kontrolle der Grenzübergänge übernommen. Mit dem 24. Februar 1948 wurde die Aufsicht an den Landesgrenzen verschärft. Die Grenztruppen hatten jetzt nicht nur die Grenze, sondern auch einen 25 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zu überwachen und zu kontrollieren. Mit der Instauration des Kommunismus 1944 bis zum Umsturz 1989 wurden die Grenztruppen in das sogenannte Verteidigungssystem integriert. Am 22. Januar 1949 ist die Miliz gegründet, gleichzeitig aber sind Polizei und Gendarmerie aufgelöst worden. Am 16. März 1949 haben unter dem Namen Securitate die Geheimdiensttruppen ihr Werk begonnen. Durch einen Beschlusss des Ministerrats vom 11. Juli 1956 ist das Innenministerium neu geordnet worden: in das Securitate-Department und in ein zweites, zuständig für innere Angelegenheiten. Zur Direktion des Sicherheitsdienstes gehörten die Securitate-, die Grenz- und die Wachtruppen. Am 20. Februar 1960 wurden die Grenztruppen dem Verteidigungsministerium unterstellt, wobei die Grenztruppen weiterhin die Grenzübergänge kontrollierten.
Am 26. Mai 1964 hat wieder das Innenministerium die Grenzkontrolle übernommen. Das Dekret 14 von 1972 gibt vor, dass die Überwachung und der Schutz der Staatsgrenze Sache des gesamten Volkes ist; dazu arbeiteten die Grenztruppen mit den anderen Kommandos des Verteidigungs- und des Innenministeriums sowie mit den Exekutivkomitees der Volksräte zusammen. Ferner bauten die Grenztruppen auf die Unterstützung der Gemeindewachdienste und auf den „freiwilligen Beitrag” der Bürger, das heißt: auf Verräter.
Ein Grund für die Flucht aus dem Einflussgebiet Stalins war Ende der 1940er Jahre in den nach dem Krieg besetzten Ländern auch die Zerstörung der politischen Gegner der Kommunisten und die Unterdrückung jedes Andersdenkenden. Wie Romulus Rusan in seiner „Chronologie und Geografie der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien. Zählung der zwangsinternierten Bevölkerung (1945-1989)“ schreibt, waren die Verhaftungen der Mitglieder von Oppositionsparteien ein Akt erster Entwurzelung, so wurde das, was in der Zeitspanne von 1947 bis 1948 geschah, zum endgültigen Kahlschlag unter den politischen Eliten Rumäniens.
Parteiführer auf Flughafen verhaftet
Am 14. Juli 1947 kam es auf dem kleinen Flughafen T Bukarest zur Verhaftung einiger herausragender Mitglieder der Opposition, der Nationalen Bauernpartei, die in den Westen fliehen wollten. Die Partei, wegen ihres Widerstands gegen das Regime von diesem am meisten gefürchtet, wurde nach einer Verlautbarung des Ministerrats umgehend für ungesetzlich erklärt und der ganze Führungsstab festgenommen. Im Oktober und November wurde gegen „die Bande der Nationalen Bauernpartei“ ein Prozess inszeniert. Iuliu
Maniu und Ion Mihalache wurden wegen „Hochverrats“ zu lebenslänglichem schweren Kerker, ihre engsten Mitarbeiter zu anderen Höchststrafen verurteilt. Iuliu Maniu, Ion Mihalache und Victor R -Pogoneanu ertrugen ihr Martyrium bis zu Ende, sie starben im Gefängnis.
Das gleiche Schicksal ereilte in den folgenden Jahren die Liberalen und Sozialdemokraten. Am 15. Mai 1948 wurden einige tausend Mitglieder der „Bruderschaften des Kreuzes“ verhaftet, einer nationalistischen Jugendorganisation, die ihren Ursprung in der faschistisch orientierten, 1941 aufgelösten „Eisernen Garde“ hatte. Gleichzeitig wurden Wirtschaftsprozesse gegen zahlreiche Geschäftsleute wegen „Sabotage“ inszeniert. Außerdem kam es zu Phantomverfahren nach sowjetischem Vorbild, willkürlich gegen Industrielle, Mitglieder demokratischer Parteien, Freimaurer, Geistliche, Studenten, ehemalige Parteigänger der „Eisernen Garde“ und anderen Personen wegen Verbindungen zu westlichen Legationen. Am 15. Juli 1948 hat das Innenministerium die Kabinettsorder 26.500 erlassen, die es ermöglichte, am 27. Juli Tausende von ehemaligen Polizisten zu verhaften: Es war die Vorbereitung für die Gründung der Securitate am 30. August. Die Festnahmen waren eine Antwort auf Titos Lossagung von Moskau, für die sich der jugoslawische Präsident wenige Wochen vorher der ehemaligen königlichen Polizei Serbiens bedient hatte.
Zehntausende von Prozessen wurden nach dem Diktat der Partei abgewickelt, wegen angeblicher Delikte wie Verrats, Verbrechen gegen die soziale Ordnung, Spionage, Sabotage, Diversion, feindseliger Haltung oder Verbreitung verbotener Schriften. Auch wegen unterlassener Anzeige selbst gegen Eltern oder Geschwister wurden Menschen mit Gefängnis bestraft.
Aber es gab auch die sogenannte betrügerische Grenzüberschreitung, wegen der Tausende ins Gefängnis geworfen wurden, nur weil sie Rumänien verlassen wollten. Wie viele in den Jahren des Kommunismus an der Grenze oder sogar noch jenseits der Grenze erschossen wurden, etwa am jugoslawischen Donauufer, ist unbekannt; auch die Zahl der gescheiterten Fluchtversuche.
Wie Br „Istoria recent -media. ber die Grenze) berichtet, ist den Statistiken des Hohen UN-Flüchtlingskomissariats zu entnehmen, dass von 1969 bis 1989 mehr als 100.000 rumänische Staatsbürger um politisches Asyl im Westen angesucht haben. Viele davon hatten die Grenze zu Jugoslawien oder Ungarn illegal überschritten. Unter diesen 100.000 sind aber nicht jene Tausenden von Rumäniendeutschen, die nach der Flucht ohne Asylantrag als Volksdeutsche von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden. Ihnen ist zum Unterschied von anderen Flüchtlingen aus Rumänien ab 1977 die Auslieferung aus Jugoslaiwen erspart geblieben, ebenso ein langes Warten auf eine Aufnahmegenehmigung in ein westliches Land. Ab Mitte der 1980er Jahre hat auch Ungarn keine Flüchtlinge mehr nach Rumänien
ausgeliefert, trotz eines gültigen Abkommens. Sowohl der illegale Übertritt als auch der Versuch, die Grenze illegal zu überschreiten, wurden entsprechend Artikel 245 mit sechs Monaten bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Wer es geschafft hat, nach Jugoslawien oder Ungarn zu gelangen, war aber noch lange nicht in Sicherheit. Rumänien hatte 1964 mit Jugoslawien ein Auslieferungsabkommen geschlossen, ein solches gab es schon längst mit Ungarn. Erst in den 1970er und 1980er Jahren hat sich das geändert, zuerst hat Jugoslawien nicht mehr vollständig ausgeliefert, danach auch Ungarn nicht mehr.
Genschers Absprache
Die Rumäniendeuschen haben ab 1977 von einer zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien getroffenen Absprache profitiert, die schon zwei Jahre vorher für DDR-Bürger ausgehandelt worden war. Wie Hans-Dietrich Genscher in seinen „Erinnerungen“ schreibt, hatte er schon vor seiner Zeit als Außenminister Kontakt nach Belgrad, und zwar in seiner Eigenschaft als Bundesinnenminister. „Mir lag daran, eine Regelung für jene Deutschen aus der DDR zu finden, die über Staaten des Warschauer Pakts auf jugoslawisches Gebiet gelangten: Musste es nicht erlaubt sein, sie über unsere Botschaft zu betreuen und ihnen die Ausreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen? Bei einem Besuch in Belgrad im August 1972 kam es zu einer Art Gentlemen's Agreement mit meinem jugoslawischen Innenministerkollegen. Wir vereinbarten, dass die jugoslawischen Behörden im Falle eines - meist illegalen - Grenzübertritts aus der DDR den betreffenden Deutschen die Möglichkeit gäben, Kontakt mit unserer Botschaft aufzunehmen; außerdem sollten die Behörden auch von sich aus unsere Botschaft informieren. Danach sollten die Flüchtlinge mit einem Pass, den ihnen die deutschen Konsulate ausstellten, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen“, berichtet Genscher. Diese Vereinbarung ist etwa zwei Jahre später auch auf die Rumäniendeutschen ausgedehnt worden. Angehörige anderer Nationalität aus Rumänien mussten weiter zittern, falls sie in Jugoslaiwen aufgegriffen wurden. Tausende wurden an Rumänien ausgeliefert, angeblich auch gegen rumänische Salzlieferungen.
Bei Recherchen für einen Fernsehfilm über die Westgrenze während der kommunistischen Zeit hat sich nach Angaben von Brîndu sgestellt, dass die für diesen Grenzabschnitt zuständige Militärstaatsanwaltschaft verfügte, die von 1983 bis 1989 ums Leben gekommen waren. Das Fernsehteam musste rasch handeln, denn ansonsten wären womöglich auch diese letzten noch vorhandenen Unterlagen verlorengegangen.
Den Untersuchungsunterlagen sei zu entnehmen gewesen, dass mit wenigen Ausnahmen die Soldaten wegen des Waffeneinsatzes freigesprochen wurden,
mit der Begründung, sie hätten die Waffe entsprechend den Vorschriften eingesetzt. Brîndu esen, dass gegen den Soldaten N. I. kein Strafverfolgungsverfahren wegen des Totschlagverdachts eingeleitet worden sei, weil er die Grenze verteidigt habe. Der Soldat, der einen 19jährigen an der ungarischen Grenze erschossen hatte, hätte auf die Beine des Flüchtenden gezielt. Skizzen und Fotos in der Akte zeig ffen worden war. Andere hätten sich damit herausgeredet, dass sie angegriffen worden seien oder dass die Flüchtenden versucht hätten, sie zu entwaffnen.
Wie Br dass das Militärgericht in Temeswar rund 50.000 Akten der ehemaligen Securitate aufbewahrt. Darunter seien auch jene über die illegalen Grenzübertritte. Sie sollten längst der rumänischen Gauck-Behörde übergeben worden sein.
Wie aus dem Bericht der Präsidialkommission über die Untersuchung der kommunistischen Diktatur in Rumänien, kurz Tism -Bericht genannt, hervorgeht, wurde der illegale Grenzübertritt ab 1949 als politische Straftat eingestuft. Schwere Strafen wurden aber schon 1948 gegen Grenzgänger verhängt. Ab 1952 wurden die illegalen Grenzgänger zu den sogenannten für die Volksdemokratie Vertrauensunwürdigen gezählt, die einfach festgesetzt und in Strafkolonien gesteckt werden konnten. Eine dieser Kolonien war die von Periprava im Donaudelta, wo auch Grenzgänger festgehalten wurden.
Im Gefängnis von Neuschloss (Gherla) wurden 1951 insgesamt 72 Personen festgehalten, die versucht hatten, über die Grenze zu fliehen. Ebenfalls dem Tism -Bericht sei zu entnehmen, dass von 1953 bis 1954 im Gefängnis von Straßburg am Mieresch (Aiud) 29 politische Gefangene ebenfalls wegen Grenzverletzung einsaßen. Sie waren entweder verurteilt oder einfach von der Securitate interniert worden, berichtet Br ejahren nimmt die Zahl der Grenzgänger stetig zu. 1958 gibt es in Gherla 350 bis 400 Grenzgänger. Weil die Gefängnisleitung sie von den anderen Gefangenen isoliert und in zwei Räumen zusammenpfercht – in einen für 70 Gefangene vorgesehenen Raum werden 120 gesteckt, in zwei weitere Räume 250 Mann , kommt es zur Revolte. Nach dem Umzug durften die Gefangenen keine Pakete mehr empfangen, Arbeit war ihnen verboten, sie sahen sich jeden Rechtes beraubt. Sie erhielten nicht genügend Trinkwasser, der Zugang zur Toilette war ihnen verwehrt, sie mussten ihre Notdurft in den Zellen in Kübel verrichten.
Die Grenzgänger von Neuschloss waren in erster Linie Jugendliche. Nach der Revolte sind 21 Grenzgänger zu zusätzlichen Gefängsnisstrafen zwischen fünf und 15 Jahren verurteilt worden. Vor dem Prozess wurden sie ein Jahr lang gefoltert.
Br -Band eine Statistik des UNO-Flüchtlingskommissariats für Rumänien, wobei die UNO-Behörde
darauf aufmerksam macht, dass die Zahl der rumänischen Flüchtlinge viel höher ist als die genannten Zahlen; nicht enthalten sind die den rumänischen Behörden Ausgelieferten, die Erschossenen, Ertrunkenen und Ermordeten. Die meisten illegalen Grenzüberschreitungen hat das UNO-Flüchtlingskommissariat 1989 mit rund 50.000 verzeichnet. Die meisten Grenzgänger haben in folgenden Ländern um politisches Asyl angesucht: 27.000 in Ungarn, 7.932 in Österreich, 5.329 in Jugoslawien, 3.121 in Deutschland und 1.198 in Frankreich. Für die zweite Hälfte der 1980er Jahre legt die UNO-Kommission folgende Statistik für Rumänien vor: 1985 haben 4.436 Rumänen um politisches Asyl in europäischen Ländern gebeten, 1986 insgesamt 6.839, im Jahr darauf 6.535, im Jahr 1987 ist ihre Zahl auf 10.305 angestiegen, und 1989 waren es 46.746. In den Jahren 1975 bis 1979 hat sich die Zahl der rumänischen Flüchtlinge verzehnfacht von 198 auf 1819, bis zum Jahr 1982 hat sie sich noch einmal verdreifacht.
Etwa von 1950 bis 1964 haben die jugoslawischen Behörden keine rumänischen Grenzgänger ausgeliefert. Anfang der 1950er Jahre war die Grenzüberschreitung praktisch unmöglich wegen breiter Minenfelder, die erst ab 1955 allmählich abgebaut wurden. 1964 ist ein Auslieferungsvertrag zwischen Jugoslawien und Rumänien in Kraft getreten. Auslieferungsabkommen gab es auch zwischen Rumänien und Ungarn. Sie wurden 1964, 1982 und 1986 vereinbart. Nach Abkühlen der Beziehungen zu Rumänien hat Ungarn Ende der 1980er Jahre kaum noch Grenzgänger ausgeliefert. Erst Ende des Jahres 1989 hat Ungarn massenweise rumänische Flüchtlinge zurückgeschickt. Der Druck der rumänischen Bürger auf die Westgrenze paart sich mit jenem, den DDR-Bürger auf die Ostblockstaaten ausgeübt haben. Während die Flüchtlinge aus Rumänien eine echte Belastung für den ungarischen Staat werden, machen die DDRFlüchtlinge in erster Linie der bundesdeutschen Botschaft in Budapest zu schaffen.
Im Herbst 1984 wird die bundesdeutsche Botschaft in Budapest schließlich zum Schlupfloch im Eisernen Vorhang. Über die Botschaft eröffnet sich für DDR-Bürger die Möglichkeit, in den Westen zu gelangen. Nicht zuletzt wegen des Engagements von Dr. Axel Hartmann, heute Leiter des deutschen Konsulats in Mailand, wurde diese Option für viele Ausreisesuchende zu einem Rettungsweg, obwohl die SED-Führung und das Ministerium für Staatssicherheit alles versuchten, um den Ausweg über die Botschaft zu verschließen, berichtet Peter Pragal in der Nummer 39 der Zeitung „Das Parlament“ vom 20. September 2004.
Hartmann war Anfang der 1980er Jahre Leiter der Konsularabteilung der bundesdeutschen Botschaft in Ungarn und heimlicher Helfer für rund 1.000 ausreisewillige DDR-Bürger. Mit teils unkonventionellen Methoden nahm sich der Diplomat der Flüchtlinge an, die in immer größerer Zahl im Botschaftsgebäude Hilfe suchten. Bis 1985, als er Budapest verlässt, stellt der Diplomat bundestdeutsche Pässe aus, verhandelt über den Freikauf von Ausreisewilligen, versorgt Flüchtlinge mit Informationen über Grenzanlagen zwischen Ungarn
und Österreich. Budapest war ein Geheimtipp für Menschen, die vor 20 Jahren dem SED-Staat entfliehen wollten, berichtet Pragal weiter. Im Sommer hatte die Ständige Bonner Vertretung in Ost-Berlin vor dem Ansturm der Zuflucht Suchenden kapituliert und den Besucherverkehr eingestellt. Vorübergehend, wie es hieß. Auch die bundesdeutsche Mission in Prag war überlaufen und wurde zeitweise geschlossen. Die bundesdeutsche Mission in Budapest blieb zunächst von Schlagzeilen verschont. Mehr als 20 Personen waren dort kaum unterzubringen. Nicht wenige der Asylsuchenden weigerten sich, das Haus zu verlassen. Manche blieben bis zu drei Monate. Und wenn sie gingen, kamen neue nach. Abgewiesen oder einfach weggeschickt wurde niemand. Es wurde auch kein Flüchtling aufgefordert, in die DDR zurückzukehren. Vielmehr wurde über einen Freikauf der Flüchtlinge verhandelt, als diese noch in der Botschaft waren. Erst wenn eine Zusage aus Ost-Berlin vorlag, kehrten sie für einige Monate in die DDR zurück und warteten auf die Ausreise.
Fluchthelfer in Ungarn
Dr. Hartmann hatte auch mit zahlreichen Rumäniendeutschen zu tun, die in der Botschaft vorsprachen. In einer an den Studienleiter der Akademie Mitteleuropa auf dem Heiligenhof in Bad Kissingen gerichteten E-Mail schreibt der Mailänder Generalkonsul, dass es in seiner Budapester Zeit ein „komerzielles Fluchthilfeunternehmen“ gegeben habe. In präparierten Lastkraftwagen seien Flüchtlinge in den Westen geschleust worden.
Diplomaten unterliegen bei ihrer Arbeit Weisungen. Manche halten sich strikt daran, andere legen sie großzügig aus. Hartmann gehörte zu letzteren. Er riet den Leuten, sich durch Freunde in der Bundsrepublik Pässe ausstellen zu lassen. Die Pässe wurden von Bundesbürgern nach Ungarn gebracht und dort von den neuen, ostdeutschen Inhabern unterschrieben. Dann gingen die Dokumente wieder in den Westen. In der ungarischen Botschaft wurde ein Touristen-Visum beantragt. War das im Pass eingetragen, fehlte nur noch der Einreisestempel. Den gab es in Ungarn zu kaufen. Fluchthilfe wurde in Ungarn nicht so streng bestraft wie in anderen Ostblockländern. Auf dieses Delikt standen höchstens sechs Monate Freiheitsstrafe. Berichte, wonach Hartmann auch Schleusungen von DDR-Bürgern in türkischen Fleischtransportern vermittelt haben soll, verweist der heutige Generalkonsul in Mailand in die Phantasiewelt. In einem Vortrag zum 20. Jahrestag des Mauerfalls mit dem Titel „Von der Zuflucht in westdeutschen Botschaften zur Einheit Deutschlands“ berichtet Dr. Hartmann, der 1982 an die deutsche Botschaft in Budapest versetzt worden war, er habe sehr schnell gemerkt, dass die Zufluchtsproblematik Alltag an den deutschen Botschaften in Osteuropa war. Die Freikaufpraxis habe es seit 1963 gegeben. Bis zum Mauerfall sind etwa 33.000 DDR-Häftlinge freigekauft und 215.000
Familien zusammengeführt worden. Dafür wurden bis 1989 rund 3,4 Milliarden Mark bezahlt, so Hartmann.
Der Zugang zur deutschen Botschaft in Budapest sei im Gegensatz zu denen in Bukarest und Warschau frei gewesen. Im März 1984 hat sich die Nichte von Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates der DDR, mit ihrer Familie in der Prager Botschaft festgesetzt. Nach wenigen Wochen wurde öffentlich, dass die Familie in die Bundesrepublik übergesiedelt war. Nach dem Motto, was die können, können wir auch, suchten ab dem Sommer 1984 viele DDR-Bürger Zuflucht in der Botschaft in Prag, in der Ständigen Vertretung in Ostberlin und auch in der Botschaft in Budapest. Beim Erreichen einer kritischen Zahl von gut 100 Flüchtlingen führte dies zur vorübergehenden Schließung der Vertretungen in Ostberlin und in Prag. 1989 waren es zweimal 6.000 Flüchtlinge.
Für Dr. Hartmann „war diese Form der Zufluchtsproblematik eine ambivalente Sache. Schließlich wusste ich, dass die sich in der Botschaft festsetzenden Flüchtlinge bevorzugt freigekauft würden, während die, die sich nur beraten ließen und in die DDR zurückgingen, mit den lokalen Behörden einen wirklich unendlichen und nervenaufreibenden Kampf durchfechten mussten und dabei noch erhebliche berufliche und persönliche Risiken eingingen“. Nach Dr. Hartmanns Ansicht hat die erste Flüchtlingswelle im Jahr 1984 der DDR erhebliche Probleme bereitet, sie sei der Vorläufer für die politische Wende genau fünf Jahre später gewesen. Unter dem Druck der Ausreisewelle von 1984 habe die DDR 34.000 Bürger innerhalb eines Jahres ausreisen lassen, während es im Jahr zuvor lediglich 11.000 gewesen seien. Diese Ausreisewelle zeigte bald ihre Wirkung, denn je mehr DDR-Bürger in den Westen kamen, desto mehr berichteten ihren in der DDR zurückgebliebenen Freunden und Verwandten, auf welche Weise sie die Ausreise erwirkt hatten. Ein Schneeballsystem war ausgelöst worden, die Zahl der Ausreiseanträge explodierte geradezu und hatte im Jahr 1988 die Zahl von 100.000 erreicht.
Die erste Ausreisewelle aus der DDR verlief allerdings im Sand, weil es den Fluchtwilligen nicht gelungen war, auf direktem Weg in die Bundesrepublik auszureisen. Der Ostblock war noch intakt. Bilaterale Verträge, von der DDR in den 1970er Jahren mit allen Warschauer-Pakt-Staaten vereinbart, ließen keinen Staatsangehörigkeitswechsel auf fremdem Territorium zu. Das hieß, dass DDRBürger nicht mit bundesdeutschen Pässen in den Westen ausreisen durften.
Für Dr. Hartmann „war es ein besonders spannendes Kapitel, wenn die Vorsprechenden klipp und klar erklärten, dass sie den Grenzdurchbruch wagen wollten. Ich ging in solchen Fällen oft weit über das hinaus, was die Weisungen des Auswärtigen Amtes erlaubten. Das Auswärtige Amt stand immer auf dem Standpunkt: Wir lassen die DDR-Bürger reden, sie sagen uns, was sie wollen, und ansonsten verhalten wir uns ruhig“. Hartmanns Ansicht war aber eine etwas andere: Es sei nicht seine Aufgabe, die Leute von ihrem Vorhaben abzubringen.
Er hat den fest Entschlossenen Tipps über die günstigsten Fluchtmöglichkeiten gegeben. Die ungarischen Grenzanlagen waren Mitte der 1980er Jahre technisch veraltet. Die Grenze bestand nur noch, um die Flucht von DDR- oder rumänischen Bürgern zu verhindern, denn die Ungarn konnten schon damals nahezu ungehindert in den Westen reisen. An der bulgarisch-griechischen Grenze standen lediglich Grenzschilder in deutscher Sprache. Ein bulgarischer Schafhirte sei nicht auf die Idee gekommen, nach Griechenland zu gehen.
Ungarn habe die DDR wiederholt aufgefordert, die Kosten für die Erneuerung der Grenzanlagen zu übernehmen. Dies habe die DDR aber mit dem Hinweis auf die internationalen Verpflichtungen Ungarns zurückgewiesen.
Außerdem gab es an der ungarischen Grenze keinen Schießbefehl. Der bevorzugte Fluchtabschnitt war die Grenze zu Jugoslawien. Dort mussten die Flüchtlinge aber unter Lebensgefahr durch die Drau schwimmen, die auch im Sommer sehr kalt und reißend ist. Dort habe es viele Tote gegeben. Auch das sei ein Kapitel, das aufgearbeitet werden sollte, meint Dr. Hartmann.
Als Ungarn 1989 die Grenze geöffnet und die DDR Reisen nach Ungarn verboten hat, sind viele DDR-Flüchtlinge in der Donau ertrunken, beim Versuch, aus der Tschechoslowakei nach Ungarn und anschließend nach Österreich zu gelangen. „Ich habe damals auch Pässe für DDR-Bürger ausgestellt, die bei Fluchtversuchen benutzt worden sind“, so Hartmann weiter in seinem Vortrag. Wie aus Stasi-Unterlagen hervorgeht, hat die DDR in jenen Tagen darauf gedrängt, dass Ungarn Hartmann zur „persona non grata“ erklären und des Landes verweisen sollte.
Ungarn hatte aber ganz andere Probleme. Der wirtschaftliche Niedergang hatte Anfang der 1980er Jahre eingesetzt; über die deutsche Botschaft wurden Kreditanfragen bei deutschen Banken gestellt. Zudem wurden diskret Kontakte zur Europäischen Gemeinschaft geknüpft, um Handelserleichterungen zu erwirken. Zu jenem Zeitpunkt hätte sich die Ausweisung eines westdeutschen Diplomaten eher kontraproduktiv ausgewirkt. „Diesem glücklichen Umstand habe ich es wohl zu verdanken, dass ich meine Arbeit damals ungehindert fortsetzen konnte“, vermutet Hartmann.
Offenbar ist die DDR auch in Bonn aktiv geworden. Der Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Dr. Franz Bertele, habe in einem Erlass Dr. Hartmann gebeten, bei der Beratung von DDR-Bürgern zurückhaltender zu sein. Der Botschafter in Budapest hat im abhörsicheren Raum der Botschaft Dr. Hartmann den Erlass vorgehalten. Darauf hat er nach eigenen Angaben erwidert: „Herr Botschafter, das sind Deutsche wie Sie und ich, wir unterscheiden nicht nach der Staatsangehörigkeit, und gemäß Paragraph 5 des Konsulargesetzes sind wir verpflichtet, Deutschen, die im Ausland in Not geraten, zu helfen. Somit sei die Sache völlig einwandfrei“. Daraufhin habe der Botschafter gebrüllt:
„Ich weiß, was Sie tun, aber ich will es nicht wissen“. Hartmann macht weiter. Als er Ende 1985 zur Nato versetzt wurde, war der für seine Überwachung zuständige ungarische Geheimdienstoberst froh, dass er Ungarn verlässt. „Ein schöneres Kompliment kann man von einem kommunistischen Geheimdienst nicht bekommen“, so Dr. Hartmann in seinem Vortrag. 1989 sei alles anders gewesen als 1984. In den fünf Jahren haben sich mit Gorbatschow die Bedingungen geändert. Am 2. Mai 1989 sei es zum „Urknall“ gekommen, der zur deutschen Einheit geführt hat. An jenem Abend saß Dr. Hartmann zum Aktenvortrag bei Kanzleramtsminister Rudolf Seiters. Als in der Heute-Sendung des ZDF ungarische Grenzsoldaten zu sehen waren, die mit Drahtscheren den Eisernen Vorhang aufschnitten, sagte Hartmann: „Oh, Gott, das gibt Arbeit“.
Seiters habe wissen wollen, warum. Hartmanns Antwort: „Herr Minister, wenn das die Leute in der DDR sehen, dann fangen sie an zu laufen; denn das einzige, was sie gesucht haben, war das Loch im Zaun. Jetzt bekommen sie es im Fernsehen geliefert“.
Ungarn hat nun seine Praxis geändert: Grenzgänger werden nicht mehr in die DDR ausgeliefert, sondern nur am Grenzübertritt gehindert. Das hat sie veranlasst, in die deutsche Botschaft in Budapest zu gehen, die in kürzester Zeit voll war, so dass - das war neu gegenüber 1984 - Hotels und Pensionen angemietet wurden. Diese hatten eine Kapazität von einigen hundert Personen. Dann waren auch diese voll. Zum Schluss eröffneten die Malteser ein riesiges Flüchtlingslager im Stadtteil Pest, wo Tausende von DDR-Bürgern untergebracht waren.
Im Kanzleramt fragte man sich, warum Ungarn die Flüchtlinge nicht mehr an die DDR ausliefert. Die Antwort darauf ist: Ungarn hatte ein eigenes Flüchtlingsproblem, nämlich das der ungarischen Minderheit in Rumänien. Es gab damals weit mehr als 10.000 ungarische Flüchtlinge aus Rumänien in Ungarn. Sie hätten aufgrund einer Vereinbarung Rumänien überstellt werden müssen. Weil die Ungarn das nicht wollten, haben sie heimlich am 12. März 1989 die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert.
In den Genuss der Regelungen dieser Flüchtlingskonvention kamen wenige Wochen später automatisch auch die Deutschen aus der DDR. Auch sie sagten, dass sie Flüchtlinge seien und in den Westen wollten. Ausgerechnet in dieser kritischen Phase kollabierte Honnecker auf dem Warschauer-Pakt-Gipfel in Bukarest. In diesen für die DDR entscheidenden Monaten war die DDR praktisch führungslos. Keiner seiner Vertreter und keiner seiner Mitstreiter sah sich in der Lage, für die DDR verbindliche Erklärungen abzugeben. Dies habe man auch im Kanzleramt registriert. Dr. Hartmann weiter: „All unsere Bemühungen, eine humanitäre Lösung des Flüchtlingsproblems herbeizuführen, stießen bei der DDR auf taube Ohren“. Jetzt war die Reihe an den Ungarn. Ministerpräsident Miklós Németh suchte
das Problem zu lösen, er war nicht gewillt, deutsch-deutsche Auseinandersetzungen auf ungarischem Territorium austragen zu lassen.
Geheimtreffen auf Schloss Gymnich
Das paneuropäische Picknick am 19. August 1989 war ein Probelauf für die Grenzöffnung. Németh wollte herausfinden, wie die Sowjetunion darauf reagiert. Wenige Stunden war die Grenze bei Ödenburg (Sopron) offen, was Hunderte von DDR-Bürgern zur Flucht nutzten. Flankenschutz gab Bundeskanzler Kohl. Er telefonierte noch am selben Tag mit Michail Gorbatschow, um seine Meinung zu dieser ungarischen Aktion zu hören. Dieser antwortete, die Ungarn seien gute Menschen. Damit war klar, dass sich die Sowjetunion nicht in diese Flüchtlingsproblematik einmischen werde.
Am 25. August 1989 kam es auf Schloss Gymnich bei Köln zu einem Geheimtreffen zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Németh. Németh erklärte, Ungarn werde die Grenze öffnen und die Menschen aus der DDR ausreisen lassen. Außenminister Gyula Horn hat vergebens versucht, die DDRFührung zum Einlenken zu bewegen. Dr. Hartmann weiter: „Ungarn blieb standhaft und schlug sinnbildlich den ersten Stein aus der Berliner Mauer“.
Am 10. September 1989 wurde die Grenze für die DDR-Flüchtlinge geöffnet; der Eiserne Vorhang war im Grunde zerrissen. Von nun an war es eine Frage der Zeit, wann die Mauer in Berlin fallen würde.
Die ungarische Regierung hat vor dem Fall des Eisernen Vorhangs die Bürger der Ostblockstaaten nach zweierlei Maß behandelt. Während DDR-Bürger in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 die Grenze nach Österreich passieren durften, verhielt sie sich rumänischen Flüchtlingen gegenüber völlig anders. Bis zur Unterzeichnung der UNO-Flüchtlingskonvention am 17. März 1989 hat Ungarn rumänische Flüchtlinge nach Rumänien ausgeliefert, obwohl die meisten unter ihnen ungarischer Nationalität waren. Ab März wurde ihnen politisches Asyl gewährt, doch sie durften nicht in den Westen ausreisen. Im Sommer 1989 sollen sich etwa 20.000 rumänische Staatsbürger in Ungarn aufgehalten haben, so dass sich das UNO-Flüchtlingskommissariat genötigt sah, ein Büro in Budapest zu eröffnen.
Die Lage der rumänischen Flüchtlinge war auch eines der Themen des Tref schef Karoly Grosz im August 1989 in der westrumänischen Stadt Arad. Auf die Forderung des Ungarn, Rumänien solle sich an den Ausgaben für die rumänischen Flüchtlinge beteiligen, erwiderte der rumänische Diktator, Ungarn solle sich an gültige Verträge halten und die Flüchtlinge ausliefern. eschrieben: „Ungarn hat sich zu einem Aktionszentrum der reaktionären Kreise
entwickelt, einschließlich der Sender „Freies Europa“ hat seinen Platz dort gefunden; die Ungarn wollen sogar Korrespondenten zulassen, und der Sender soll zu einem Übertragungszentrum Westeuropas werden“. Das ist dem Protokoll der Sitzung vom 16. Juni des Politischen Exekutivkomitees der Rumänischen Kommunischen Partei zu entnehmen. 20 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur droht die Wirklichkeit des zweiten deutschen Nachkriegsstaates genau so in Vergessenheit zu geraten wie die Rumäniens. Einen fast verdrängten Aspekt dieser Vergangenheit versucht der Politikwissenschaftler Stefan Appelius aufzuarbeiten: die Flucht von DDR-Bürgern aus Bulgarien. Was die Betroffenen nicht wussten: Auch dort galt der Schießbefehl. Mindestens 4.500 Fluchtversuche hat es gegeben an der so „verlängerten Mauer“, schätzt Appelius, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg. Die meisten scheiterten, mehrere Dutzend davon endeten tödlich.
Bei seinen Forschungen in Bulgarien ist Appelius bei offiziellen Stellen, auch im Innenministerium, gegen eine Mauer des Schweigens gelaufen. Hilfe erhielt er dagegen bei den kleinen Leuten in der kleinen Bürokratie. Die meisten Erschossenen wurden an Ort und Stelle begraben, sie wurden nicht einmal auf einen Friedhof gebracht. Erst ab Mitte der 1970er Jahre gab es ein geheimes Abkommen zwischen der DDR-Botschaft in Sofia und dem Generalstaatsanwalt der Volksrepublik Bulgarien. In diesem Abkommen haben sich beide Seiten aufgrund einiger schlechter Erfahrungen der DDR-Regierung mit empörten Eltern umgebrachter junger Menschen aus der DDR darauf verständigt, dass getötete DDR-Bürger auf Friedhöfen beizusetzen seien.
Das System der Bespitzelung, das die DDR charakterisierte, existierte im ganzen Ostblock - grenzübergreifend. Anfang der 1960er Jahre durften sich DDRUrlauber nur in Reisegruppen wie eine Hühnerschar mit dem Reiseleiter als Aufpasser in einem ganz bestimmten kleinen Radius bewegen, ausgestattet mit ganz wenig Geld. Allerdings wurde dies auf Dauer peinlich, nachdem westdeutsche Journalisten darüber berichtet hatten, so Appelius. Deshalb wurde ein Netz aus bulgarischen Spitzeln und ostdeutschen Saisonarbeitskräften aufgezogen, die als informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit vor Ort aktiv waren. Die Zusammenarbeit mit den sozialistischen Bruderländern, ausgenommen Rumänien, funktionierte reibungslos. Der Schießbefehl an der DDR-Grenze existierte auch an der vermeintlich leichter zu überwindenden bulgarischen Grenze. Die Gefassten wurden zunächst in Sofia unter meist verheerenden hygienischen Verhältnissen eingesperrt, verhört und dann von der Staatssicherheit nach Hause geholt. Die auf der Flucht Erschossenen galten nicht als Maueropfer, sondern als DDR-Bürger, die im Ausland ums Leben gekommen sind. „Die Welt Online“ nimmt am 25. März 2009 einen dpa-Bericht auf und schreibt: „Eine Kopfprämie von 8.000 Ost-Mark soll angeblich für jeden DDRFlüchtling gezahlt worden sein, der an der bulgarischen Grenze erschossen
wurde“. Von den 4.800 Fluchtversuchen Ostdeutscher von Bulgarien in die Türkei oder nach Griechenland sind nach Appelius bis zu 3,5 Prozent geglückt. Wie Appelius unter Berufung auf ehemalige bulgarische Botschaftsmitarbeiter mitteilt, hat die DDR-Botschaft in Sofia für jeden an der bulgarischen Grenze Getöteten eine Prämie in Höhe von 2.000 Lewa gezahlt.
Unterschiedliche Erinnerungen
Über Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Rumänien hat Dr. Georg Herbstritt, Mitarbeiter der Bundeszentrale für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen, im April 2009 an der Akademie Mitteleuropa auf dem „Heiligenhof“ in Bad Kissingen berichtet, ferner in einem Beitrag in Heft 2/2009 der „Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik“. Die zentralen Gedenktage des Jahres 1989, der Mauerfall am 9. November in Deutschland tritts Ansicht unterschiedliche Erinnerungen; das setzte sich fort: In Deutschland wurden frühere DDR-Funktionäre vor allem wegen ihrer Mitverantwortung für die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze verurteilt; in Rumänien gab es hingegen Verfahren gegen Militär- und Geheimdienstangehörige, die für die tödlichen Schießereien während des Umsturzes Ende Dezember 1989 verantwortlich gemacht wurden. Im Zusammenhang mit den Flüchtlingen aus der DDR spricht Herbstritt von einer „Abstimmung mit den Füßen“. Die Menschen hätten durch ihre Flucht und durch ihren Willen zur Flucht das herrschende politische System in der DDR in Frage gestellt.
Im Zusammenhang mit Rumänien gebe es den Begriff „Abstimmung mit den Füßen“ nicht, obwohl auch Rumänien eine massive Fluchtbewegung erlebt hat. Einige Grenzen der Ostblockstaaten könnten als verlängerte Mauer bezeichnet werden. DDR-Behörden, und allen voran die Stasi, haben versucht, die DDRBürger daran zu hindern, über andere Ostblockstaaten in den Westen zu fliehen.
Die Beziehungen der Stasi zum rumänischen Geheimdienst Securitate habe sich nach einer engen Zusammenarbeit in den 1950er Jahren ab 1964 abgekühlt; die Securitate habe sich zunehmend von den anderen kommunistischen Geheimdiensten distanziert und sei dafür im Gegenzug von den anderen kommunistischen Geheimdiensten ausgegrenzt worden. In den 1970er und 1980er Jahren habe es zwischen der Stasi und der Securitate keine regulären Arbeitsbeziehungen mehr gegeben, sondern nur noch punktuelle Kontakte, so Herbstritt.
In der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Bulgarien hat die Stasi in den 1960er Jahren so genannte Operativgruppen eingerichtet (Gruppen von 8 bis 14 Stasi-Offizieren, die dauerhaft in einem anderen Ostblockland stationiert wurden und die etwa 40 inoffizielle Mitarbeiter in diesem Land steuerten; das waren meistens ebenfalls DDR-Bürger. Die wesentliche Aufgabe dieser
Operativgruppen in der Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien bestand eben darin, Fluchten zu verhindern.
In Rumänien habe es keine Stasi-Operativgruppe gegeben. Aber die Stasi habe trotzdem versucht, auch in Rumänien die DDR-Bürger zu überwachen. Die Securitate habe sie dabei nicht unterstützt. Im Gegenteil: Die Stasi habe darauf achten müssen, dass ihre Agenten und ihre inoffiziellen Mitarbeiter nicht von der Securitate erwischt wurden.
Für die Sommermonate habe die Stasi ein Spitzel-Netz in Rumänien aufgebaut, dem aber nur sechs bis acht als Repräsentanten des DDR-Reisebüros getarnte inoffizielle Mitarbeiter angehört hätten. Neben den fest in Rumänien installierten IM befanden sich auch in den DDR-Touristengruppen sehr häufig Mitreisende, die im Auftrag der Stasi Landsleute ausspioniert haben. In welchem Umfang dieses kleine Stasi-Agentennetz in Rumänien oder die StasiOperativgruppen in den anderen Ländern Fluchtversuche verhindert haben, sei schwer zu sagen. Viel mehr sei es der DDR darauf angekommen, wie gründlich die jeweiligen Länder ihre Grenze bewachten.
In der DDR glaubten nach dem Mauerbau 1961 viele, die Westgrenzen der anderen Ostblockstaaten seien weniger scharf bewacht als in der DDR; bis 1972 hätten Jahr für Jahr mehr DDR-Bürger versucht, über andere Ostblockstaaten in den Westen zu fliehen. Danach sei die Zahl der Fluchtversuche etwas zurückgegangen. Vermutlich hat sich herumgesprochen, wie riskant ein Fluchtversuch auch dort sein konnte.
Allein in den 1970er und 1980er Jahren wurden nach Herbstritts Angaben rund 55.000 Fluchtversuche von DDR-Bürgern verhindert, durchschnittlich waren das rund 3.000 pro Jahr; knapp die Hälfte dieser Fluchtversuche sollte außerhalb der DDR stattfinden. In diese Zahl sind auch solche Fluchtversuche eingerechnet, die von der Stasi schon im Vorfeld entdeckt wurden, wo also die Flüchtlinge gar nicht mehr ins sozialistische Ausland gekommen sind.
Den Statistiken des Ministeriums für Staatssicherheit zufolge sind zwischen 1963 und 1988 insgesamt 14.746 DDR-Bürger in anderen Ostblockstaaten bei Fluchtversuchen entdeckt, festgenommen und per Flugzeug in die DDR zurückgebracht worden, wo sie dann zumeist eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen mussten. Herbstritt weiter: „Vor allem an den Westgrenzen der Tschechoslowakei (8.495 Personen), Ungarns (3.769 Personen) und Bulgariens (1.654 Personen) versuchten DDR-Bürger in jenen Jahren vergeblich, in den Westen zu gelangen. In Rumänien scheiterten etwa 500 Fluchtversuche. Andererseits glückte zwischen 1972 und 1988 immerhin 2.137 DDR-Bürgern die Flucht über eines dieser Länder in den Westen, und in einer ähnlichen Größenordnung wurden DDR-Bürger über diese Länder von Fluchthelfern ausgeschleust. Über Rumänien gelangten zwischen 1969 und 1986 mindestens 53 DDR-Bürger in den Westen. Folgt man diesen Zahlen, die noch als vorläufig
anzusehen sind, dann scheiterten rund 80 Prozent aller Fluchtvorhaben über die genannten Länder.“
Mindestens 37 DDR-Flüchtlinge verloren zwischen 1962 und 1989 an den Westgrenzen dieser vier Staaten ihr Leben. Allein in Bulgarien waren es nach derzeitigem Kenntnisstand 18 DDR-Bürger, die von Grenzern erschossen worden sind. An der tschechoslowakischen Grenze kamen 13 DDR-Flüchtlinge ums Leben (davon sechs erschossen), an der ungarischen Grenze vier (davon zwei erschossen). An der rumänischen Grenze sind in den frühen 1970er Jahren mindestens zwei DDR-Flüchtlinge ums Leben gekommen.
Nach Herbstritts Recherchen sind an den rumänischen Grenzen rund 500 DDR-Bürger bei Fluchtversuchen festgenommen worden; die Zahl der gelungenen Fluchten über Rumänien dürfte unter 100 gelegen haben. Der größere Teil der DDR-Bürger hat in Rumänien versucht, über die Landgrenze im Banat nach Jugoslawien zu gelangen, ein kleinerer Teil hat es über die Donau versucht, rwandte, Freunde oder Fluchthelfer in Anspruch genommen, um sich aus Rumänien ausschleusen zu lassen.
Besonderheit: Zwischen 1968 und 1974 wurden in Rumänien gefasste DDRFlüchtlinge auch in Rumänien vor Gericht gestellt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt; meistens mit Haftstrafen zwischen vier und 18 Monaten, von denen die Hälfte in Rumänien abgesessen werden musste. Wenn sie anschließend in die DDR zurückgekehrt waren, wurden sie noch einmal verurteilt und eingesperrt. Insgesamt wurden auf diese Weise zwischen 1968 und 1974 mindestens 80 DDR-Bürger doppelt bestraft, die abgesessene Haftzeit war anzurechnen.
Die rumänischen Behörden haben die DDR-Stellen nur unvollständig und verspätet über Verhaftungen von DDR-Bürgern sowie über die Einzelheiten der Fluchtversuche informiert. Es sei vorgekommen, dass DDR-Bürger einfach aus dem Gefängnis entlassen wurden; einige von ihnen hätten einen zweiten Fluchtversuch gewagt, mindestens fünf seien gelungen.
Ab April 1973 habe Rumänien auf Wunsch der DDR keine DDR-Flüchtlinge mehr vor Gericht gestellt. Es hat aber noch fast ein Jahr gedauert, bis das auch dem letzten zuständigen Gericht in Rumänien bekannt geworden war; außerdem gab es Ausnahmen. Der DDR-Konsul in Bukarest musste ab sofort verhaftete Bürger innerhalb von fünf Tagen übernehmen und ausfliegen.
In den bei der Militärstaatsanwaltschaft Temeswar 1988 gefundenen Unterla Temeswar (19 Jahre alt) – am 27. September 1988 totgeprügelt und bei Hatzfeld in den Straßengraben geworfen; Ion Ciucur (31) aus Brazi – 1983 bei Tolwadin – 1984 Schulterschuss; Dumitru Bunda (22) aus Moritzfeld (M – 1985
bei Großscham (Jamul Mare) erschossen; Pavel Bârz (30) aus Arad – 1985 bei Detta (Deta) durch Genickschuss ums Leben gekommen; Constantin Budac (26) aus Konstanza – durch Brustschuss verletzt; – 1986 Unterleibschuss bei ria (34) aus Bukarest - 1986 tödliche Schüsse in die Brust bei Rusova; Gheorghe Lionte (28) aus St –1987 bei Altbeba mit dem Bajonett getötet (kommt im ersten Band des Buches die „Die Gräber schweigen“ als Leonte vor), Floria Ciort (47) aus Hatzfeld (Jimbolia) – 1987 Herzschuss; Vlad Petru (24) aus Telciu – 1987 erschossen bei – 1988 umgebracht bei Hatzfeld unter ungeklärten Umständen; Ioan Grab (23) aus Radautz (R – 1988 tödlich verletzt durch Beinschuss bei Großscham; Costic slui in der Moldau – 1988 Unterleibschuss bei Großscham; Zoltán Oláh (30) aus Temeswar – 1988 getötet durch Bauchschuss bei Großpereg (Peregu Mare) – er ist ebenfalls im ersten Band genannt; Mirce – 1989 tödlich getroffen von einer Kugel bei Rudna und Mircea Bozgan (22) aus Arad – 1989 tödlicher Brustschuss bei Kreuzstätten (Cruceni) in der Nähe von Tschakowa (Ciacova). „Es gibt keinen Friedhof am serbischen Donauufer, auf dem nicht rumänische Staatsbürger bestattet sind. Es sind Grenzgänger, die in der Zeit des Kommunismus auf der Flucht aus Rumänien ums Leben gekommen sind.“ Mit diesen Sätzen beginnt der vorhergehende Band von „Die Gräber schweigen“. Als Beispiel wird der Friedhof von Novi Sip, ein Ort im Nationalpark Eisernes Tor, genannt, der nach dem Bau der Staumauer am Durchbruch der Donau durch die Karpaten in den 1970er Jahren neu angelegt worden ist. Bei einem Besuch Anfang 1990 habe ich an den Gräbern jener rumänischen Staatsbürger gestanden, deren Leichen im Laufe von 19 Jahren ans serbische Ufer bei Novi Sip geschwemmt worden sind. Tote Grenzgänger sind auch auf dem Friedhof des in den Fluten des Stausees am Eisernen Tor untergegangenen alten Sip begraben.
Eine rumänische Tragödie
Die Toten im neuen und von der gestauten Donau überfluteten alten Sip, aber auch auf anderen Friedhöfen auf beiden Donauufern sind Opfer der gestürzten kommunistischen Diktatur in Rumänien. Identifiziert werden die meisten wohl nie - und die Gräber schweigen; aber auch viele Opfer sind nicht bereit, über die Gräuel zu berichten, die ihnen angetan worden sind. Die Journalistin Marina Constantinoiu spricht in der Ausgabe vom 31. Mai 2005 der Tageszeitung Jur hen Tragödie. Die Donau bedeute für die Rumänen mehr als die Berliner Mauer für die Deutschen. Sie hat den Menschen einen großen Zoll abverlangt.
Friedhof des neuen Sip 54 Unbekannte, auf dem des alten Sip 32. Marina Constantinoiu hat ferner ermittelt, dass auf dem Friedhof von Golubinje mehr als 100 unbekannte rumänische Staatsbürger bestattet sind. Unter ihnen ist ein 35 bis 40 Jahre alter Mann, der am 16. März 1989 tot aufgefunden und in die Autopsieliste von Negotin aufgenommen worden ist. Er trug eine rote Jacke mit Reißverschluss und blauen Einsätzen, hatte eine rosa Schwimmhaube bei sich, am Körper hatte er mit Isolierband eine Brieftasche befestigt, in der sich neben rumänischem Geld ein Zettel mit folgender Notiz befand: Knija, Viseslova 72, tel. 992128 trim. Hotel H Bengosen; er trug Schuhe der Größe 43, über die er Gummihandschuhe gezogen hatte, und Leder- und um zehn Zentimeter verlängerte Gummihandschuhe, die das Eindringen von Wasser verhindern sollten.
In den vier Ausgaben der Zeitung vom 29. Mai bis 1. Juni 2005 berichtet Marina Constantinoiu, dass in Tekija auf serbischer Seite etwa zehn aus der Donau geborgene Tote begraben sind. Fast in allen Dörfern auf serbischer Seite lägen tote Grenzgänger aus Rumänien: in Negotin, Donji Milanovac, Prahovo oder Kladovo.
Während die Toten an der grünen Grenze den Rumänen erhalten geblieben sind, mussten sie die von der Donau ans serbische Ufer angeschwemmten Leichen meist nicht beseitigen; die rumänischen Behörden waren sie einfach los; sie nahmen sie meist nicht zurück mit der Begründung, es wären keine rumänischen Staatsbürger. Die meisten in der Zeit des Kommunismus auf der Flucht aus Rumänien ums Leben Gekommenen – sie sind entweder ertrunken, oder aber haben rumänische Grenzer sie ertränkt, erschossen oder mit Schnellbooten absichtlich überfahren – sind mit der Strömung der Donau ans serbische Ufer getrieben.
Während die Gräber, die längst von Unkraut und Gestrüpp zugewachsen sind, keine Informationen hergeben, können auf serbischer Seite jedoch solche den Aufzeichnungen der Gerichtsmediziner entnommen werden: Alter, persönliche Besonderheiten oder Kleidungsstücke sind beschrieben. Auch die Ausweise, die sie bei sich hatten, geben über sie Auskunft. Sie könnten mancher Familie helfen, das Schicksal ihrer verschollenen Angehörigen aufzuklären. ab 1970 alles über die Toten von der Donau aufgezeichnet hat. Das berichtet ausführlich vom Fluchtgeschehen an der Donau berichtet. agen sei verzeichnet, dass am 23. August 1980 ein Toter gefunden wurde, der ein khakifarbenes Hemd trug. Umgeschnallt hatte er einen Militärledergürtel. In einer Tasche hatte er einen Ausweis des FC Politechnica und einen Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Ioan Milu. Geboren wurde er am 18. Mai
1960 in der Gemeinde Boldur im Kreis Lugosch (Lugoj). Ferner hatte er bei sich: den Fahrzeugschein eines Militärautos, einen Blutspenderausweis, zwei Zehn-Lei-Banknoten und einen 50-Lei-Schein, Kugelschreiber und eine Schachtel Zigare hmen, dass er nicht erschossen wurde. Milu ist auf dem Friedhof von Prahovo begraben worden. 1988 bei Donji Milanovac die Leiche eines Mannes gefunden worden ist, lediglich bekleidet mit Badehose, darunter Unterhosen und Socken. Mit einem Gürtel hatte er sich einen Beutel umgeschnallt, in dem sich folgendes befand: ein Hemd, Jeans, Adidas-Schuhe, ein Pullover Größe 52, eine Plastikdose mit Multivitaminen, ein Kompass und ein Personalausweis mit der Seriennummer BK 383915, ausgestellt auf den Namen Pavel Reinhold, geboren am 17. März 1964 in Heltau (Cisn den Namen Cloos ausgestellt war, sind unter „Eltern“ dieselben Namen zu finden: Sofia und Martin. Pavel steht wahrscheinlich für Paul. Es ist anzunehmen, dass es ich im Falle Reinhold um einen Siebenbürger Sachsen handelt. Reihe von Unbekannten auf dem Friedhof in Markovac begraben. Dort gibt es auch ein Kreuz, das den Namen Marian Gh. Mindea trägt. Nach Angaben des örtlichen Pfarrers ist er von serbischen Grenzern erschossen worden.
Beim zweiten Fluchtversuch erschossen
Die serbische Presse hat ab und an etwas über das Geschehen an der Donau berichtet, darunter auch über den Tod des DDR-Bürgers Günther Lange, der zu seiner kranken Mutter nach Westberlin wollte. Lange ist am 2. November 1973 in Rumänien angekommen, um über die Donau zu schwimmen. Völlig erschöpft ist er in Tekija an Land gegangen, wo Ortsansässige ihn mit Wurst und Schokolade versorgt haben. Kaum hatte er seinen Gastgebern sein Schicksal geschildert, ist schon die Polizei gekommen, um ihn festzunehmen. Er wurde na erichtet hat, wurde er kurz darauf nach Tekija gerufen, wo ein Toter gefunden worden war. Es war Günther Lange, er trug lediglich die Badehose. Um den Hals hatte er sich einen Beutel mit Kleidern und Unterlagen befestigt. Der Beutel war mehrfach durchlöchert. Das eindringende Wasser hat ihn in die Tiefe gezogen, er konnte sich aus der Schlinge nicht mehr befreien und ist ertrunken, mutmaßt der Gerichtsmediziner. Etwas gibt ihm allerdings zu denken: Jakovljevi Kopf Verletzungen festgestellt. Richter und Staatsanwalt konnten sich an Lange erinnern. Er hatte sie gebeten, ihn nicht nach Rumänien auszuliefern. Die Au-
topsie hat ergeben, dass Lange noch die unverdaute Wurst und die Schokolade im Magen hatte, die er in Tekija spendiert bekommen hatte.
Lange war offenbar nur kurz in rumänischem Gewahrsam, wahrscheinlich ist er gleich wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Wie Herbstritt berichtet, ist es gelegentlich vorgekommen, dass die rumänischen Sicherheitskräfte DDRBürger entlassen haben, ohne die DDR-Behörden zu informieren. „So könnte es auch Günther Lange gelungen sein, innerhalb kürzester Zeit einen zweiten Versuch zu unternehmen, durch die Donau zu schwimmen. Dabei wurde er dann offenbar von rumänischen Grenzposten angeschossen und ertrank deshalb in der Donau“, schreibt Herbstritt.
Noch vor Lange ist der Ingenieur Anton Frank (Jahrgang 1941) aus Leipzig im Oktober 1970 beim Fluchtversuch von Rumänien nach Jugoslawien in der Donau ertrunken. Das hat Stefan Appelius bei seinen Recherchen in Bulgarien herausgefunden. Die Leiche wurde am 11. Oktober 1970 in Slatinrok bei Widin (Bulgarien), etwa 25 Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt, von Fischern entdeckt. Nach Einschätzung der Sachverständigen war Frank drei bis sieben Tage vorher ertrunken, so dass sein Leichnam etwa 300 bis 350 Kilometer donauabwärts getrieben wurde. In einem Dokument des DDR-Konsulats in Sofia heißt es über den Fall: „Der Ertrunkene war mit einem enganliegenden schwarzen leichten Pullover, einer blauen Leinenhose und Leinenturnschuhen mit Gummisohle bekleidet. An seinem Körper hatte er zwei lederne Brustbeutel, in denen sich Ausweispapiere wie Personalausweis, Reiseanlage, Fahrerlaubnis und Geld befanden, u.a. ca. 600 Mark der DDR“. Frank wurde am 14. Oktober 1970 auf dem Friedhof in Slatinrok beerdigt.
Im ersten Band „Die Gräber schweigen“ ist das tragische Ende eines Professors aus der DDR genannt, den Grenzer in den 1970er Jahren bei Hatzfeld (Jimbolia) beim Fluchtversuch erschossen haben. Bei dem Professor handelt es sich um Dr. Rudolph Babendererde (Jahrgang 1931) aus Rostock, der am 11. August 1972 erschossen wurde.
In einem Dokument des Staatssicherheitsdienstes der DDR heißt es über den Grenzzwischenfall: „Die Familie Babendererde versuchte mittels Pkw Wartburg… gewaltsam am Grenzkontrollpunkt Jimbolia/SRR nach der SFRJ die Staatsgrenze zu durchbrechen“. Trotz zweier Anrufe und der Abgabe von Warnschüssen habe Babendererde die Fahrt fortgesetzt. Daraufhin sei der Fahrer „durch gezielte Schüsse der Sicherheitsorgane der SR Rumänien“ tödlich verletzt worden. Babendererde sei in Temeswar (Timi Er hatte im August 1972 mit zwei Familenangehörigen Urlaub in Südwestrumänien verbracht. Soweit der Bericht von Appelius.
Herbstritt hingegen schildert die Flucht anders. Nach seinen Angaben erfolgte sie auch an einem anderen Datum. Er beruft sich auf Details, die er nach eigenen Angaben im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gefunden hat: „In
der Nacht vom 17. auf den 18. August 1972 versuchten sie schließlich, unweit von Hatzfeld auf dem Landweg nach Jugoslawien zu gelangen. Sie durchquerten unbemerkt ein großes Maisfeld und erreichten offenes Gelände in unmittelbarer Grenznähe. Versehentlich berührten sie dort einen Signaldraht. Das alarmierte die rumänischen Grenzer, die die Flüchtlinge nach kurzer Zeit entdeckten. Obwohl sie wehrlos auf dem Boden liegen blieben, zielten die Grenzsoldaten nach ersten Warnschüssen direkt auf sie und töteten Rudolph B. Die beiden anderen Flüchtlinge wurden festgenommen und wenige Tage danach an die DDR überstellt“.
Auch auf der rumänischen Seite der Donau sind tote Grenzgänger begraben, beispielsweise auf dem Orschowaer Friedhof auf der Sternwaldwiese. Der Totengräber Ion Herici meint, es könnten bis zu zwölf gewesen sein. Die Kreuze mit der Aufschrift „Unbekannt“ sind inzwischen verschwunden, die kleine Schlucht, in der die Ermordeten liegen, ist mit Müll verfüllt worden.
Mehrere Dutzend Gräber von Unbekannten, die über die Donau fliehen wollten, hat es auf dem inzwischen von der gestauten Donau gefluteten Dorffriedhof von Vârciorova gegeben, berichtet Cristian von Coro wissen noch einiges über Gräueltaten während der kommunistischen Zeit, doch sie trauten sich auch heute noch nicht, die Wahrheit zu sagen.
Für die geknechteten Rumänen war Jugoslawien das Tor zur Freiheit - oder zur Hölle. Wer serbischen Boden betreten hat, war noch lange nicht frei. Tausende haben die Sperranlagen überwunden, Tausende sind über die Donau geschwommen oder gerudert: Rumänen, Ungarn, Deutsche, Zigeuner oder Serben. Viele von ihnen leben längst als freie Menschen im Westen. Aber für einen Teil wurde das Freiheitstor zur Todesfalle. Die Serben haben auch Tausende von Flüchtlingen entsprechend einer bilateralen Vereinbarung von 1964 an Rumänien ausgeliefert. Für sie hat die Hölle an der Grenze mit Prügel und Folter begonnen.
Auch die Schlepper schweigen
Die in den Orten an der Donau Bestatteten sind nur ein Teil der Opfer an der rumänischen Westgrenze. An der grünen Grenze haben ebenfalls viele ihr Leben verloren. Manch einer von ihnen soll direkt an der Grenze verscharrt worden sein. Das Schlepperwesen ist auch heute noch ein Tabu in den Ortschaften am rumänischen Donauufer, schreibt Dan Gheorghe in der Ausgabe vom 6. September 2008 der Tageszeitung România Liber eschleusten Agenten des Geheimdienstes Securitate ist noch immer vorhanden, obwohl sich die Zeiten gewandelt haben. Einer der bekanntesten Schleuser hat allerdings ausgepackt. Alexandru Simian hat erzählt, wie das Schleusersystem
funktioniert hat und wie Zehntausende von Flüchtlingen über die Donau gelangt sind. Simian wurde 1988 verhaftet, die Securitate hat ihn gefoltert und seine Familie unter Druck gesetzt.
Gheorghe schreibt, die Leute sagen heute, die Geheimnisse seien in die Donau geworfen worden, und niemand wird sie mehr aus dem Strudel herausholen können. Wer von den Donauanrainern in der Nähe des Eisernen Tors etwas über das Schlepperwesen erfahren will, dem kehren die Einheimischen den Rücken. Simian zu Hause ist, erfährt Gheorghe, dass die Verräter und ihre Opfer stillschweigend einen Waffenstillstand geschlossen haben. Nicht nur Nachbarn hätten einander verraten, sondern auch Verwandte. Keiner plaudert etwas aus, um nicht das Gleichgewicht zwischen den beiden Lagern zu stören. Alexandru Simian, heute 60 Jahre alt, scheut es, seine Securitate-Akte einzusehen. Vielleicht werde er es mit 80 tun, um zu erfahren, wer ihn verraten hat. Vorerst will er es noch nicht wissen, damit in ihm keine Rachegelüste aufkommen.
Simian wurde 1951 als Kind mit seiner Familie in die Donautiefebene deportiert wie 40.000 weitere Landsleute aus dem Landstrich an der serbischen Grenze; als Erwachsener wurde er aus Diensten der Gemeinde entlassen. Das waren die Motive, die in ihm den Plan reifen ließen, aus Rumänien in die Freiheit zu fliehen. Doch vorher wollte er anderen helfen, die Donau zu überwinden, in der Hoffnung, dass die Flüchtlinge ihm auch einmal helfen werden, sich im Westen eine neue Existenz aufzubauen.
Die Fluchtwilligen kamen aus dem ganzen Land. Viele hatten sich Hilfsmittel besorgt, wie Schlauchboote oder ganz einfach Autoreifen. Treffpunkt war der Kurort Herkulesbad (B abgeholt hat. Zu einem späteren Zeitpunkt ist auch der potentielle Flüchtling in Herkulesbad erschienen. Er wurde von ins Vertrauen gezogenen Familien ins Dorf geschleust. Aufgebrochen sind die Grenzgänger nur, wenn es völlig bewölkt war. Simian berichtet von einer dramatischen Situation: Eine Frau hat mit ihren sechs Kindern in einem Boot über die Donau gesetzt. Andere wiederum haben ihre Boote mit Schilf getarnt, damit sie so aussahen wie Klumpen, die die Donau immer wieder mit sich führt. Andere wiederum haben Gasflaschen zu Raketen umgebaut, um mit hoher Geschwindigkeit ans serbische Ufer zu gelangen.
Die Donau ist sehr gefährlich, besonders seit dem Bau des Staudamms am Eisernen Tor. Der Strom scheint ruhig, aber die Strömungen sind sehr stark. Die rumänischen Grenzer hätten auf alles geschossen, was sich bewegt hat. Hatten sie jemanden umgebracht, schoben sie die Schuld den serbischen Kollegen in die Schuhe.
Simian ist 1988 in Herkulesbad festgenommen worden, als er eben einen neuen Kunden treffen wollte. Damit hat sein Leidensweg bei der Polizei in Turnu Severin begonnen, mit Schlägen auf Fußsohlen und Rücken mit einem Hart-
holzstab. Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurde er in Ketten gelegt und zum Prozess nach Turnu Severin gebracht. Der Prozess war ein Einschüchterungsversuch der Securitate. Simian hat nach eigenen Angaben niemand verraten. Die Ermittler hatten ihn aufgefordert, das gesamte Schleusernetz preiszugeben. Hätte er es getan, wären an die 30 Mann verhaftet worden. Simian wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, nach dem Einspruch der Staatsanwaltschaft wurde die Strafe in einem zweiten Verfahren verdoppelt.
Am Tag des Falls des kommunistischen Regimes wurde Simian auf freien Fuß gesetzt. Nach seiner Festnahme wurde seine Frau zu Hause verhört und bedrängt, sich scheiden zu lassen. Es bestand die Gefahr, dass seine Kinder in ein Waisenhaus gesteckt werden. Die Ersparnisse der Familie - 170.000 Lei –wurden beschlagnahmt.
Olympiasiegerin auf der Flucht
Unter den letzten, die über die rumänische Westgrenze geflüchtet sind, gehört die vielfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin Nadia Com i die ehemalige Weltklasseturnerin bei Tschanad (Cenad) über die grüne Grenze nach Ungarn. Zwei Tage vorher hat Constantin Panait, der seit 1980 in den USA lebte, Nadia in einem österreichischen Mietwagen in Bukarest abgeholt und an die ungarische Grenze gefahren. Ein Schleuser bringt sie über die Grenzen nach Ungarn und anschließend nach Österreich. In Wien besorgt Panait ihr ein Visum für die USA. In der Ausgabe vom 14. August 2008 berichtet die Zeitung Ziua, dass sich Nadia einer Flüchtlingsgruppe angeschlossen hat; sie sei stundenlang duch Schnee marschiert.
Die Zeitung Monitorul de Neam nfamilie, haben Nadia in Bukarest abgeholt. Zusammen sind sie am 25. November um 14 Uhr im Tschanader Nachbarstädtchen Großsanktnikolaus (Sânnicolau Mare) eingetroffen. Offiziere der Grenztruppe hätten von der beabsichtigten sgegangen. Der sieben Mann starken Flüchtlingsgruppe sollen neben Nadia angehört haben: d onica, ein Maler namens Gheorghe Paraschiv aus Bukarest und ein Mann aus Cherestur. Um 4.45 Uhr soll die Gruppe Kiszombor in Ungarn erreicht haben und zwei Grenzern in die Arme gelaufen sein. Dem Bericht zufolge hat Nadia auf dem Acker ein paar Salti vorgeführt und den Grenzern mitgeteilt, sie sei Nadia Com zpunkt gefahren und verhört worden. user
aus der ganzen Gruppe nach Rumänien abschieben. Doch dann habe sich Nadia eingeschaltet mit den Worten, dann werde auch sie zurück nach Rumänien gehen. Die anderen hätten in dieselbe Kerbe gehauen. Das habe die Wende gebracht. Alle sieben hätten Ausweise erhalten und seien im Hotel Royal in Szeged untergebracht worden. Am nächsten Tag hätten sie sich ins Durchgangslager Treiskirchen bei Wien begeben. Von dort habe sich Nadia von der Gruppe getrennt und sei verschwunden. zur Folge hatte, dass die rumänischen Grenztruppen am 15. Dezember 1989 aus der Kompetenz des Verteidigungs- in die des Innenministeriums übergegangen sind und ihr Befehlshaber abgesetzt wurde.
Vielleicht nicht ganz so spektakulär wie Nadias Flucht war die der Rock- und Bluesband Phoenix aus Temeswar. 1976 heiratet Phoenix-Chef Nicu Covaci nach Holland. Nach dem verheerenden Erdbeben vom 4. März 1977 kommt er mit Hilfsgütern und einem großen Fluchtplan nach Rumänien. Er veranstaltet eine große Benefiz-Tournee, die in Karlsburg (Alba Iulia) beginnt und im Mai in Konstanza am Schwarzen Meer mit einem Riesenerfolg endet. Nach der Rückkehr nach Temeswar teilt Covaci den Bandmitgliedern überraschend seinen Fluchtplan mit. Alle machen mit außer Mircea Baniciu. Sie verstecken sich in den riesigen Marshall-Boxen, aus denen Kovaci die Lautsprecher entfernt hat, und in der Nacht zum 2. Juni 1977 fährt der Lastkraftwagen zum Grenzübergang Turnu Severin. In den Boxen versteckt sind: Ovidiu Lipan, Erlend Krauser, Josef Kappl und eine Schwangere.
An der Grenze beginnt das tägliche Theater, es dauert Stunden und endet erst, als sich die Zöllner und Grenzer einiges von der Ladung angeeignet haben: Wurstpakete, Tüten mit Geld, Zigaretten und eine Vielzahl von Kleinigkeiten.
Nach 30 Stunden hält der Lastkraftwagen mit den vier Flüchtlingen im Niemandsland zwischen Jugoslawien und Österreich, und Covaci lässt sie aus den Verstecken heraus. Die vier gehen über die Grenze und sind in Freiheit. Ihr nächstes Ziel ist Deutschland.
Doch im Westen kann die Band nicht mehr an die Erfolge aus Rumänien anknüpfen, obwohl Leadsänger Moni Bordeianu, Sohn einer Banater Schwäbin aus Neubeschenowa (Be ihr erneut anschließt.
Die Starturnerin Nadia Com von der kommunistischen Partei schlecht angesehene Rockband Phoenix haben irgendwann die Schikanen des Sozialismus nicht mehr ertragen und sind geflohen. Sie haben wie Millionen empfunden und erkannt, dass der Kommunismus überall auf leisen Sohlen auftritt, aber allmählich die Menschen mit Füßen tritt und seine zeitweiligen Partner verrät. Um das Vertrauen und die Unterstützung
der Menschen zu gewinnen, haben die Kommunisten erklärt, dass angeblich das Volk entscheidet und führt. Doch Schritt für Schritt haben sie das Volk umgarnt und durch die Partei ersetzt. Vielen, die anfangs daran geglaubt haben, sind im Laufe der Zeit die Augen aufgegangen. Auch sie hatten nur noch eines im Sinn: Sie wollten auf dem schnellsten Weg in die Freiheit gelangen. Zu ihnen gehörte auch eine Gruppe von Männern aus Siebenbürgen, denen die einzige Entführung eines Passagierflugzeugs aus Rumänien geglückt ist. Ihre Geschichte hat Erika Faber in dem Tatsachenroman „Aripi frânte. Povestea singurei deturn ri eschichte der einzigen gelungenen Flugzeugentführung aus Rumänien) aufgeschrieben.
Die Nachricht von der Entführung der Maschine aus Großwardein (Oradea) nach Wien im Frühjahr 1971 hat im Westen Schlagzeilen gemacht. Der Entführungsplan stammte von Belá Moka, der als 18jähriger das linke Bein bei einem Arbeitsunfall verloren hatte. Nach vergeblichen Versuchen, legal auszureisen, und dem Verwerfen von Fluchtplänen über die Donau, entscheidet sich Moka für die Flugzeugentführung. Ein erster Entführungsversuch scheitert. Moka gelingt es zwar, eine Pistole und Dolche in seiner Prothese ins Flugzeug zu schmuggeln, doch weil ein Geheimdienstoffizier an Bord ist, verschieben die jungen Männer ihr Vorhaben. Moka ändert den Plan, er will ein Flugzeug stürmen. Am 27. Mai 1971 fahren er und seine Mitstreiter in einem Auto zum Flughafen, ausgestattet mit zwei Jagdgewehren. Nach der Passagierkontrolle, die sie aus dem Auto verfolgen, gehen die sechs Mann zum Sturm über, feuern mehrmals in die Luft, um die Besatzung einzuschüchtern. Die Maschine startet, wird von Salven aus Maschinenpistolen getroffen, erreicht aber rasch den ungarischen Luftraum, wird von zwei russischen Abfangjägern eingekeilt, aber die Entführer lassen sich nicht einschüchtern. Sie überfliegen Ungarn, landen in Wien, ergeben sich den österreichischen Behörden, beantragen politisches Asyl, werden aber zu Gefängnisstrafen zwischen 24 und 30 Monaten verurteilt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis gehen alle ihren Weg, entweder in Österreich oder Deutschland.
Allein Moka versucht, seine Frau aus Rumänien herauszuholen. In Jugoslawien wird er gestellt beim Versuch, über die Donau nach Rumänien zu gelangen. Die jugoslawischen Behörden liefern ihn nach Rumänien aus, wo er zu 23 Jahren Haft in Abwesenheit verurteilt worden war. Nach zwölf Jahren schweren Kerkers kommt er nach einer Amnestie 1988 auf freien Fuß. Wieder zu Hause, heiratet Moka seine von ihm auf Druck der Behörden geschiedene Frau ein zweites Mal. Weil über diese Entführung viele Geschichten zirkulierten, hat sich Moka entschlossen, die Geschichte zur Veröffentlichung freizugeben.
Dass Rumänien seine Juden und Deutschen gegen harte Währung verkauft hat, ist längst kein Gemheimnis mehr. Doch dass es auch für diejenigen Deutschen, die illegal über eine oder mehrere Grenzen nach Deutschland gelangt
sind, die gleichen Summen kassiert hat wie für die legal ausgereisten, das ist relativ neu. Über die Freikaufpraktiken hat im Dezember 2009 der aus dem Banat stammene Fernsehjournalist Ernst Meinhardt auf einer Tagung im siebenbürgischen Hermannstadt (Sibiu) berichtet. Meinhardt, Redakteur bei der Deutschen Welle, bezieht seine Informationen von dem Verhandlungsführer der Bundesrepublik Deutschland für den Freikauf der Rumäniendeutschen, Dr. Heinz-Günther Hüsch. 1968 hat die Bundesregierung unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger den Neusser Anwalt mit dieser Aufgabe beauftragt.
Durch die Verhandlungen von Dr. Hüsch sind zwischen 1968 und 1989 rund 210.000 Rumäniendeutsche in die Bundesrepublik ausgereist. Nach anderen Quellen waren es 236.000 Personen. In dieser zweiten Zahl sind wahrscheinlich die sogenannten „illegalen Ausreisen“ enthalten, also Leute, die „schwarz“ über die Grenze gegangen oder die von Besuchsreisen nicht mehr heimgekehrt sind. Aber auch für diese „Illegalen“ wurde gezahlt. Wie Meinhardt berichtet, verschweigt Hüsch, wie viel Geld insgesamt für den Freikauf der Rumäniendeutschen bezahlt worden ist.
In einer Verhandlungsrunde am 25. April 1968 hat Rumänien folgende Ablösebeträge verlangt: „Kategorie A (normaler Mensch): 1.700 DM; Kategorie B (gehobener, ausgebildeter Facharbeiter): 5.000 DM; Kategorie C (Akademiker): 10.000 DM.
Im zweiten, 1970 in Stockholm abgeschlossenen Vertrag verpflichtet sich Rumänien, vom 16. März 1970 bis zum 31. Dezember 1973 mindestens 20.000 Deutsche auswandern zu lassen, und zwar wie folgt: 4.000 Personen vom 16. März. bis 31. Dezember 1970; 6.000 Personen in den Jahren 1971 und 1972; 4.000 Personen 1973.
Wie Meinhardt ferner berichtet, heißt es weiter im Vertrag: „Zur Abgeltung zahlt Rechtsanwalt Dr. Hüsch für seine Auftraggeber eine Entschädigung. Kategorie A: 1.800 DM (Personen, die nicht unter eine spätere Kategorie fallen); Kategorie B1: 5.500 DM (Studenten, die ihr Studium noch nicht beendet haben); Kategorie B2: 7.000 DM (Studenten in den letzten beiden Jahren ihrer Ausbildung); Kategorie C: 11.000 DM (Personen mit abgeschlossenem Studium); Kategorie D: 2.900 DM (abgeschlossene berufliche Ausbildung, aber nicht Hochschule, z. B. Facharbeiter, Meister, Geselle).“ Diese Zahlen bestätigt Erwin Wickert, von 1971 bis 1976 deutscher Botschafter in Bukarest, in seinen 2001 unter dem Titel „Die glücklichen Augen“ veröffentlichten Memoiren.
Der von Hüsch ausgehandelte Vertrag sieht außerdem vor: Männer, die bei der Einreise in die Bundesrepublik das 62. Lebensjahr vollendet haben, und Frauen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, fallen – ohne Rücksicht auf ihre Ausbildung und ihren Beruf – unter die Kategorie A. Weitere Vereinbarung: Höchstens 20 Prozent der Auswanderer werden in die Kategorie D eingeordnet. „Wir wollten damit erreichen, dass die uns nicht die absolut ungebildeten, un-
qualifizierten Kräfte schickten.“ Kommen im Vertragszeitraum mehr als 20.000 Aussiedler in die Bundesrepublik, erhält Rumänien einen Bonus. Bis 30.000 Personen: drei Millionen DM; bis 40.000 Personen weitere vier Millionen DM. Zwischenwerte werden proportional verrechnet. Damit sollte Rumänien dazu gebracht werden, den Vertrag einzuhalten.
Die Ablösebeträge haben sich ständig erhöht. Aus einer Akte vom Mai 1983 geht hervor, dass einheitlich 7.800 DM je Aussiedler gezahlt wurden. Kategorien gab es damals nicht mehr. In der letzten Abrechnung vom August 1989 wurde folgender Betrag gezahlt: 8.950 DM je Person, unabhängig vom Status. Wer ohne Erlaubnis in die Bundesrepublik gekommen ist, war nach rumänischer, im Gegensatz zur deutschen Auffassung ein „illegaler Flüchtling“. Rumänischer Standpunkt: Angehörige von „illegalen Flüchtlingen“ können nicht mit dem Argument „Familienzusammenführung“ die Ausreise beantragen. Rumänien teilte mit, dass solche Leute nie eine Ausreiseerlaubnis erhalten würden. Dr. Hüsch schlug seinen rumänischen Verhandlungspartnern vor, „Illegale“ nachträglich zu legalisieren. Deutschland würde solche Fälle dann so betrachten, als fielen sie unter das Abkommen. Und Deutschland würde für diese Leute genauso bezahlen wie für legal ausgereiste. Rumänien akzeptierte das. Es wurden folgende Preise vereinbart: Kategorie A: 4.000 DM, Kategorie B: 7.800 DM, Kategorie C: 8.950 DM. Für Heiratsgenehmigungen wurde allerdings nicht gezahlt.
Am 4. Dezember 1989 hat Rumänien alle Verträge gekündigt. Am 25. Dezember 1989 wurden Elena und Nicolae Ceau mber 1989 erklärte die rumänische Übergangsregierung die Ausreise für frei. Damit war das Thema Freikauf vom Tisch, ebenso die Flucht über die Westgrenze.
Johann Steiner