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Flucht aus Titos Lager
Von Herbert Prokle
In zahllosen Formularen, Dokumenten oder Firmenakten steht in verschiedenen Sprachen immer wieder die Frage nach dem Geburts anat; und damit ist der Punkt erledigt. Vielleicht noch einmal die Frage: „Wo liegt denn das?“ Wer aber macht sich schon Gedanken über den Weg, den der Antwortgebende zurücklegen musste, um heute irgendwo in der Welt diesen Geburtsort nennen zu können, ein Weg, der immer eine Leidensstrecke einschließt. Wenn die für dieses harte Schicksal Verantwortlichen vollen Erfolg gehabt hätten, würde heute niemand mehr „Modosch“ in einen Fragebogen Herbert Prokle schreiben können. Für einen Eingeweihten besagt der Name daher sofort, dass es sich um einen Überlebenden handelt; einen Menschen, der zum Martertod verurteilt war, es aber geschafft hat, sich seinen Platz in der heutigen Gesellschaft zu erobern.
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Als im Herbst 1944 die Russen Modosch buchstäblich überschwemmten, war ich elfeinhalb Jahre alt. Zu jung, um die ganze Tragweite zu erkennen, aber doch alt genug, um die sofort einsetzenden Gräueltaten der Tito-Partisanen bewusst mitzuerleben.
Der Umschwung war für alle zu plötzlich gekommen, so dass manches nicht versteckt oder vernichtet werden konnte, was den neuen Machthabern nicht unbedingt in die Hände fallen sollte. Unter anderem war bei uns noch die Hakenkreuzfahne vorhanden, während das Haus voller Russen war - in den ersten Nächten zählten wir mehr als 80 -, die überall nach „Wodka“ suchten. Als meine Mutter endlich unbemerkt zu sein glaubte und die Fahne schnell verbrennen wollte, kam unsere alte Magd, die „Rosa-Neni“ dazu, die der Meinung war, es wäre viel zu schade um den schönen Stoff, sie würde ihn färben und sich etwas davon nähen. Um die Fahne den Augen der uneingeladenen Gäste zu entziehen, wickelte die gute Alte sie sich um den Körper, unter den Rock. Sei es nun ihre bekannte Liebe zu alkoholischen Flüssigkeiten gewesen oder tatsächlich der Wunsch, die Säufer zu beaufsichtigen und von uns abzulenken, sie saß plötzlich in einem der vorderen Zimmer in der Runde der Zecher, lachte und weinte mit ihnen, erzählte ihnen haarsträubende Geschichten über eine ganze Reihe von
Söhnen, die sie nie hatte, die alle im Krieg umgekommen wären, und versicherte den „Towarischi“ (Genossen), dass sie nun alle ihre Söhne waren. Es kam auch vor, dass sie mit einem „Sinko“ (Söhnchen) in die Küche kam, wohin wir uns zurückgezogen hatten, um ihn zu waschen, da er irgendwo in den Dreck gefallen war. Später brachten die wankenden Soldaten dann die „Babuschka“ (Großmütterchen) an, um ihr den gleichen Dienst zu erweisen. Insgesamt hatte „Rosa-Neni“ den Erfolg, dass sich die Russen recht ordentlich benahmen, bis sie umfielen und einschliefen; sie selbst war dann natürlich auch so weit - und wir atmeten erleichtert auf, vor allem auch, weil die Hakenkreuzfahne nicht zum Vorschein gekommen war.
Weniger erfreulich verlief ein „Besuch“ der Partisanen in derselben Nacht. Sie durchstöberten sämtliche Zimmer und zerrissen unter anderem alle Krawatten meines Vaters mit den Zähnen, da es keine „Kultura“ (Kultur) mehr gäbe. Anschließend wurde mein Vater mitgenommen und mit weiteren etwa 25 Deutschen ins Gefängnis geworfen. Wie wir später erfahren haben, sollten alle erschossen werden, gewissermaßen als Einleitung der neuen Situation. Überaschenderweise marschierten plötzlich die Rumänen ein, die hinter den vorrückenden Russen die „befreiten“ Gebiete besetzt halten sollten. Am selben Tag entdeckte ein Siebenbürger Sachse, der als Offizier in der rumänischen Armee diente, die eingekerkerten Deutschen, erkundigte sich nach dem Grund der Freiheitsberaubung und sorgte dann für ihre sofortige Freilassung. Die Rumänen, die nach den russischen Horden erstaunlich diszipliniert und sauber wirkten, stellten die Ordnung wieder her, und für wenige Tage konnten die Deutschen aufatmen. Leider mussten sich die Rumänen zurückziehen, und die „Volksbefreier“ Titos setzten ihr sadistisches Gemetzel verstärkt fort.
Mein Vater war nur ganz kurz „Freiwilliger“ in der SS-Division „Prinz Eugen“, dann wurde er wegen der „kriegswichtigen“ Ziegelei nach Hause geschickt. Den Partisanen gegenüber behauptete er kurzerhand, er wäre niemals deutscher Soldat gewesen, was ihm tatsächlich abgenommen wurde, so dass er nicht nach Großbetschkerek ins Großlager verschleppt wurde, wie alle ehemaligen Soldaten. Stattdessen wurde er kurz vor Weihnachten 1944 erneut verhaftet und in Modosch bei der OZNA (Sicherheitspolizei) eingesperrt, wo er ständig über alles Mögliche verhört und zur Zwangsarbeit geschickt wurde. Die Haft dauerte etwas mehr als einen Monat. Während dieser Zeit wurden alle deutschen Männer von 15 bis 60 Jahren nach Großbetschkerek ins Lager gebracht, darunter war auch mein Bruder Dietmar.
Mein Vater stellte ein Gesuch, in dem er vorgab, Serben während der deutschen Besatzung geholfen zu haben sowie einen französischen Familiennamen zu haben. Diese und andere Münchhausengeschichten wirkten, so dass er zu seiner eigenen Überraschung entlassen wurde, allerdings mit der Auflage, sich gelegentlich zu melden und sich außerdem um die Ziegelei zu kümmern. Der
eingesetzte Kommissar hatte von Ziegelproduktion keine Ahnung, so dass sehr viel Ausschuss produziert worden ist.
Durch intensives Bemühen und Unterstützung einiger befreundeter Serben gelang es meinem Vater, eine Paketaktion für die in Großbetschkerek eingekerkerten Deutschen zu organisieren; er durfte dabei sogar Kutscher spielen. Er wollte in erster Linie meinen Bruder sehen, was auch gelang.
Ich glaube, es war im Februar 1945, als alle Deutschen ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht ins Lager gebracht wurden. Ich weiß noch, wie eines Morgens die Partisanen ankamen und anordneten, wir sollten das Haus sofort verlassen und uns bei Familie Recktenwald melden, deren Haus in einer der Straßen lag, die als Lager ausgewählt worden waren. Nach einigen Tagen kam Nachbarhaus, zu Familie Michael Hoffmann umzuquartieren, weil wir Verwandte seien. Dieser menschliche Grund war von dem Verbrecher sicher nur vorgeschoben, seine wirkliche Absicht aber erfuhr ich nie.
Lediglich ein Anfang
Natürlich war allen klar, dass diese Konzentration der Deutschen in einigen Straßen nur ein Anfang war. Wir lebten noch viel zu gut. In den zugewiesenen Häusern war noch alles vorhanden. Wir sparten nicht mit den Lebensmitteln, weil wir täglich mit dem Ende rechneten. Bald hörten wir von Plänen, Frauen, Männer, Kinder und Alte zu trennen und in verschiedenen Lagern unterzubringen. Mein Vater wollte das nicht mehr abwarten und schlug vor, über die nahe Grenze nach Rumänien zu flüchten. Meine Mutter wollte nicht mitmachen, da mein Bruder nicht bei uns war; sie wollte auf jeden Fall im Land bleiben, war aber dafür, dass mein Vater mit mir nach Rumänien ging. So machten wir beide uns eines Morgens auf den Weg, getrennt natürlich, um nicht aufzufallen. Mein Vater hatte die Erlaubnis, das Lager zu verlassen, um zur Ziegelei zu gehen, und das wollte er ausnutzen. Ich rechnete damit, dass die Posten auf ein einzelnes Kind nicht sonderlich achteten. Wir vereinbarten, uns am Itabeer Brunnen, einem weit außerhalb des Ortes befindlichen Ziehbrunnens zur Versorgung von Mensch und Tier, zu treffen.
Nach wenigen Schritten traf ich meinen Freund Franz Weißmüller, der wissen wollte, wohin ich ging. Ich sagte, zu meiner Kausch-Oma, die noch in ihrem Haus wohnte, weil auch diese Straße zum Lager gehörte. Franz folgte mir, so dass ich wohl oder übel ins Haus gehen musste. Später war ich froh darüber, denn es war das letzte Mal, dass ich meine Großmutter gesehen habe; sie ist mit vielen anderen Alten im Lager verhungert. Ich blieb einige Zeit und verabschiedete mich, ohne ein Wort von der bevorstehenden Flucht zu sagen, von Oma und meinen beiden kleinen Cousinen Edith und Anni Kausch, deren Mutter
nach Russland zur Zwangsarbeit verschleppt worden war, während ihr Vater nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt ist.
Am Ende des Lagers standen mit einem Maschinengewehr bewaffnete Posten. Ich sah einige herrenlose Hunde umherstreunen, raffte Steine, warf nach den Hunden und rannte hinter ihnen her. Die Posten lachten nur, und ich sah zu, dass ich um die Ecke kam.
Am Ortsausgang, in Richtung Stefansfeld (Krajišnik), begegnete mir ein serbischer Bauer, und ich musste seine Frage nach dem Wohin mit einer Notlüge beantworten: „Zur Ziegelei.“ Er bot mir an, mich mitzunehmen, was ich wieder schlecht ablehnen konnte. Am Ziegeleieingang trödelte ich etwas, bis er außer Sicht war; ich hoffte, mich unbemerkt davonmachen zu können. Leider kam aber wieder etwas dazwischen: Eine Frau des Personals sah mich, auch ihr musste ich etwas vorlügen. Von da ab bin ich nicht mehr aufgefallen, und als ich schließlich am Brunnen ankam, ich glaube etwa sieben Kilometer von Modosch entfernt, wartete mein Vater schon auf mich. Wir versteckten uns in einem Maislaubhaufen, um bis zum Abend zu warten.
Später erfuhren wir, dass unser Verschwinden bekannt geworden war und die Partisanen überall nach uns suchten. Soweit wir sehen konnten, kam allerdings den ganzen Tag über niemand in unsere Nähe, woraus ich schließe, dass von den Leuten, die mich gesehen hatten, niemand etwas verraten hatte. Es war Mitte März und noch ziemlich kalt, was wir allmählich umso stärker fühlten, weil wir uns den ganzen Tag nicht bewegen konnten. Es kam hinzu, dass wir in der Eile nichts zu essen mitgenommen und auch keine zusätzliche Kleidung angezogen hatten.
In der Ferne hörten wir Kanonendonner, in Ungarn wurde noch schwer gekämpft, und wir bildeten uns ein, er käme näher. Deshalb hofften wir, dass unsere Heimat bald befreit werde und wir zurück könnten.
Nach Einbruch des Abends warteten wir noch einige Stunden, dann machten wir uns der Grenze auf den Weg. Es war Vollmond, aber zum Glück zogen einige schwere Wolken vorbei. Wenn sie den Mond verdeckten, liefen wir los, um uns sofort wieder in eine Furche zu werfen, wenn er wieder sichtbar wurde. Kurz vor zur Grenze warteten wir längere Zeit; als nichts zu hören und zu sehen war, benutzten wir die schützende Dunkelheit einer größeren Wolke, um schnell hinüberzulaufen.
Bestechliche Grenzer
Nachdem wir die Grenze, wie wir glaubten, weit genug hinter uns hatten, ruhten wir etwas aus. Beim Weitergehen stießen wir auf eine Straße, die parallel zur Grenze zu laufen schien, und wir beschlossen, ihr zu folgen, um nicht wieder nach Jugoslawien zu kommen, da das rumänische Gebiet in jenem Abschnitt nur als schmale Landzunge nach Jugoslawien hineinragt.
Es war ein Fehler, als Flüchtling im Grenzgebiet einer ausgebauten Straße zu folgen; was soll man aber tun, wenn man sich nicht auskennt? Wir waren kaum einige Minuten unterwegs, als einige Hunde auf uns zukamen und dicht dahinter zwei rumänische Grenzsoldaten mit den Gewehren im Anschlag sichtbar wurden. Zum Weglaufen war es zu spät, also gingen wir zu ihnen hin. Der Gruß meines Vaters „Bun ebracht, und als er die Frage, wohin wir gingen, mit „la Foeni“ beantwortet hatte, war sein Rumänisch zu Ende. Selbstverständlich konnten wir uns nicht ausweisen, und die Erklärung unseres Schicksals auf Ungarisch, das einer der beiden verstand, rief anscheinend zwar etwas Mitleid hervor, aber sie bestanden darauf, uns zum Grenzerstützpunkt mitzunehmen. Der Hinweis meines Vaters, dass man uns dann etwa nach Jugoslawien zurückschieben würde, was einem Todesurteil gleich käme, half nichts. Erst, als er erwähnte, dass er 15.000 Lei in der Tasche habe, wurden sie hellhörig. Sie wollten alles haben; mein Vater bot 10.000, weil wir doch auch etwas brauchten; wir hatten nichts außer der Kleidung am Leib. Schließlich einigten sie sich auf 12.000 Lei, und wir konnten weiter. Das rumänische Geld hatten wir paradoxerweise von serbischen Partisanen erhalten. Während sie sonst nahmen, was sie brauchten, ohne jemals ans Bezahlen zu denken, hatten sie anscheinend einen Mohnschmuggel nach Rumänien organisiert, und den bezahlten sie seltsamerweise. Natürlich hieß es immer nur, wir brauchen soundsoviel Sack Mohn, eine Widerrede wurde nicht erwartet. Einmal hatten sie kein jugoslawisches Geld und ließen kurzerhand die 15.000 Lei zurück. Wahrscheinlich retteten sie uns dadurch vor ihnen selbst, denn wären wir von Rumänien ausgeliefert worden, wäre uns ein grausamer Tod sicher gewesen.
Die beiden Grenzer hatten uns zwar bestätigt, dass die Straße nach Foeni führe, aber verschwiegen, dass vorher noch der Grenzerstützpunkt zu passieren sei. Als wir uns ihm näherten, schlugen mehrere Hunde an, doch wir konnten noch rechtzeitig querfeldein das Weite suchen. Dabei hatten wir eigentlich nur die Absicht, einen großen Bogen um das Grenzerhaus zu schlagen, um dann auf der Straße weiterzugehen. Die Felder waren aber über weite Strecken überschwemmt, und wir suchten einen Weg am Wasser vorbei. Dadurch kamen wir immer weiter von der ins Auge gefassten Richtung ab; schließlich blieb uns nichts weiter übrig, als die Schuhe auszuziehen, die Hosen hochzukrempeln und durch das Wasser zu waten. Eine hauchdünne Eisschicht gab bei jedem Schritt nach und ließ uns stellenweise bis zum Knie in Wasser und Schlamm versinken.
Nach langem, anstrengendem Waten, kamen wir an einen Strohschober und beschlossen, die Nacht dort zu verbringen. Wir hatten die Orientierung verloren und befürchteten, nach Jugoslawien zurückzulaufen, zum anderen waren wir völlig durchnässt und durchfroren. Ich zitterte am ganzen Leib; wir erhofften etwas Schutz und Wärme. Wir vergruben uns dicht aneinandergedrängt im
Stroh und schliefen sogar ein. Die Folgen dieser Nacht stellten sich später ein: Ich hatte monatelang Blasenentzündungen.
Bei Tagesanbruch erkannten wir, dass wir offensichtlich im Kreis gelaufen waren. Foeni lag vor uns, die Straße führte in der Nähe vorbei, auch das Grenzerhaus war deutlich zu erkennen. Wir rieben uns den Schlamm mit dem schon so nützlich gewesenen Stroh von Kleidern und Schuhen und machten uns auf den Weg nach Foeni. Außerhalb der Ortschaft war uns niemand begegnet. Wir hatten auch versucht, irgendwelche Hindernisse zu nutzen, um vom Grenzerhaus nicht gesehen zu werden. Weil wir annahmen, dass die Grenzer-Unterkunft an der Hauptstraße von Foeni lag und wir kein Verlangen hatten, unseren nächtlichen „Freunden“ wieder zu begegnen, wählten wir eine Seitenstraße, um den Ort zu durchqueren. Leider hatten wir das Pech, in eine vorwiegend von Serben bewohnte Straße zu kommen. Trotz der frühen Stunde waren schon viele Leute unterwegs. Ihre Blicke waren so vielsagend, dass wir schnell in eine andere Straße wechselten.
Am Vortag hatten wir keinen Bissen gegessen und keinen Schluck getrunken. Ich vergrößerte nun die Sorgen meines Vaters noch damit, dass ich dauernd wiederholte: „Ich habe Hunger, ich habe Durst“. Dadurch ließ er sich dazu verleiten, vor einem Haus stehenzubleiben, wo sich zwei Frauen rumänisch unterhielten und nach einem Gruß einfach „pâine“ (Brot) zu sagen, eines der wenigen Wörter, die er von dieser Sprache kannte. Als Hinweis, dass wir nicht bettelten, zeigte er mit erhobener Hand einen Geldschein. Die beiden schnatterten noch einiges vor sich hin, wobei mehrmals das Wort „Iugoslavia“ fiel und verschwanden dann im Haus. Wir haben niemals erfahren, ob sie uns tatsächlich Brot bringen wollten; der Name unseres bisherigen Heimatlandes war für uns eine gefährliche Drohung, wir machten uns schnell aus dem Staub. Als wir uns schon dem Ortsausgang näherten, hörten wir plötzlich einige deutsche Worte neben uns. Sofort fasste mein Vater nach der Hoftürklinke, zog mich mit in den Hof hinein und fragte die etwas erstaunt blickenden Leute: „Seid ihr Deutsche?“ Als diese bejahten, ging mein Vater sofort auf das Haus zu und fragte: „Bitte, können wir dort sprechen?“ Daraufhin erzählten wir unsere Geschichte. Wir erhielten zu essen, konnten uns reinigen und etwas ausruhen, dann ging es mit wertvollen Ratschlägen und guten Wünschen unserer freundlichen Helfer weiter in Richtung Neupetsch (Peciu Nou).
Gegen Abend kamen wir dort an, wo wir uns zu entfernten Verwandten durchfragten. Wir wurden auch dort sehr freundlich aufgenommen und aufgefordert, länger zu bleiben. Mein Vater wollte aber unbedingt weiter, nach Temeswar. Wir blieben nur eine Nacht. Am nächsten Morgen wurden wir auf ein Pferdefuhrwerk verfrachtet, das „in die Stadt“ auf den Markt fuhr. Dadurch kamen wir schneller und bequemer nach Temeswar, was mir nach den langen Fußmärschen sehr willkommen war.
Nachdem wir uns von den Marktleuten verabschiedet hatten, schlenderten wir noch etwas umher, kauften uns ein Kilogramm Äpfel und beschlossen, nur noch Ungarisch zu sprechen. Wir hatten jetzt das Gefühl, nicht mehr aufzufallen. Mein Vater fand sich in Temeswar noch gut zurecht, so dass wir uns ohne Fragerei auf den Weg zu meiner Tante machen konnten. Ich hatte vorher, außer Großbetschkerek, keine Stadt gekannt; war dort das Fiakerfahren das große Erlebnis, so lernte ich jetzt staunend die „Elektrische“, die Straßenbahn, kennen. Sie bimmelte mühsam durch die Straßen, kam mir aber doch viel zu schnell an unser Ziel, denn ich wäre gerne noch weiter gefahren.
Meine Tante, Maria Anheuer, war sprachlos, als wir plötzlich vor ihr standen. Auch meine Großtante, Anna Kausch, war eben zu Besuch. Die Begrüßung verlief nicht ohne Tränen.
Wir blieben etwa zwei Wochen in Temeswar, abwechselnd bei Tante und Großtante, konnten uns aber keineswegs sicher fühlen, weil sie Russen einquartiert hatten, und vor allem wegen ihrer Mieter, von denen einige nicht gerade deutschfreundlich waren. So entschloss sich Vater, der Einladung eines Schulfreundes, Hans Marschall, nach Bogarosch (Bulg Recht angenommen, dass wir in dieser rein deutschen Gemeinde von etwa 2.500 Einwohnern besser untertauchen konnten. Mein Vater half seinem Freund in der Landwirtschaft, während ich mit den beiden Söhnen unseres Gastgebers schnell Freundschaft schloss.
Unterschlupf in Bogarosch
Nach zwei bis drei Monaten erreichte uns eine eilige Warnung: Irgendwie hatten die Gendarmen von uns erfahren. Wir sollten schnell verschwinden. Eine nicht sehr furchtsame Bauersfrau sagte kurz entschlossen: „Dann kommt ihr eben zu uns“. Wir übersiedelten zu Familie Engelmann, und ich war nach kurzer Zeit behütet wie ein eigener Sohn bei meiner unvergesslichen „Bäsl Mariann“ und bei „Vetter Ludwig“. Die beiden alten Leute waren allein. Ihr einziger Sohn war „irgendwo“ beim deutschen Militär, sie wussten nichts von ihm. Die Schwiegertochter war nach Russland verschleppt worden, und niemand wusste, ob sie noch lebte. Enkel hatten sie noch keine. Vetter Ludwig war zwar sehr rüstig, aber die Hilfe meines Vaters kam ihm gelegen. Doch sie hatten uns nicht deswegen aufgenommen. Es war allein der Wunsch, zu helfen. Während der Monate bei Familie Engelmann stellten sich bei mir die negativen Folgen der Flucht in der kalten Märznacht ein, aber „Bäsl Mariann“ war nichts zu viel. Sie trieb eine Apothekerin auf, die Medikamente zusammenmixte, weil es fast gar nichts mehr gab. Die Engelmanns bezeichneten mich als ihren zweiten Sohn. Als ich fast 20 Jahre später meinen Besuch bei ihnen in Westfalen angekündigt hatte, stand Vetter Ludwig den ganzen Tag am Fenster und wartete auf
mich, obwohl er wusste, dass ich erst am Abend kommen würde. Und Bäsl Mariann war so glücklich, dass sie abwechselnd lachend und weinend von sämtlichen Bekannten erzählte und zwischendurch kochte und Kuchen für mich backte.
Es würde zu weit führen, all die guten Leute aufzuführen, bei denen ich in Bogarosch wie zu Hause war; alle kannten uns, und alle waren bereit, zu helfen, nicht nur uns, sondern auch noch einer Reihe von deutschen Soldaten, die auf dem Transport nach Russland entflohen waren und sich hier versteckt hielten. Die Bogaroscher Bauern haben viel Geld ausgegeben, um „reichsdeutschen“ entflohenen Kriegsgefangenen zu helfen, von denen nicht alle diese Opferbereitschaft zu danken wussten. Vermittler bei diesen Ausgaben war Vater. Bereits bei unserem Aufenthalt in Temeswar hatte er Verbindung zu rumänischen Offizieren aufgenommen, die echte Papiere mit echten Stempeln, aber eben für falsche Leute mit falschen Namen beschafften. Wie sie sagten, weil sie Russen und Kommunisten hassten und den Deutschen zugetan waren. Allerdings kostete jeder Ausweis eine sehr beachtliche Summe. Nach und nach erhielten alle Flüchtlinge in Bogarosch - etwa 20 bis 25 ehemalige Soldaten, mein Vater und ich - ihre Ausweise, die alle von Bogaroscher Bauern bezahlt worden waren. Weil in den damaligen unruhigen Nachkriegsjahren sehr viele Razzien stattfanden, besonders in Temeswar und in den Zügen, retteten uns die Papiere oft vor der Entdeckung. Sie wurden immer mit kritischen Augen geprüft und für richtig befunden.
Leider können weder echte noch falsche Dokumente einen dummen Inhaber erleuchten. So geschah es eines Nachmittags, dass einer der Flüchtlinge im Gasthaus saß, um sich an einem guten Schluck zu erfreuen, als plötzlich die rumänischen Gendarmen, die nur ein- bis zweimal wöchentlich nach Bogarosch kamen, eintraten, in der Absicht, auch einen zu trinken. Statt sich möglichst unauffällig zu benehmen und nach einiger Zeit wie selbstverständlich zu verschwinden, fing der bereits angetrunkene ehemalige Soldat an, die Rumänen anzupöbeln und sich zu brüsten: „Mir könnt ihr nichts tun, ich habe ja meine Papiere“. Schließlich wurde er verhaftet und verriet im Verhör seine Kameraden. Vermutlich wurde sein Ausweis irgendwohin zur Untersuchung eingeschickt, denn Monate später begannen Fahndungen nach meinem Vater.
Weil Bogarosch praktisch schutzlos war - die Gendarmen blieben niemals über Nacht und alle jungen Männer im wehrfähigen Alter waren weg -, gab es nachts oft Überfälle von benachbarten serbischen oder rumänischen Gemeinden aus, wobei ganze Häuser ausgeräumt und vor allem Pferde gestohlen wurden. Aus diesem Grunde hatten die alten Männer einen Wachdienst organisiert. Vetter Ludwig musste in jener Nacht auf Wache gehen, als der Flüchtling im Gasthaus verhaftet worden war, wovon wir allerdings noch nichts wussten. Bei Familie Engelmann war außer uns auch ein ehemaliger Soldat aus Paderborn einquartiert. Wir saßen alle zusammen in der Küche, während Bäsl Mariann im großen Trog den Brotteig vorbereitete. Es war etwa 22 Uhr, als die Hunde so
stark bellten, dass wir jemand am Hoftor vermuteten. Weil Vetter Ludwig weg war, bat Bäsl Mariann meinen Vater, nachzusehen. Er ging in der stockdunklen Nacht über den Hof zum Tor, bevor er dieses jedoch erreicht hatte, hörte er, ohne etwas sehen zu können, schnelle Schritte auf sich zukommen, wurde zur Seite geschoben und sah, als er sich umdrehte, zwei Mann in rumänischer Uniform vor dem Lichtschein der offenen Küchentür. Wir fuhren zusammen, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und der Wachtmeister mit der Pistole in der Hand hereinstürzte, während der zweite mit dem Gewehr im Anschlag an der Tür stehen blieb. Hätte ich nicht um meinen Freund Werner gebangt, so wäre es mir kaum gelungen, ein Lachen zu unterdrücken, über die feige übervorsichtige Art, wie sich der bewaffnete Wachtmeister langsam an den verdutzt mit erhobenen Händen dastehenden deutschen Soldaten heranschob, um ihn nach versteckten Waffen zu untersuchen. Als er nichts fand, war er sichtlich erleichtert. Der Soldat meldete ihm, dass der Mann, der ihnen entgegengekommen war, nicht zurückkehrte, sondern im Laufschritt nach hinten im dunklen Hof verschwunden war. Bäsl Mariann erklärte, es wäre der Nachbar gewesen, der sicher vor Schreck davongerannt und hinten über den Zaun in seinen eigenen Hof gesprungen sein dürfte. Der Wachtmeister war damit zufrieden, sah mich kaum an und zog mit seinem Gefangenen ab. Aus alledem ist zu schließen, dass nur der deutsche Soldat, nicht aber mein Vater und ich, verraten und gesucht wurde.
Wie wir später hörten, gelang es den Rumänen in dieser Nacht, vier der verratenen Flüchtlinge gefangenzunehmen. Das erhoffte Lob für ihre Tüchtigkeit wurde den tapferen Gendarmen aber nicht mehr zuteil, und die Angst des Wachtmeisters war doch wohl begründet: Auf dem Weg nach Temeswar entwaffneten die vier Gefangenen ihre Begleiter und kamen nach etwa zwei Wochen nach Bogarosch zurück, diesmal allerdings in andere Häuser. Vater war der Ort nun nicht mehr geheuer, er ging zurück nach Temeswar, wo er in der Anonymität der Großstadt doch leichter untertauchen konnte. Ich blieb vorerst in Bogarosch, allerdings wohnte ich abwechselnd bei den Familien Engelmann und Schmitt (Vetter Sepp und Bäsl Kathi), um bei einem eventuellen neuen Verrat nicht so leicht gefunden zu werden. Mein Vater hatte in Freidorf bei Temeswar bei einer bekannten Familie Unterschlupf gefunden und betrieb von dort aus verschiedene „Geschäfte“. Einmal kaufte er in Bogarosch Schweine, schlachtete sie beim Verkäufer und fuhr mit der fertigen Wurst, Schinken, Speck und Fleisch nach Temeswar, wo er alles mit gutem Gewinn verkaufen konnte. Obwohl Vater zu Hause niemals selbst schlachtete, machte er jetzt alles allein, und anscheinend so gut, dass er in Temeswar als Metzgermeister angesehen wurde und zufriedene Kunden hatte. Es war allerdings sehr anstrengend, jeweils ein ganzes Schwein in Handkoffern im Zug nach Temeswar zu schaffen und stets mit dem Risiko verbunden, entdeckt und des Schwarzhandels beschuldigt zu werden. Ab und zu waren auch Bestechungen erforderlich, und es gab
zum Glück keinen Beamten, der nicht gerne etwas nahm und zufrieden abzog. Außerdem handelte mein Vater auch mit Devisen. So konnte er nicht nur zum Unterhalt der Familie W. in Freidorf beitragen, sondern uns kleiden und einiges sparen, das in US-Dollar und Reichsmark angelegt wurde, weil unser Ziel inzwischen Deutschland war. Uns war klar, dass es kein Zurück mehr gab.
Frau und Kind aus dem Lager geholt
Anfang 1945 hatten wir als Jugoslawien-Flüchtlinge in Rumänien noch „Seltenheitswert“, nach und nach kamen aber immer mehr. Von Modoschern und anderen persönlichen Bekannten erfuhren wir manchmal etwas über meine Mutter und meinen Bruder, die immer noch in Titos Lagern waren. Es war natürlich ein Trost, zu wissen, dass sie überhaupt noch am Leben waren - im Gegensatz zu vielen Tausenden von anderen Landsleuten, einschließlich naher Verwandter.
Vater lernte zufällig einen Landsmann kennen, der sehr mutig, aber in dem Augenblick verzweifelt war: Er war als deutscher Soldat in russische Gefangenschaft geraten, entfloh mehrmals und wurde immer wieder gefangen. Er gab aber nicht auf, und schließlich konnte er sich bis Rumänien durchschlagen. Dort erfuhr er, dass seine Frau und sein kleiner Sohn in verschiedenen Lagern in Jugoslawien waren. Kurz entschlossen, machte er sich auf den Weg, sie zu suchen. Er sprach zwar akzentfrei Serbisch und hatte auch einige serbische Freunde, die ihm halfen, trotzdem war es ein ungeheures Wagnis; eine Entdeckung hätte einen sicheren qualvollen Tod bedeutet. Sein Mut wurde belohnt; er fand Frau und Kind, entführte sie aus den Lagern und brachte sie sicher zu Verwandten nach Rumänien. Die Freude dauerte aber nicht lange, da die Frau bei einer Razzia verhaftet und zur Auslieferung an Jugoslawien verurteilt wurde. Sie saß in Temeswar im Gefängnis, wo Jugoslawiendeutsche gesammelt und gruppenweise ausgeliefert wurden.
Die beiden Männer trafen eine Vereinbarung: Wenn es Vater gelänge, die Frau aus dem Gefängnis zu befreien, würde der andere nach Jugoslawien gehen, um meine Mutter und meinen Bruder zu holen.
Weil der Auslieferungstermin bereits feststand, musste Vater den ursprünglichen Plan, sie mit einer größeren Summe loszukaufen, aufgeben. Dies, weil die Bestechlichen nicht wussten, wie sie eine Entlassung rechtfertigen sollten, ohne Verdacht zu erregen. So entschloss sich mein Vater zu einem anderen, wesentlich gefährlicheren Weg. Durch Bestechung der Posten konnte er die Frau sprechen und ihr von dem Befreiungsplan Kenntnis geben. Er ging jeden Tag hin, blieb immer etwas länger und gab den Posten ein stets besseres „Trinkgeld“. Die Leute saßen nicht in Zellen, hinter Gittern, sondern konnten sich bewegen und mussten unter Bewachung auch arbeiten. Die Posten kannten den täglichen Besucher schon und zeigten sich für die willkommene „Aufstockung“ des
kärglichen Soldes soweit erkenntlich, dass sie nicht sonderlich auf ihn aufpassten. Einen solchen Augenblick nutzte mein Vater, um mit der Frau zu verschwinden. Es gelang ihnen, durch sicheres Auftreten das Gefängnis zu verlassen und im Getümmel der Großstadt unterzutauchen. Als die Flucht entdeckt war, gab es Großalarm, insbesondere wurde der Bahnhof besetzt und die Züge durchsucht, aber Vater hatte die Frau schon zu ihrem Mann gebracht. Sie hielten sich für einige Tage versteckt. Als die Frau von der Vereinbarung hörte, wollte sie ihren Mann mit allen Mitteln davon abhalten, noch einmal nach Jugoslawien zu gehen. Sie weinte verzweifelt und wollte ihn nicht wieder in Gefahr wissen, nachdem sie kaum wieder zusammen waren. Er aber sagte: „Ich habe Herrn Prokle mein Wort gegeben, und ich gehe. Er hat sein Versprechen auch erfüllt“.
Wir fuhren zusammen nach Johannisfeld (Ionel) zu unseren Verwandten, wo ich so lange bleiben sollte, bis der gute Mann, wie wir hofften, mit Mama und Dietmar zurückkam. Mein Vater ging inzwischen nach Temeswar zurück. Wir hatten erfahren, dass meine Mutter im selben Lager war, wo der Sohn unseres Freundes „gestohlen“ worden war, während sich mein Bruder in dem Ort befinden sollte, wo seine Frau gewesen war. Demnach hatte der Mann schon mit beiden Lagern seine Erfahrungen gemacht, was das Unternehmen erleichtern sollte; er machte sich also zuversichtlich auf den Weg.
Nach einigen Tagen klopfte es kurz vor Morgengrauen am Fenster, und wir sprangen alle aufgeregt aus den Betten, das bange Warten war vorbei. Ich konnte voller Freude meinen Bruder umarmen und dazu auch dessen Freund Anton Ziel begrüßen, der sich angeschlossen hatte. Nach meiner Mutter aber schaute ich vergeblich aus; wie unser Freund sagte, war sie nicht mehr in dem angegebenen Lager, niemand hatte ihm sagen können, wohin sie verlegt worden war. Es war also nur ein halber Erfolg, und doch schulden wir, insbesondere mein Bruder Dietmar, dem guten, tapferen Mann zeitlebens Dank. Leider habe ich seinen Namen vergessen.
Mein Bruder und Anton Ziel gingen zunächst mit mir nach Bogarosch, wo alle bei Familie Schmitt Unterschlupf fanden und dafür Vetter Sepp bei der landwirtschaftlichen Arbeit halfen. Später gingen beide nach Guttenbrunn (Z . Der Krieg war nun schon ein Jahr zu Ende, das Chaos wurde allmählich unter Kontrolle gebracht, und alles „Illegale“ wurde in dem Maße schwieriger, wie Regierungen und Behörden ihre Position organisierten und festigten. Es war klar, dass es für uns kein Zurück in die Heimat gab, und ebenso wenig konnten wir das Untertauchen in Rumänien mit falschen Papieren als wünschenswerten oder tragbaren Dauerzustand betrachten. Wir sahen nur noch einen Weg vor uns: Nach Deutschland, zurück in die Urheimat, wo man wenigstens nicht mehr verfolgt, gefoltert und ermordet wurde, allein deswegen, weil man zufällig Deutsch als Muttersprache hat. Der weite Weg von Rumänien
nach Deutschland drohte nach und nach versperrt zu werden, weshalb es nicht ratsam schien, noch lange zu warten.
Wegen der Geschichte mit den falschen Dokumenten wurde nach meinem Vater gefahndet. Das war ein zusätzlicher wichtiger Grund, Rumänien zu verlassen. Wenige Wochen nach unserer Ausreise war die Geheimpolizei bei Verwandten, um uns auszuheben. Von Mutter hatten wir keine Nachricht mehr, sonst hätten wir wohl noch gewartet.
Alles, was wir inzwischen erspart hatten, wurde in Reichsmark, US-Dollar, Zigaretten, Schinken und Speck angelegt. Um nicht ganz allein den Weg antreten zu müssen, wurde noch ein jüngerer Deutscher aus dem Buchenland (Bukowina) namens Josef P. in unsere Fluchtgruppe aufgenommen; seine guten Rumänischkenntnisse sollten später von Nutzen sein. Außerdem waren wir „moralisch“ verpflichtet, noch eine Frau mitzunehmen, weil uns Verwandte von ihr auch geholfen hatten. Wir waren also insgesamt fünf Personen. Die drei Männer, mein Bruder war inzwischen 17 Jahre alt und konnte auch schon als solcher angesehen werden, schleppten in Rucksäcken und Koffern die schweren Sachen, während ich ein ziemlich großes, aber leichtes Paket mit Zigaretten unterm Arm und alles Geld in den Taschen hatte. Die Frau hatte nur ihre Kleider zu tragen. Wir fuhren mit dem Zug nach Tschanad, von wo wir nachts über die Grenze nach Ungarn gehen wollten. Um in dem relativ kleinen Grenzort als Fremde mit viel Gepäck nicht zu großes Aufsehen zu erregen, wurde vereinbart, dass wir vom Bahnhof bis zu einem bestimmten Haus, in dem wir vorübergehend Unterschlupf finden sollten, getrennt gehen. Für den Fall, dass etwas schief ging, sollten wir uns zum Bruder unseres Modoscher Landsmannes Dr. Anton Jung durchfragen. Da nur Vater den Weg kannte, ging er voraus. Ihm folgten in Sichtweite die Frau und mein Bruder; unser dritter Mann und ich bildeten den Schluss. Plötzlich sah ich, wie die vor mir Gehenden von rumänischen Grenzsoldaten angehalten wurden. Zwischen ihnen und mir war noch eine lange Reihe anderer Reisender, hauptsächlich Marktfrauen mit Körben, so dass ich nicht aufgefallen bin. Ohne Zögern wandte ich mich an der nächsten Straßenecke nach rechts, um erst einmal von dem Gefahrenpunkt wegzukommen. Ich ging durch einige Straßen, ohne mich umzusehen; ich wollte den Eindruck erwecken, dass ich genau wusste, wo ich war und wohin ich zu gehen hatte. Tatsächlich war mir aber gar nicht wohl zumute, ich hatte keine Ahnung, wo ich überhaupt war.
An einer Ecke standen zwei ältere Männer und unterhielten sich auf Deutsch. Ich wagte es, sie nach dem Haus der Jungs zu fragen, worauf die Gegenfrage kam, „welcher Jung“. Es gab drei, und ich kannte keinen Vornamen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu sagen, „ich glaube, der, den ich suche, hat einen Bruder in Jugoslawien“. Das war alles, was ich wusste, sie aber wussten nun, welchen ich suchte, und erklärten mir den Weg, der nicht mehr weit war. Jetzt
fragte mich noch der eine der beiden: „Gehörst du auch zu denen da drüben?“ Hinter mir, auf der anderen Straßenseite war die Grenzerkaserne, was ich vorher nicht bemerkt hatte, und davor standen außer meinem Vater alle Fluchtgefährten; ihre bewaffneten Wächter diskutierten untereinander. Ich war ganz schön erschrocken, schöpfte aber Hoffnung aus der Tatsache, dass mein Vater nicht dabei war, weil ich darauf vertraute, dass er etwas unternahm. Wie sich später herausgestellt hat, hatte er seine Koffer beim Auftauchen der Grenzer in die Körbe einiger Marktfrauen geworfen und war dann ohne Gepäck, plaudernd mit ihnen dahin geschlendert, wodurch er nicht auffiel und durchkam. Ich behauptete, die Leute nicht zu kennen. Ob man mir glaubte, weiß ich nicht. Ich bedankte mich für die Auskunft und zog schleunigst weiter. Als ich in dem mir bezeichneten Haus ankam, brauchte ich nicht lange zu erklären, wer ich sei. Dr. Jung war, was wir nicht gewusst hatten, inzwischen ebenfalls aus Jugoslawien geflohen und hielt sich hier bei seinem Bruder versteckt. Er nahm sich meiner sofort an, und ich erzählte ihm meine Geschichte. Ich schlief in seinem Zimmer, während er die ganze Nacht auf und ab ging. Offensichtlich machte er sich große Sorgen, denn von meinem Vater war keine Nachricht gekommen und von den Verhafteten natürlich erst recht nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass er, selbst Flüchtling, der sich nicht sehen lassen durfte, nicht begeistert war von dem Gedanken, ein Kind in Obhut nehmen zu müssen.
Am nächsten Morgen kam aber dann doch ein Bote meines Vaters, um mich abzuholen. Ich fand zu meiner Freude alle wieder versammelt. Die Sprachkenntnisse unseres Freundes hatten zu einem schnellen Handel mit den Rumänen geführt, und die drei kamen sogar ziemlich billig davon. Nun warteten wir alle sehnsüchtig auf den nächsten Abend, um nach Ungarn aufzubrechen. Bald nach Einbruch der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg. Es war stockdunkel, und bald hat es in Strömen zu regnen begonnen, so dass es im aufgeweichten Boden immer schwieriger wurde, mit den schweren Rucksäcken, Koffern und Paketen vorwärts zu kommen. Mein Vater und unser Gefährte aus dem Buchenland hatten sich den Weg genau beschreiben lassen, so dass sie trotz der Dunkelheit sicher vorausschritten; die Entfernung war aber offensichtlich doch unterschätzt worden, und es verging Stunde um Stunde, ohne dass wir die Grenze erreichten. Immer häufiger mussten Ruhepausen eingelegt werden, wobei ich vor Müdigkeit vom Rucksack, auf dem ich saß, einschlief und in den Schlamm fiel. Alles Anfeuern und der feste Wille halfen nichts; wir taumelten nur noch dahin, und schließlich kamen doch Zweifel auf, ob wir nicht von der Richtung abgekommen seien. Wir erreichten schließlich einen mit Buschwerk bestandenen Graben, wo wir uns versteckten, um uns am nächsten Tag neu zu orientieren. Weder Regen noch Schlamm hinderten uns daran, sofort einzuschlafen. Der nächste Morgen brachte eine unangenehme Überraschung: Wir lagen dicht vor der Grenze; keine 200 Meter von uns entfernt stand ein besetzter
Wachturm. Wir mussten den ganzen Tag unbeweglich in der glühenden JuniSonne liegen, denn es hatte längst zu regnen aufgehört. Der ganze Schinken und Speck in unserem Gepäck nutzte uns wenig, denn der quälende Durst ließ ein Hungergefühl nicht aufkommen. Seit diesem Tag ist mir klar, dass man tatsächlich ohne Nahrungsaufnahme durchhalten kann, aber ohne Flüssigkeit ist der Mensch schnell am Ende.
Am Spätnachmittag setzte wieder zaghafter Regen ein, und wir versuchten, mit einem alten Taschenbecher die an den Blättern hängenden Tropfen einzusammeln. Weil diese Bemühungen nicht viel einbrachten, leckten wir die Blätter direkt ab; es blieben aber Tropfen, ohne wirkliche Erleichterung für heiße, ausgetrocknete Kehlen.
Allmählich wurde der Regen stärker, und die Nässe steigerte unsere Ungeduld; der unverändert quälende Durst nährte die Hoffnung, einen Brunnen oder ein Haus zu finden, wo wir um Wasser bitten konnten, sobald wir die Grenze überschritten hatten. So wurden alle Bedenken beiseite geschoben, und wir machten uns schon am frühen Abend wieder auf den Weg. Die dichten Wolken gewährten uns wieder absolute, schützende Dunkelheit, und der strömende Regen schien zum Schutz der geplagten Flüchtlinge beitragen zu wollen, denn welcher Grenzer wäre wohl so verrückt, im Freien zu wachen? Wir fühlten den festen Rasenstreifen, der die Grenze bildete, unter den Füßen und versanken dann eben wieder, aber mit großer Erleichterung im Schlamm Ungarns, als ein energisches „Halt“ uns erstarren ließ. Mit erhobener Hand stand dicht hinter uns, kaum mehr als ein Schatten, ein rumänischer Grenzsoldat. Er war eben unterwegs vom Wachturm zum Grenzerhäuschen, wir waren ihm buchstäblich in die Arme gelaufen. Herr P. wollte sich dem Rumänen nähern, um mit ihm leiser sprechen zu können, aber der bestand darauf, dass sich niemand bewegte. Nach längerem Palaver bot der Grenzer an, uns zu führen. Bedingung: Wir mussten vorausgehen, und er bildete den Schluss. Zu spät bemerkten wir den Betrug: Plötzlich wurde es vor uns dunkler, und ehe wir das von hohen Bäumen umgebene Grenzerhaus erreicht hatten, stieß der Grenzer hinter uns einen lauten Schrei aus, worauf etwa 15 Mann herausstürzten und uns umstellten. Wir wurden in einen erleuchteten Raum geführt und erkannten nun, dass die vermeintliche Pistole in der Hand des Grenzers „nur“ ein Seitengewehr war, sonst hatte er keine Waffen. Eventuell hätten wir einfach weitergehen können, wenn wir das gewusst hätten, denn der Mann hatte offensichtlich große Angst und wäre uns kaum in den Weg getreten. Nun war es aber geschehen, und die Halunken machten sich erst einmal daran, unser Gepäck zu untersuchen. Mein Zigarettenpaket interessierte sie besonders, und im Nu hatten sie sich alle bedient. Auf unsere Bitte um Trinkwasser wurde uns eine volle Kanne gereicht, die reihum ging. Einer der Soldaten musste mehrmals hinausgehen, um mehr Wasser zu holen, bis schließlich alle uns erstaunt anstarrten, aber sie verloren die Geduld
nicht und füllten so lange nach, bis unser Durst gelöscht war. Nach 15 Monaten illegalen Aufenthalts in Rumänien waren wir im Begriff, dieses Land zu verlassen, in dem wir unsere Probleme hatten; wir wurden öfter festgenommen, bestohlen und betrogen, mussten bestechen, aber trotzdem sind die Rumänen immer Menschen geblieben und haben uns als Menschen behandelt - ganz im Gegenteil zu den brutalen, blutrünstigen Mordgesellen Titos. Ich will ihnen diese kleinen Schwächen nicht nachtragen, sondern im Gegenteil für die, wenn auch unfreiwillig gewährte Gastfreundschaft danken.
Nachdem unser Gepäck genau untersucht war, durften wir alles einpacken. Wir wurden damit in ein Zimmer gesperrt. Die Verhandlungen begannen; eigentlich hätten sie uns einfach alles wegnehmen können, aber sie verlangten nur einen Teil. Der Sprecher der Rumänen ging ständig hin und her, um uns reduzierte Forderungen vorzutragen und gesteigerte Angebote unsererseits seinen Kameraden zu übermitteln. Einmal sagte er mitten im Gespräch mit Herrn P. zu diesem und meinem Vater: „Wie spät ist es eigentlich?“ Als beide eifrig auf ihre Armbanduhren sahen, stellte er fest: „Übrigens, ich habe keine Uhr“. Herr P. gab ihm seine Uhr, wobei er meinem Vater bedeutete: „Die taugt sowieso nicht viel, behalte Du lieber deine, die ist besser“. Außerdem „verdiente“ der Vermittler noch zehn US-Dollar für sich selbst, wobei wir ihm noch erklären mussten, wo er die in Temeswar umtauschen und wie viel Lei er dafür erhalten konnte. Glücklicherweise hatten sie unsere Taschen nicht untersucht, sonst hätte es sicher zusätzliche Geldforderungen gegeben. Offiziell mussten wir 15 Kleidungsstücke nach unserer Wahl abgeben, wobei alte Unterröcke unserer Begleiterin ebenso mitgezählt wurden wie zu kleine Hemden von mir, eine gewisse Menge Schinken und Speck sowie einen Teil der Zigaretten. Nach mehreren Stunden war der Handel abgeschlossen. Nun gingen zwei Mann erst einmal nachsehen, wo die ungarischen Posten waren - es hatte inzwischen zu regnen aufgehört , und als diese eben in der entgegengesetzten Richtung vorbeigegangen waren, wurden wir schnell aus dem Haus geholt und genau instruiert, wie wir gehen sollten, damit die Ungarn uns nicht erwischten und ebenfalls etwas verlangten.
Diesmal war die „Führung“ echt, und wir kamen ohne Probleme in das erste ungarische Dorf, wo mein Vater ein bestimmtes Haus aufsuchte, dessen Anschrift er schon länger kannte und diese auch schon manchen Flüchtlingen vor uns weitergegeben hatte. Man erhielt dort gegen ein gewisses Kopfgeld Unterkunft und Verpflegung und wurde außerdem mit dem Pferdefuhrwerk nach Segedin (Szeged) gefahren.
Von Segedin fuhren wir mit dem Zug nach Budapest, wo wir bei Frau Galamb, der Schwägerin von Dr. Jung, gut aufgenommen wurden. Im Zug durfte Herr P. den Mund nicht auftun, da er nicht Ungarisch sprach. Unsere Begleiterin hatte einen so ausgeprägten Akzent, dass wir ihr nahelegten, ebenfalls zu schweigen, was aber einige Schwierigkeiten bereitete.
In Budapest
Wir blieben einige Tage in Budapest; mein Vater, der dort die Handelsakademie besucht hatte, versuchte, die Erinnerungen aufzufrischen, während wir anderen die Stadt kennenlernen wollten. Als wir den Zug von Budapest nach Hegyeshalom bestiegen, änderten wir unsere Taktik erneut. Als letztes in der Serie der falschen Papiere hatten wir in Rumänien noch ein Schriftstück erhalten, das uns als nach Deutschland ausgewiesene Volksdeutsche aus Rumänien deklarierte. Wir sprachen jetzt nur noch deutsch und erklärten dem Schaffner unter Vorzeigen unseres Dokumentes, dass wir kein Geld hätten und irgendwie nach Deutschland gelangen mussten. Nach kurzem Überlegen akzeptierte er und ließ uns ohne Fahrkarten weiterfahren. Es ging alles gut, bis kurz vor der Grenze eine russische Kontrolle kam, der unser Papier nicht gefiel, weil es keinen russischen Stempel hatte. Also wurden wir in Hegyeshalom aus dem Zug geworfen und der ungarischen Gendarmerie übergeben. Mit etwa 50 bis 60 anderen „Unerwünschten“ sperrten uns die Ungarn in einen Wartesaal des Bahnhofes, während der Zug nach Österreich weiterdampfte.
Die Tür des Wartesaales war weit geöffnet, und der davor stehende Posten fing an, auf und ab zu gehen, sobald die Russen verschwunden waren. Die Strecken des Ungarn wurden immer länger, und er sah offensichtlich nicht, dass einige die Gelegenheit nutzten, um zu verschwinden. Der „Bewacher“ schien auch nicht zu merken, dass der Saal sich allmählich leerte. Wir enttäuschten ihn wahrscheinlich sehr, denn wir blieben sitzen. Es hätte uns wenig genutzt, davonzulaufen; wir wollten wieder in einen Zug steigen, um nach Österreich fahren zu können. Am Spätnachmittag tauchte endlich ein ungarischer Offizier auf, den mein Vater ansprach und offen nach einer Möglichkeit fragte, von hier weiterzukommen. Wie alle Ungarn, ein glühender Nationalist, war der Offizier erst einmal gerührt, weil mein Vater so hervorragend Ungarisch sprach; hinzu kam eine ausgesprochene Deutschfreundlichkeit und eine Abneigung gegen die Russen. Er versprach ihm, mit dem österreichischen Verantwortlichen des Abendzuges zu sprechen und uns mitfahren zu lassen, wenn dieser einverstanden war. Tatsächlich geleitete uns der Ungar zu seinem Kollegen, als der Zug abfahrbereit war; der Österreicher wollte genau wissen, wohin wir wollten. Wir mussten mehrmals versichern, dass unser Endziel Deutschland und nicht Österreich war, ehe wir die Erlaubnis zum Besteigen des Zuges erhielten. Im Gegensatz zum Ungarn war der Österreicher keineswegs freundlich und wollte unter allen Umständen verhindern, dass wir in Österreich ein Obdach fanden. Der ungarische Offizier wollte nichts von uns annehmen. Erst nach längerem Beharren akzeptierte er ein Stück Speck, um seinen hungernden Kindern eine Freude zu machen.
In Wien wurde uns geraten, uns in einem Auffanglager zu melden, um „offiziell“ nach Deutschland gelangen zu können und nicht etwa in den Straßen auf-
gegriffen zu werden. Wir wollten uns zunächst in einem Lager anmelden, wo schon viele Landsleute waren; als wir aber erfuhren, dass alle seit langem in Österreich festsaßen und offensichtlich irgend eine Vereinbarung bestand, dass Südostdeutsche in Österreich bleiben, während Sudetendeutsche nach Deutschland gebracht werden sollten, verließen wir - allerdings ohne unsere Begleiterin - schleunigst das Lager.
Wir gaben uns als Sudetendeutsche aus Troppau aus und wurden in einem Repatriierungslager für Kriegsgefangene aufgenommen. Ich war das einzige Kind im ganzen Lager und erhielt beim Essenfassen von den netten Schwestern immer das größte Stück Brot. Unsere Registrierkarten wurden zur deutschen Mission gesandt, und wir warteten auf die Einreiseerlaubnis nach Deutschland. Die mehrere Tage dauernde Wartezeit nutzten wir, um etwas von Wien zu sehen.
Weil in dem Riesenlager die unterschiedlichsten Menschen zusammengepfercht waren, von denen kaum jemand so viel Gepäck hatte wie wir, musste allerdings stets einer zurückbleiben, um alles zu bewachen. Bei einer solchen Gelegenheit kamen einige echte Sudetendeutsche zu mir, die Troppau kannten und eine Flut von Fragen über mich niederließen. Ich versuchte, mich, so gut es ging, aus der Schlinge zu ziehen; trotzdem müssen die ehemaligen Soldaten, die verständlicherweise etwas von ihrer Heimat hören wollten, mich für blöd oder aber für einen Schwindler gehalten haben.
Schließlich ging aber alles gut, wir erhielten unsere Karten mit dem deutschen Stempel zurück, wurden mit DDT-Pulver behandelt und mit einer Überdosis Impfstoff gegen Typhus immunisiert, wobei mir fürchterlich übel wurde und mein Bruder umkippte; dann wurden wir in einen unendlich langen Zug verfrachtet, in dem schon viele ausgewiesene Sudetendeutsche mit ihren Habseligkeiten auf die Weiterreise warteten. Vor der Abfahrt gab es noch amerikanische Verpflegung, die nicht zu verachten war, und schließlich schleppte uns die keuchende Lokomotive langsam der deutschen Grenze entgegen. Die Fahrt in dem engen, überladenen Güterwaggon war alles andere als angenehm, und als wir in der darauf folgenden Nacht irgendwo stehenblieben, stiegen viele trotz strömenden Regens aus, um sich die Füße zu vertreten. Plötzlich wurde bekannt, dass wir in Allach waren; niemand sagte uns etwas, der Zug sollte eigentlich bis Westdeutschland fahren. Viele Leute stiegen aber aus, und wir folgten mit unseren Habseligkeiten, fanden in einer Baracke freie Betten, warfen uns darauf und schliefen sofort ein. Wir waren in Deutschland, wir hatten es geschafft.
Wir waren im Durchgangslager München-Allach und hofften sehr, dass wir wirklich bald aus den dürftigen Baracken ausziehen konnten.
In München erfuhren wir vom Schicksal einiger Verwandter und Landsleute. Meine beiden Kusinen Edith und Anni waren in Jugoslawien zusammen mit meiner Kausch-Großmutter ins Internierungslager gekommen. Großmutter verhungerte dort. Die Kinder wurden später in „Kinderheime“ gebracht, wo sie
umerzogen werden und vergessen sollten, dass sie deutscher Herkunft waren. Bei Anni, die erst vier Jahre alt war, wäre der verbrecherische Plan fast vollkommen gelungen. Sie wurde in einer serbischen Familie aufgenommen und glaubte der Frau, dass sie ihre Mutter wäre. Als schließlich meine Tante die Kinder ausfindig gemacht hatte und sie zurückerhalten sollte, weigerte sich Anni, sie als Mutter anzuerkennen. Es ist nur dem erstaunlichen Erinnerungsvermögen und der ungebrochenen Widerstandskraft der wenig älteren Edith zu verdanken, dass sie ihre Schwester nicht im Stich gelassen hat und beide am Ende doch noch zu ihrer Mutter zurückgefunden haben.
Nach einiger Zeit wurden wir mit einem langen Flüchtlingstransport nach Starnberg in Oberbayern verfrachtet und im Flüchtlingslager Funkhaus in Söcking untergebracht. Zusammen mit unserem Buchenland-Deutschen Freund Josef P. belegten wir ein Zimmer, das gerade groß genug war, um die vier amerikanischen Feldbetten aufzustellen und noch einen schmalen Militärspind unterzubringen. Das war im Juli 1946, und niemand hätte geglaubt, dass wir dort fünf Jahre bleiben würden.
Im Lager Funkhaus waren fast ausschließlich sudetendeutsche Familien untergebracht, die eigentlich keine Flüchtlinge wie wir waren, sondern Ausgewiesene. Sie hatten alle von ihren Habseligkeiten etwas mitnehmen dürfen, während wir mit dem begrenzten Inhalt unserer Rucksäcke die Ärmsten waren. Unser akutestes Problem in dieser Zeit war der Hunger. Natürlich litt damals ganz Deutschland darunter, aber die anderen waren immerhin in ihrer Heimat, und manch einer konnte etwas von einem bekannten Bauern erhalten oder aus seinem Gärtchen nehmen; außerdem verfügte jeder doch über das Wenige, das ihm die Lebensmittelmarken bewilligten. Wir erhielten unsere Marken überhaupt nicht in die Hand, und die Lagerverwaltung sorgte in erster Linie für sich selbst, so dass für uns noch viel weniger übrigblieb. Die Bauern aber verkauften uns nichts - im Gegenteil, wir wurden als unerwünschte Zigeuner gehasst.
Von meiner Mutter wussten wir längere Zeit nichts. Erst 1947 erhielten wir die erste Nachricht von ihr aus Rumänien. Ihr war schließlich auch die Flucht aus Jugoslawien gelungen, und am Ende ähnlicher Abenteuer wie der unsrigen ist sie im Funkhaus in Söcking bei Starnberg eingetroffen. Mein Bruder Dietmar hatte vor der Besetzung durch die Russen die 5. Klasse des deutschen Gymnasiums absolviert, während ich in Modosch die 1. Klasse der Hauptschule (entspricht etwa der heutigen Realschule) beendet hatte. Das war im Schuljahr 1943/44, und inzwischen sollte das Schuljahr 1946/47 beginnen. Vater bestand darauf, dass wir beide eine höhere Schule besuchten. Die jüngste Vergangenheit hatte nur zu klar gezeigt, dass man über Nacht jeden Besitz verlieren kann und die einzige Sicherheit für eine ungewisse Zukunft im Erlernten liegt. Unsere Vorbildung konnten wir mit keinem Zeugnis belegen, der sehr aufgeschlossene Direktor Goldate der Starnberger Oberschule nahm uns aber trotzdem auf. Im
September 1946 gingen wir also wieder zur Schule: Dietmar in die 6. und ich in die 2. Klasse. Nach der 2. Klasse wurde ich auf Initiative meiner Klassenlehrerin mit Zustimmung des Direktors in die 4. Klasse versetzt, womit ich eines der beiden verlorenen Jahre wieder aufgeholt hatte. Es gab also nicht nur Ablehnung in Deutschland, sondern auch Verständnis und Hilfe.
Der Bericht ist in leicht gekürzter Form dem Modoscher Heimatblatt entnommen, in dem er in Fortsetzungen erschienen ist. Im Originalbericht hat der Verfasser durchgehend Temeschburg verwendet. Der Einheitlichkeit wegen hat der Verlag Temeschburg durch Temeswar ersetzt.
Herbert Prokle wurde am 19. Juni 1933 in Modosch/Banat geboren. Nach dem Abitur studiert er Allgemeinen Maschinenbau an der Technischen Universität München, 1957 Abschluss als Diplom-Ingenieur. Während des Berufslebens ist die technische Ausbildung mit Schwerpunkt Thermodynamik zwar eine wichtige Basis, Herbert Prokle widmet sich aber mit Vorliebe dem Verkauf, internationalen Beziehungen und Management, wozu Fremdsprachen, Verhandlungsgeschick, kaufmännische und juristische Kenntnisse beitragen. Von 1958 bis 1960 ist er bei Blohm & Voss in Hamburg angestellt, anschließend bis 1992 im BBC/ABB-Konzern, zeitweise mit Sitz in Mannheim (Vertriebsleiter Gesamtamerika), zeitweise in Übersee, insbesondere in Mexiko. Aufstieg bis zum Generaldirektor einer Konzerngesellschaft in Mexiko und Aufsichtsratsmitglied. Seit Januar 1993 im Ruhestand, jedoch weiterhin als Berater von ABB und anderen Firmen wie Babcock & Wilcox de Mexico, Siemens AG, Dillinger Stahlbau tätig. 1994 Rückkehr nach Deutschland, verstärktes Engagement in der Landsmannschaft der Donauschwaben. Seit 1991 unterstützt er die Donauschwäbische Kulturstiftung München durch persönliche Spenden, seit 1999 ist er aktiv in deren Arbeitskreis Dokumentation; als Beirat und zeitweise Vorstandsmitglied (2001) der Kulturstiftung am Taschenbuch „Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948“ beteiligt; Initiator und Mitherausgeber des Buches „Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948“ von Professor Dieter Blumenwitz; am englischsprachigen Buch „Genocide of the Ethnic Germans in Yugoslavia“ als verantwortlicher Projektleiter und Hauptautor beteiligt. Autor des 2008 erschienenen Buches „Der Weg der deutschen Minderheit Jugoslawiens nach Auflösung der Lager 1948“. Von 2001 bis 2004 Stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben in Deutschland. Verfasser zahlreicher Artikel für die Vertriebenenpresse.