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Die Lichter von Kikinda vor Augen

Dr. Wulf Rothenbächer:

Als Dr. Wulf Rothenbächer Anfang Mai 1970 zusammen mit seiner späteren Frau Heidemarie die Banater Gemeinde Gottlob nach einem etwa acht Kilometer langen Marsch hinter sich gelassen hatte, war die Freiheit zum Greifen nahe. Vor den beiden Verliebten waren die Lichter von Kikinda im serbischen Teil des Banats zum Greifen nahe. Ihr Bekannter aus der DDR und der rumänische Fluchthelfer hatten es geschafft, die damals ziemlich schwach bewachte Grenze zu überwinden. In einem Sumpf vor dem Grenzstreifen hatten sich Heidemarie und Dr. Wulf Rothenbächer die vier Fluchtwilligen verloren, weil Rothenbächers Freundin Heidemarie nicht so rasch durch den knietiefen Morast waten konnte wie die Männer. Die vier hatten vor Antritt der Flucht vereinbart, vor der Grenze sei jeder auf sich gestellt; jeder sollte sehen, wie er auf serbischen Boden gelangt. Diese Vereinbarung haben sie schließlich auch befolgt. Rothenbächer hat seine Freundin aber nicht im Stich gelassen.

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Die beiden sind schließlich direkt auf einen in einer Mulde versteckten Grenzsoldaten zugelaufen. Dabei war vorher alles ziemlich glatt gelaufen, obwohl die Flucht entgegen der Versprechungen des Bekannten aus der DDR überhaupt nicht vorbereitet war. Ein Banater Schwabe, der ursprünglich mitmachen sollte, hatte weiche Knie bekommen. Immerhin hat er den drei jungen Leuten aus der DDR den Rumänen als Fluchthelfer besorgt. Um zur Grenze zu gelangen, haben die vier drei Anläufe benötigt. Beim dritten bei Gottlob haben sie schließlich Stolperdrähte und Kanäle überwunden, um die Grenze zu erreichen. Sie waren schon am Bahnhof in Gottlob den Grenzern aufgefallen, konnten sich aber unter die vielen Fahrgäste mischen und schließlich entkommen. Das hat die Grenzer veranlasst, sie in der Abenddämmerung in Grenznähe mit einem Jeep zu suchen. Eine Dreiviertelstunde ist der Geländewagen auf und ab gefahren, doch während die vier in die Furche geduckten Flüchtlinge die Grenzer beobachteten, konnten die Soldaten sie nicht ausmachen.

Als sich der Soldat vor Rothenbächer und seiner Freundin mit der Maschinenpistole im Anschlag aufbaute, warfen sich die beiden auf Rothenbächers Kommando zu Boden. Mit einem Schollen hat Rothenbächer versucht, den Soldaten ins Gesicht zu treffen und außer Gefecht zu setzen. Doch der damals nur 52 Kilogramm schwere und 1,63 Meter große Rothenbächer hat den kaum 18 Jahre alten Soldat lediglich an der Schulter getroffen. Mit einer Leuchtrakete hat der Grenzer Kameraden herbeigerufen, die die beiden mit ihren eigenen Schnürsenkeln fesselten und wegbrachten. Wie sich herausgestellt hat, hatte der junge Mann seine Maschinenpistole überhaupt nicht durchgeladen. Er hat jedenfalls seinen Vorgesetzen nicht gemeldet, dass Rothenbächer ihn beworfen hatte. Nach einer regelrecht freundlichen Behandlung durch die Grenzsoldaten werden die beiden Gefassten ins Temeswarer Gefängnis gebracht: Rothenbächer kommt in einen Raum mit 25 Mann, in erster Linie Deutsche aus der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, seine Freundin in eine Zelle mit kriminellen Frauen. Während die Freundin die Zelle nicht verlassen darf, erlauben die Wärter Rothenbächer, ab und an Kartoffel zu schälen.

Nach drei Wochen verurteilt ein Gericht die beiden zu je drei Monaten Gefängnis wegen einfacher Grenzverletzung. Rothenbächer hatte Wert darauf gelegt, leere Taschen zu haben, damit man ihnen nicht wegen eines Gegenstandes Grenzdurchbruch in einem schweren Fall vorwerfen kann.

Nach den drei Monaten schieben die Rumänen die beiden nach Ungarn ab, woher sie nach der Landung in Budapest nach Rumänien gekommen waren. Die Ungarn wiederum haben sie in die DDR abgeschoben. Das Versprechen, die DDR-Behörden werden nicht vom Fluchtversuch unterrichtet, haben die rumänischen Behörden nicht gehalten. Drei Tage nach der Ankunft in Berlin taucht die Staatssicherheit im Krankenhaus auf. Dr. Rothenbächer darf die Operation, die er begonnen hat, noch beenden, dann bringen die Stasileute ihn in die Kissingenstraße nach Pankow in Untersuchungshaft. Seine Freundin kommt in die Magdalenenstraße, wo einst auch Rosa Luxemburg inhaftiert war. Das Gefängnis ist inzwischen abgerissen worden. In U-Haft durfte sich Rothenbächer wieder satt essen; in Rumänien hatte er stets zu wenig zu essen bekommen.

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Rothenbächer wird zu zweieinhalb Jahren verurteilt, seine Freundin zu einem Vierteljahr mehr, weil sie Rothenbächer den Tipp zur Flucht gegeben hatte. Ihr ehemaliger Freund, dem die Flucht gelungen ist, hatte sie eingeladen, mitzukommen. Sie hat akzeptiert, unter der Bedingung, dass ihr neuer Freund, Rothenbächer, mitgehen darf.

Rothenbächer kommt ins Gefängnis nach Cottbus, wo er dem Gefängnispersonal gleich bekanntgibt, er werde sich nicht an der Produktion beteiligen, sei

aber bereit, alles andere zu tun, auch die Toilette zu reinigen. Diese Weigerung bringt ihm Einzelhaft im Gefängniskeller ein.

Noch vor Ablauf der Strafzeit wird Rothenbächer entlassen. Zusammen mit weiteren Häftlingen kauft die Bundesrepublik ihn frei. Vor der Entlassung wird er 14 Tage lang im Stasi-Gefängnis in Chemnitz aufgepäppelt und anschließend nach Gießen in die Freiheit entlassen. Drei Wochen später folgt ihm seine Freundin. „Von da an ist es mir richtig gut gegangen“, sagt Rothenbächer heute.

In Gießen beendet Rothenbächer die Ausbildung zum Hals-, Nasen- und Ohrenarzt und verteidigt erfolgreich seine Doktorarbeit, die er schon in der DDR geschrieben hatte, aber nicht abschließen konnte, weil sein Doktorvater entlassen worden war. 1973 lässt er sich in Diez an der Lahn nieder. Vor 17 Jahren ist er nach Rheda-Wiedenbrück gezogen. Seine Freundin Heidemarie hat er nach der Entlassung in den Westen geheiratet.

Rothenbächers Wunsch, dem Kommunismus den Rücken zu kehren, ist auf die Erziehung zurückzuführen und auf die Schicksalsschläge, die seine Familie zu erleiden hatte. Rothenbächer wurde am 22. November 1941 in Finsterwalde als Sohn Siebenbürger Sachsen geboren: Der Vater stammt aus Brenndorf (Bod) im Burzenland und die Mutter aus Kronstadt in Siebenbürgen. Der Vater wird nach dem Studium der Medizin in Wien und Kiel Assistenzarzt in Berlin und lernt eine Kronstädter Krankenschwester kennen, die später seine Frau wird. 1943 geht der Vater freiwillig an die Front, obwohl er drei Kinder hat und unabkömmlich geschrieben ist. Nach dem Krieg sperren ihn die Russen ausschließlich mit Sanitätspersonal im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz ein. Von dort kommt er in ein Arbeitslager nach Russland. Mit Hilfe einer russischen Lagerärztin darf er 1948 frühzeitig heim nach Finsterwalde. Doch er ist von der Typhuserkrankung und dem Herzfehler aus der Lagerzeit in Auschwitz gezeichnet. Er stirbt 1950 im Alter von 44 Jahren.

Schon während der Schulzeit und des Medizinstudiums an der HumboldtUniversität in Berlin kommt die kritische Haltung Wulf Rothenbächers gegenüber dem Kommunismus zum Vorschein. Es gelingt ihm, sich vor der Einberufung zur Volksarmee zu drücken. Er macht ein praktisches Jahr als Zivildienstleistender und gerät schon während des Studiums ins Visier der Stasi. Nach dem Studium bekommt er 1968 eine Assistenzstelle in Berlin und beginnt sich zu spezialisieren als Hals-, Nasen- und Ohrenarzt. Als Hauptgrund für den Entschluss, zu fliehen, nennt Rothenbächer die Opportunität der Menschen: „Die einen haben mitgemacht, die anderen waren nicht bereit, den geringsten Widerstand zu leisten“. Rothenbächer weigert sich, dem kommunistischen Jugendverband der DDR beizutreten, aber auch dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Es sei in der DDR möglich gewesen, nicht mitzumachen und passiven Widerstand zu leisten. Während des Vietnam-Kriegs sollten die Assistenzärzte 5 DDR-Mark zur Unterstützung des kommunistischen Nordens spen-

den. Er weigert sich, sagt der Kaderleiterin, er spende lediglich dann, wenn das Geld an den kapitalistischen Süden gehe. Weil sein Chef seinen Namen auf der Spenderliste vermisst, meint er, ob Rothenbächer kein Geld habe, wenn ja, dann helfe er gerne aus. Rothenbächer lehnt ab, doch der Chef schwärzt ihn nicht an. Seine Frau macht als Chemielaborantin an der Akademie der Wissenschaften ähnliche Erfahrungen.

Dr. Wulf Rothenbächer war Zweiter Vorsitzender der Vereinigung der Opfer des Stalinismus und Sprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt am Main.

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