Leseprobe ZPPP

Page 32

Themenschwerpunkt

Nahrungsvermeidung versus Nahrungsaversion bei restriktiven Essstörungen David Garcia-Burgos1,2, Peter Wilhelm1, Claus Vögele3* und Simone Munsch1* Departement für Psychologie, Universität Fribourg, Fribourg, Schweiz Department of Psychobiology and The Federico Olóriz Institute of Neurosciences, Biomedical Research Centre (CIBM), University of Granada, Spain 3 Institute for Health and Behaviour, University of Luxembourg, Luxembourg 1 2

*Geteilte Letztautorenschaft

Zusammenfassung: Die Begriffe Nahrungsaversion und Nahrungsvermeidung werden in der Literatur häufig synonym gebraucht. Obwohl sie eng verwandt sind, bezeichnen sie doch zwei verschiedene Konstrukte, die das Resultat verschiedener Prozesse sind. Bislang wird angenommen, dass Nahrungseinschränkung und Nahrungsvermeidung bei Patientinnen mit Anorexia nervosa, und Bulimia nervosa mit der Angst vor Gewichtszunahme oder der Angst vor Unwohlsein (z. B, Bauchschmerzen) nach der Nahrungseinnahme zusammenhängt. Studien zeigen jedoch, dass Nahrungsvermeidung nicht nur durch Vermeidungslernen bedingt ist, bei dem der Geschmack der Nahrung zum konditionierten Reiz für Gefahr wird. Vielmehr spielt das Geschmacksaversionslernen eine wichtige Rolle. Nahrungsvermeidung, der eine Geschmacksaversion zugrunde liegt, ist auf eine negative Veränderung der Valenz des Geschmacks zurückzuführen, die durch ein Erlebnis starker Übelkeit hervorgerufen wird. Beide Formen der Nahrungsvermeidung haben verschiedene Verhaltensmerkmale und unterscheiden sich bezüglich der gelernten Inhalte. Zudem sind sie mit a ­ nderen Gehirnregionen und Neuromodulatoren assoziiert. Dies ist relevant für das Verständnis und die Behandlung von Essstörungen, insbeson­dere für ihre bedrohlichste Manifestation: Der extremen Vermeidung der Nahrungseinnahme. Klinische Implikationen dieser Unterscheidung und Vorschläge für weitere Forschung werden diskutiert. Schlüsselwörter: Konditionierung, Essstörung, Nahrungsvermeidung, Nahrungsaversion, Geschmacksaversion, Furcht, Angstlernen

Abstract: Food avoidance versus food aversion in restrictive eating disorders The terms food avoidance and food aversion are often used interchangeably in the eating disorders (EDs) literature. However, they represent two different (but closely related) constructs that are the result of different processes. In patients suffering from anorexia nervosa, bulimia nervosa and avoidant / restrictive food intake disorder, food avoidance / restriction is usually assumed to be motivated by fear / anxiety (e. g., “intense fear of gaining weight or becoming fat” or “being afraid to eat after a frightening episode of choking”). In contrast, studies show that tasteaversion often leads to food avoidance. Unlike fear-motivated avoidance in which the flavour of food becomes a signal for danger, avoidance produced by taste aversions involves a reduction in the amount consumed due to a hedonic downshift. Here the attractiveness of the flavour changes by its association with a nauseogenic event. It is noteworthy that both sources of food avoidance exhibit different behavioural characteristics, contents of learning, and activate different brain regions and neuromodulators. This is especially important for the understanding and treatment of the EDs and their most serious behavioural manifestation: the life-threatening food refusal. Finally, the clinical implications of such a distinction and promising future research directions are discussed. Keywords: Conditioning, eating disorders, food avoidance, taste-aversion learning, fear learning

Essstörungen (ES) sind durch eine anhaltende Störung des Essverhaltens gekennzeichnet, die mit einer andauernden Beschäftigung mit Nahrung einhergeht und gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen Gesundheit und des psychosozialen Funktionierens zur Folge haben (DSM-5; American Psychiatric Association [APA], 2013 / 2015). So kann sowohl bei der Anorexia nervosa (AN) und speziell beim restriktiven Subtyp (AN-R) sowie bei der kürzlich in das DSM-5 eingeführten Störung mit Vermeidung oder

Einschränkung der Nahrungsaufnahme (SmVoEdN) eine extreme Reduktion der Nahrungszufuhr beobachtet werden, die schwerwiegende Unterernährung zur Folge hat. Perioden stark eingeschränkter Nahrungszufuhr sind auch bei Patientinnen mit Erkrankungen im Bulimiespek­ trum, z. B. beim „binge-purge“-Typ der AN, sowie alternierend mit Essanfällen bei der Bulimia nervosa (BN) anzutreffen. Während bei der SmVoEdN die Angst vor den aversiven Empfindungen nach der Nahrungsaufnah-

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2019), 67 (1), 30–38 https://doi.org/10.1024/1661-4747/a000369

© 2019 Hogrefe


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.