IPPNW forum 165/2021 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Shaun Burnie / Greenpeace 2019

ippnw forum

das magazin der ippnw nr165 märz2021 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Eurodrohne und autonome Waffensysteme - 100 Jahre Deutsches Rotes Kreuz - Wir haben uns in die Coronakrise gespart!

Zehn Jahre Leben mit Fukushima: Die fortgesetzte Atomkatastrophe


Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. hae Dr. Mic

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rebell d Strom n u d e li Mitg IPPNW Sladek,

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Wir wüssten da einen! Dr. Michael Sladek hat seit Tschernobyl die Vision einer atomstromlosen Zukunft. Aus dieser Vision erwuchsen neben seinem Engagement für die IPPNW die Elektrizitätswerke Schönau.

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EDITORIAL Paul-Marie Manière ist Referent für Atomenergie und Energiewende der IPPNW.

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m 11. März 2011 ereignete sich vor der Ostküste Japans ein Erdbeben der Stärke 9,1 auf der Richterskala. Es löste einen Tsunami aus, der massive Zerstörungen anrichtete.

Das Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi wurde stark beschädigt und die Stromversorgung zum Kühlsystem unterbrochen, so dass es zur Kernschmelze der Brennstäbe in den Reaktoren 1, 2 und 3 kam. Bei dieser Dreifachkernschmelze traten nach Information der japanischen Regierung 1,5 x 1016 Becquerel Cäsium-137 aus. Diese Zahl nannte die japanische Regierung 2011 in einem Bericht an die IAEA. Damit hat sie indirekt eingeräumt, dass im Vergleich mit der Atombombenexplosion von Hiroshima das 168-fache dieser gefährlichen Substanz ausgetreten ist. Ende Februar 2021 hat die IPPNW das internationale Symposium „Zehn Jahre Leben mit Fukushima“ ausgerichtet, das wir auf den Schwerpunktseiten dieses Hefts dokumentieren. Alex Rosen fasst den aktuellen Stand der Schilddrüsenkrebs-Reihenuntersuchungen in Fukushima zusammen. Demnach liegt die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle bei jungen Menschen um den Faktor 16 oder 20 – je nachdem, wie man rechnet – über dem erwartbaren Level. Hagen Scherb stellt fest, das in Fukushima Effekte bei der Perinatalsterblichkeit beobachtet werden können, ähnlich denen, die nach dem Super-GAU von Tschernobyl in Europa festgestellt wurden. Felix Jawinski, der zur Situation der AtomArbeiter forscht, erklärt, „der Super-GAU hat die schwierige Situation von Leiharbeitern wie ein Brennglas verstärkt“. Schon seit den 70er Jahren kämpfen Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen für eine Anerkennung beruflicher Risiken. Angelika Claußen wiederum hat sich mit den psychologischen Langzeitfolgen der Katastrophe befasst. Depressionen, PTBS, Alkoholmissbrauch und Suizidhandlungen treten demnach bei Erwachsenen in Fukushima häufiger auf. Die Sicht eines Biologen erläutert uns Timothy Mousseau, der in Tschernobyl und Fukushima Untersuchungen zu den Auswirkungen der Strahlung auf Flora und Fauna durchgeführt hatte. Auch er fasst wichtige Studien zusammen und stellt ebenfalls fest: Es gibt zu wenig finanzielle Mittel für Grundlagenforschung in diesem Bereich. Links zu den Vorträgen finden Sie auf: www.fukushima-disaster.de Das Titelfoto stammt von einer Greenpeace-Strahlenmessung in der Sperrzone von Tsushima/Namie. Mehr dazu auf Seite 20-21 und im Interview mit Shaun Burnie auf S. 34. Eine anregende Lektüre wünscht – Paul-Marie Manière 3


INHALT Atomwaffenverbot: Aufruf aus drei NATO-Staaten

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THEMEN Atomwaffen sind jetzt verboten. Halten wir uns daran..................8 Bergkarabach: Dialog oder Fortsetzung des Krieges?..................10 Kampfdrohnen: Voraussetzung für autonome Waffensysteme.................................................................................................... 12 Wir haben uns in die Corona-Krise gespart!......................................14 100 Jahre DRK: Verratene Ideale

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Der World Nuclear Industry Status Report ....................................... 18

SCHWERPUNKT 100 Jahre DRK: Verratene Ideale

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Verstrahltes Land............................................................................................... 20

Foto: © Liselotte Orgel-Köhne / Deutsches Historisches Museum

Zehn Jahre Leben mit Fukushima: Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle wächst ................................... 22 Auswirkungen auf perinatale Morbidität und Mortalität

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Atomarbeiter in Japan.................................................................................... 25 Psychosoziale Langzeitfolgen der Atomkatastrophe..................... 26 Ökologie in Fukushima: Was haben wir gelernt?............................ 28

WELT Der Weltkongress der Studierenden....................................................... 30

Fukushima: 10. Jahrestag des Super-GAU

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RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6

Foto: Greg Webb, IAEA / CC by-sa 2.0

Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4


MEINUNG

Dr. Gisela Penteker ist Türkeibeauftragte der deutschen IPPNW.

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Seit wir in die Türkei fahren, seit mehr als 20 Jahren, haben wir immer wieder Kolleginnen und Kollegen getroffen, die von der Regierung verfolgt werden, weil sie sich für eine menschenrechtsbasierte und ethische Medizin einsetzen.

rztinnen und Ärzte geraten oftmals ins Visier der Verfolgung. Konfliktthemen mit der Staatsmacht sind die verbreitete Folter in Polizeistationen und Gefängnissen – die Situation in den überfüllten Gefängnissen und die Verweigerung der Behandlung oder Entlassung von kranken Gefangenen – der Umgang mit lang andauernden Hungerstreiks und die Folgen. Es geht hier um Gewalt gegen Frauen, um den Assimilationsdruck und die militärische Gewalt gegenüber Minderheiten. Kriminalisiert wird auch Erste Hilfe für Verletzte bei Demonstrationen. 2016 wurden Tausende Mediziner*innen und andere Akademiker*innen entlassen, weil sie sich gegen den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Afrin aussprachen. Engagement in der Gesundheitsgewerkschaft, in der Ärztekammer oder der Menschenrechtsstiftung führen ebenso zu Verfolgung wie solidarischer Einsatz für die Pressefreiheit. Einige Kolleg*innen, die nach ihrer Entlassung als Ärzte in die Politik gegangen waren, haben ihre Immunität als Abgeordnete verloren oder sind als Bürgermeister abgesetzt worden. Der Vorwurf lautet oft auf „Terrorpropaganda“ oder „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, so auch bei dem zu neun Jahren Haft verurteilten Arzt und Bürgermeister von Diyarbakir, Adnan Selcuk Mizrakli. Derzeit wenden wir uns mit Briefen an die türkischen Behörden, um einen Freispruch des Kollegen Serdar Küni zu unterstützen, dem Gefängnis droht, weil er Patient*innen während bewaffneter Auseinandersetzungen in Cizre nicht an die Behörden gemeldet hat. Das Verfahren gegen die international renommierte Gerichtsmedizinerin Prof. Sebnem Korur Fincanci wurde auf den 6. Mai 2021 verschoben. Korur Fincanci ist Vorsitzende der Türkischen Ärztekammer. Die Gerichte haben ihren ursprünglichen Freispruch aufgehoben und bedrohen sie mit bis zu 14 Jahren Gefängnis wegen der Teilnahme an einer Aktion für Pressefreiheit. Der Mediziner Seyhmus Gökalp, Ehrenvorstand der Türkischen Ärztekammer – aufgrund anonymer Beschuldigungen seit November 2020 inhaftiert – wurde Anfang Februar freigelassen, aber auch sein Verfahren steht noch aus. Unsere Möglichkeiten der Unterstützung und Solidarität sind zwar begrenzt, aber dennoch wichtig. 5


N ACHRICHTEN

IPPNW-Initiator Bernard Lown im Alter von 99 Jahren gestorben

Unerlaubte BrennelementExporte aus Lingen

New-Start-Vertrag um fünf Jahre verlängert

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ernard Lown, der Initiator und Mitbegründer der internationalen IPPNW, ist am 16. Februar 2021 im Alter von 99 Jahren gestorben. Lown wurde am 7. Juni 1921 in Litauen als Sohn eines Schuhmachers geboren. Die Familie emigrierte 1935 in die USA. Das Studium der Medizin absolvierte er an der University of Maine und promovierte 1945 an der Johns Hopkins University School of Medicine. Lown hätte auch den Nobelpreis für Medizin verdient: Er hat die Elektrodefibrillation maßgeblich mitentwickelt, mit der das tödliche Kammer-Flimmern unterbrochen werden kann. Weltweit ist seither mit dieser Methode Hunderttausenden von AkutPatient*innen das Leben gerettet worden. Lown gehörte zu den Medizinern, die 1960 die Physicians for Social Responsibility ins Leben riefen und sich gegen die nukleare Kriegsgefahr engagierten. Die medizinisch-wissenschaftliche Kooperation mit der Sowjetunion führte ihn mit Prof. Evgenij Chazov, Direktor des Nationalen Herzforschungs-Instituts in Moskau und ebenfalls Kardiologe, zusammen. Lown appellierte an seinen sowjetischen Kollegen, die Ärzteschaft in Ost und West dürfte angesichts eines drohenden Atomkriegs nicht schweigen. Mit einer gemeinsamen Erklärung sechs sowjetischer und US-amerikanischer Ärzte folgte 1980 die Gründung der IPPNW. Stellvertretend erhielten Lown und Chazov 1985 den Friedensnobelpreis. Im April 1997 ernannte die deutsche IPPNW-Sektion Bernard Lown zu ihrem Ehrenmitglied.

m Januar 2021 wurde bekannt, dass Framatome/ANF im Dezember 2020 und Januar 2021 mehrfach Brennelemente in die Schweiz und nach Belgien ausgeführt hatte, ohne dass es vollziehbare Ausfuhrgenehmigungen geben hätte. In einem Brief an den niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies (SPD) forderten deshalb mehrere Anti-Atomkraft-Initiativen und Verbände (darunter auch die IPPNW) ein entschiedenes Eingreifen der LandesAtomaufsicht gegen den Brennelementehersteller Framatome/ANF aus Lingen. Bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück sind bereits mehrere Strafanzeigen wegen des Verdachts auf unerlaubte Ausfuhr von Kernbrennstoffen anhängig, unter anderem gegen die beteiligten BrennelementSpediteure. In dem Brief an Minister Lies beklagen die Initiativen und Verbände dessen bisherige Untätigkeit. Sie fordern unter anderem, dass der Minister die Öffentlichkeit über die Sachlage aufklärt, und dass er Framatome und die Spediteure zu atomaufsichtlichen Gesprächen ins Ministerium vorlädt. Zudem erwarten die Initiativen und Verbände von Lies eine aktive Koordinierung mit dem Bundesumweltministerium sowie den zuständigen Bundesämtern BAFA (Export) und BASE (Transport). Die Initiativen und Verbände fordern die sofortige Aussetzung aller Brennelementexporte aus Lingen bis zur Klärung der Vorwürfe sowie die Aberkennung der nach dem Atomgesetz nötigen „Zuverlässigkeit“ für Framatome/ANF.

Nachruf auf S. 19 im Forum intern 6

ie USA und Russland haben am 26. Januar 2021 vereinbart, den atomaren Rüstungskontrollvertrag für weitere fünf Jahre zu verlängern. Das ist für IPPNW und ICAN zwar ein willkommenes Signal für die Bereitschaft der USA und Russlands wieder über Rüstungskontrolle zu reden, doch seien weitere Abrüstungsmaßnahmen notwendig. Das machten auch die Wissenschaftler*innen des Bulletin of Atomic Scientists deutlich: Am 27. Januar 2021 ließen sie die Zeiger der sogenannten „Weltuntergangsuhr“ auf symbolische 100 Sekunden vor Mitternacht stehen. Sowohl Russland als auch die USA haben in den letzten Jahren Milliarden in den Bau und die Modernisierung ihrer Atomwaffensysteme investiert. Wichtige Abrüstungsverträge wie der INF-Vertrag zur Begrenzung von Mittelstreckensystemen sowie der Vertrag über den offenen Himmel wurden aufgekündigt. Mit der Amtsübernahme von Joe Biden könnten die Beziehungen zu Russland nun wieder neu belebt werden. Dass Russlands Außenminister Sergej Lawrow vor dem Hintergrund weiterer möglicher Sanktionen gegen Russland mit dem Abbruch der Beziehungen gedroht hat, sei allerdings ein Alarmsignal, so IPPNW-Vorstandsmitglied Lars Pohlmeier. „Das Verhältnis von NATO und Russland war in den vergangenen Jahren bestimmt von gegenseitigen Schuldzuweisungen und der Rückkehr zu alten Feindbildern. Um diese zu überwinden, ist kluge Diplomatie gefragt, eine Stärkung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur sowie weitere Fortschritte in der nuklearen Abrüstung“, so Pohlmeier.


Kampfhubschrauber in der Region Gare / Foto: ANF News

N ACHRICHTEN

Türkischer Militäreinsatz gegen die PKK im Nordirak

Trotz COVID-19: Weitere Abschiebungen nach Afghanistan

Aktivist*innen tauschen Schilder in Büchel

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itten im Lockdown hat die Bundesregierung am 9. Februar 2021 erneut 26 Männer in das Kriegs- und Krisengebiet Afghanistan abgeschoben. Damit ist Deutschland von der reduzierten Abschiebepraxis zur Praxis der Sammelabschiebungen zurückgekehrt. Wider alle rechtlichen Grundlagen: Denn das Oberverwaltungsgericht Bremen und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg haben festgestellt, dass auch gesunde, alleinstehende Männer ohne soziales Netzwerk in Afghanistan nicht dorthin abgeschoben werden dürfen. Im Rahmen der Corona-Pandemie hätte sich die wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtert, so dass elementarste Bedürfnisse nicht gedeckt würden und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens am Rande des Existenzminimums groß sei. Hinzu kommt, dass Afghanistan von COVID-19 besonders stark betroffen sei und das dortige Gesundheitssystem den Belastungen nicht standhalte. Afghanistan wurde im Global Peace Index schon zweimal als das gefährlichste Land der Welt eingestuft.

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um Inkrafttreten des UN-Atomwaffenverbotsvertrags am 22. Januar 2021 haben 20 Friedensaktivist*innen Warnschilder der Bundeswehr am Fliegerhorst Büchel durch neue UN-Schilder ersetzt: „Achtung Massenvernichtungswaffen. Atombomben sind seit heute verboten.“ Die Gruppe agierte als Delegation der Vereinten Nationen und führte das UN-Emblem auf dem Schutzhelm und auf den neuen Schildern mit sich. Coronakonform in Zweierteams begann die Umrüstung des Zaunes in der Nähe des Haupttores. Die Aktivist*innen positionierten sich anschließend auf dem Kreisel am Haupttor und präsentierten beim Schichtwechsel der Soldat*innen eine Flagge mit der Aufschrift „Nuclear Weapons are Banned“. Die Aktionsgruppe forderte die Bundesregierung auf, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen und entsprechend aus der nuklearen Teilhabe auszusteigen und den Sitz in der nuklearen Planungsgruppe aufzugeben. Ein sofortiger Abzug der Atomwaffen aus Deutschland wäre die zwingende Folge.

Der Sammelcharter am 9. Februar 2021 war der erste Abschiebeflug aus Deutschland seit der informellen „Joint Declaration on Migration Cooperation“, die die Europäische Union und Afghanistan im Januar unterzeichnet haben und die für unbestimmte Zeit gelten soll. Demnach können künftig monatlich bis zu 500 Flüchtlinge aus der EU nach Afghanistan abgeschoben werden.

Am folgenden Tag fand auf der Friedenswiese zudem eine Dankandacht statt. „Es ist für uns ein großer Tag, dass nun dieser Vertrag Gültigkeit hat. Die Bomben, auch die in Büchel, sind nun als völkerrechtswidrig anerkannt“, erklärte Rüdiger Lancelle aus Cochem. Aufgrund der Corona-Pandemie war nur eine kleine Zahl an Besucher*innen zugelassen. Gemeinsam wurde ein Gebet der Vereinten Nationen gesprochen und Worte des Dankes und der Hoffnung aus der Bibel gelesen.

ie türkische Armee hat Anfang Februar eine viertägige Offensive gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak durchgeführt. Das Verteidigungsministerium teilte mit, die Operation „Adlerkralle 2“ in der Provinz Dahuk nahe der türkischen Grenze habe unter anderem das Ziel, PKK-Stellungen zu zerstören. Man wolle zudem „Terrorangriffe“ aus dem Nordirak verhindern. Der Versuch der türkischen Armee, sich dauerhaft festzusetzen, sei vereitelt worden, erklärte das Hauptquartier der kurdischen Volksverteidigungseinheiten nach dem Rückzug der türkischen Truppen. Bereits im Juni 2020 hatte die Türkei die Luft- und Bodenoffensiven „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ im Nordirak gestartet. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages äußerte danach Zweifel daran, dass der Einsatz mit dem Völkerrecht vereinbar war. Zu dem Zeitpunkt habe sich kein bewaffneter Angriff seitens der PKK und damit auch keine Selbstverteidigungslage für die Türkei erkennen lassen, die den Verstoß gegen das Gewaltverbot gegenüber dem Irak rechtfertigen könnte. Laut Medienmeldungen engagiert sich die Bundesregierung trotz türkischen Embargos im benachbarten Nordsyrien. Dort regiert ein multiethnisches Bündnis dessen stärkste Kraft die Kurdenpartei PYD ist. Der Tagesspiegel zitierte aus einer Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Helin Evrim Sommer. Danach hat das Bundeskabinett für das Gesundheitswesen, Hygiene und Lebensmittel in Nordsyrien circa 14 Millionen Euro ausgegeben.

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ATOMWAFFEN

Atomwaffen sind jetzt verboten. Halten wir uns daran. Ein Statement aus drei NATO-Mitgliedsstaaten

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n Deutschland, Belgien und den Niederlanden lagern US-amerikanische Atombomben. Ein neuer internationaler Vertrag verbietet nun Besitz, Nutzung und solche Stationierungen. Die drei Länder sollten konstruktiv mit dem neuen Abkommen umgehen. Am 22. Januar 2021 ist der der Kernwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten. Das neue internationale Abkommen verbietet seinen Mitgliedstaaten Entwicklung, Herstellung, Besitz und Tests von Atomwaffen. Ebenso untersagt ist deren Einsatz und auch die bloße Androhung einer Nutzung. Damit zielt der Vertrag auf die Behebung einer permanenten globalen Bedrohung: Jeder Einsatz von Atomwaffen, selbst von wenigen, hätte katastrophale humanitäre und ökologische Folgen. Bis jetzt sind 52 Staaten dem Abkommen beigetreten, 34 weitere haben ihn unterzeichnet. Der Beitritt zusätzlicher Staaten ist zu erwarten.

Unsere Regierungen sollten sich endlich für einen Abzug der Atomwaffen durch die Vereinigten Staaten einsetzen und damit die potenzielle Mitwirkung ihrer Bürgerinnen und Bürger an einem möglichen Atomkrieg ausschließen. Eine weitere Besonderheit eint unsere drei Länder. In allen sind derzeit amerikanische Atomwaffen stationiert. Im Rahmen dieser nuklearen Teilhabe ist vorgesehen, dass deutsche, belgische oder niederländische Piloten die Waffen mit nationalen Flugzeugen einsetzen. Regelmäßig wird diese Praxis kritisiert. So haben in allen drei Ländern die Parlamente in entsprechenden Resolutionen den Abzug der amerikanischen Kernwaffen gefordert. Mit dem neuen Kernwaffenverbotsvertrag wäre die Stationierung von Atomwaffen eines anderen Landes verboten. Wir meinen, dass die Kernwaffen in unseren Ländern Relikte des Kalten Kriegs sind – heute ohne militärischen Nutzen. Unsere Regierungen sollten sich endlich für einen Abzug der Atomwaffen durch die Vereinigten Staaten einsetzen und damit die potenzielle Mitwirkung ihrer Bürgerinnen und Bürger an einem möglichen Atomkrieg ausschließen.

Unsere Regierungen – wir leben in Deutschland, Belgien, und den Niederlanden – sprechen sich gegen das neue Abkommen aus. Lediglich die Niederlande nahmen an der Konferenz zur Verhandlung des Vertrags teil. In öffentlichen Stellungnahmen befürworten alle drei Regierungen zwar eine atomwaffenfreie Welt, wie sie auch der Atomwaffensperrvertrag von 1968 vorsieht. Doch diese wird nicht durch Reden und Stellungnahmen Realität. Stattdessen sind entschlossene, konkrete Schritte notwendig. Wir setzen uns dafür ein, dass Deutschland, Belgien und die Niederlande den Kernwaffenverbotsvertrag zunächst unterstützen, und ihm zu gegebener Zeit beitreten. Vier Gründe sprechen dafür: Erstens würde ein solches Vorgehen die Rhetorik einer Welt ohne Atomwaffen mit dem konkreten politischen Handeln unserer Länder in Einklang bringen. Zweitens könnten sie so die zukünftige Entwicklung des Vertrags, auch in ihrem Sinne, beeinflussen. Drittens wird der Vertrag von den Bevölkerungen unserer drei Länder befürwortet. Umfragen zeigen dort regelmäßig klare Mehrheiten für einen Beitritt. Und viertens würde ein solcher Schritt auch dazu beitragen, den Atomwaffensperrvertrag zu stärken.

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ls NATO-Mitglieder sind Deutschland, Belgien und die Niederlande in die weiteren Nuklearplanungen des Bündnisses eingebunden. Mit der Drohung des Einsatzes von Kernwaffen zu Verteidigungszwecken versuchen unsere Regierungen, Sicherheit mittels Massenvernichtungswaffen von verheerender Wirkung zu garantieren. Eine solche Politik kann auf Dauer keine Sicherheit bieten. Es ist nötig, dass das Verteidigungsbündnis beginnt, wirksame nicht-nukleare Abschreckungsstrategien zu diskutie8


FEIER UND DEMONSTRATION FÜR DAS ATOMWAFFENVERBOT, VOR DEM KANZLERAMT IN BERLIN, 22. JANUAR 2021

statt. Deutschland, Belgien und die Niederlande sollten diese Gelegenheit nutzen und als Beobachter teilnehmen. Ein solcher Austausch würde unsere Länder zunächst zu gar nichts verpflichten. Sie könnten jedoch mit diesem Schritt eine Abkehr von ihrer bisher ablehnenden und teils abwertenden Haltung signalisieren. Die Belgische Regierungsvereinbarung von September 2020 ist hier ein Beginn. Internationale Diplomatie profitiert von konstruktivem Engagement. Auch die anstehende Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags würde davon profitieren.

ren. Darüber hinaus sollten die USA und Russland den „New START“-Vertrag verlängern und bilaterale Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag aufnehmen, der auch taktische Atomwaffen einschließt.

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eider gibt es aus den Reihen unserer Regierungen vor allem Kritik am Verbotsvertrag. So wird argumentiert, der Vertrag hätte allenfalls symbolischen Wert, oder sei eine Gefahr für die internationale Sicherheit. Aus unserer Sicht sind diese Argumente schlichtweg falsch. Der Vertrag ist ein wirksames völkerrechtliches Instrument und bindet alle Vertragsstaaten, die entsprechenden Verbote zu befolgen. So ist der Vertrag auch die erste gültige Vereinbarung zum Verbot von Atomtests. Der Kernwaffenteststopp-Vertrag, der dies eigentlich garantieren soll, ist seit nunmehr 25 Jahren nicht in Kraft getreten – auch weil die USA und China ihn bisher nicht ratifiziert haben. Der Verbotsvertrag und der existierende Nichtverbreitungsvertrag sind auch rechtlich nicht inkompatibel. Dies bestätigte gerade der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und sieht beide Verträge als Teil einer gemeinsamen Abrüstungsarchitektur.

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er Kernwaffenverbotsvertrag ist ein deutliches Zeichen, dass eine wachsende Zahl von Staaten das Versprechen einer kernwaffenfreien Welt ernst nimmt. Westeuropa sollte sich diesem Ansinnen nicht verschließen. Deutschland, Belgien und die Niederlande sollten gemeinsam am Abzug der amerikanischen Kernwaffen arbeiten und dem Verbotsvertrag möglichst bald beitreten. Damit könnten sie ihren bisherigen Worten auch Taten folgen lassen.

Der Beitrag ist am 22. Januar auf Spiegel Online und in den Tageszeitungen De Volkskrant (Niederlande), De Morgen und Le Soir (Belgien) erschienen.

Darüber hinaus entfaltet der neue Vertrag bereits konkrete Wirkung. Finanzakteure wie Pensions- und Investmentfonds – etwa in den Niederlanden – sowie Banken, darunter auch die Deutsche Bank, berücksichtigen das Kernwaffenverbot schon jetzt in ihren Investitionsentscheidungen. So wird eine Beteiligung an Unternehmen, die an der Produktion von Atomwaffen beteiligt sind, ausgeschlossen. Zu guter Letzt bestätigt das Verhalten der Vertragsgegner die wirkliche Bedeutung des Abkommens. So hat etwa die NATO im Dezember 2020 ihre Fundamentalopposition gegenüber dem Vertrag noch einmal in einer deutlichen Erklärung wiederholt. Warum diese Haltung, wenn der Vertrag doch angeblich nur symbolischen Wert hätte?

Jan Hoekema ist der Vorsitzende von Pugwash Niederlande und ehemaliger Botschafter, Bürgermeister und Abgeordneter. Tom Sauer ist Professor für Internationale Politik an der Universität Antwerpen. Er engagiert sich bei „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“. Moritz Kütt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Auch er engagiert sich bei „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“.

Als erste Handlung im Rahmen des neuen Verbotsvertrags findet ein Jahr nach Inkrafttreten ein Treffen aller Vertragsstaaten 9


FRIEDEN

Dialog oder Fortsetzung des Krieges? Nach 44 Tagen und 5.000 Toten: Wie geht es weiter im Karabach-Konflikt?

„Sehr geehrter Herr Präsident der Republik Aserbaidschan Ilham Aliyew, sehr geehrter Herr Ministerpräsident der Republik Armenien Nikol Paschinjan! Zur Umsetzung der von Ihnen gemeinsam mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, unterzeichneten Erklärung vom 9. November 2020 bitte ich Sie, sehr zeitnah den Bürgern Armeniens und Aserbaidschans Reisefreiheit zu gewähren und in Armenien und Aserbaidschan Konsulate zu eröffnen.“

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in derartiger Schritt, so der Autor des offenen Briefes, der armenische Friedensaktivist Georgi Vanyan, würde Gespräche auf dem „Gebiet unserer Länder ermöglichen“, was wiederum eine für die Regelung des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes notwendige Atmosphäre von Vertrauen schaffen würde. Vanyans Forderung nach offenen Grenzen und armenischen und aserbaidschanischen Konsulaten in beiden Ländern mag gerade vor dem Hintergrund des Karabach-Krieges Ende 2020 tollkühn erscheinen. Über 5.000 Menschen haben in dem jüngsten armenisch-aserbaidschanischen Krieg vom 27. September bis zum 9. November 2020 ihr Leben verloren. Besonders schlagkräftig waren die von Aserbaidschan eingesetzten türkischen Drohnen vom Typ Bayraktar TB2. Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet Albert Voskanyan, Blogger aus Stepanakert-Chankendi, von der vernichtenden und demoralisierenden Wirkung dieser Drohnen auf Truppen, Munitionslager und militärische Einrichtungen. Insgesamt seien in Nagornij Karabach 39 Zivilisten ums Leben gekommen. Vor allem durch Artillerie. Die tatsächliche

Zahl dürfte indes höher sein: „Fast jeden Tag findet man wieder sterbliche Überreste“, so Voskanyan. Erst ein von Russland initiierter Waffenstillstand setzte dem Blutvergießen am 9. November ein Ende. Der Krieg von 2020 ist nur die Fortsetzung eines Krieges um die Karabach-Region, bei dem zwischen 1988 und 1994 über 30.000 Menschen ihr Leben verloren hatten. Vertreibungen werden mit Vertreibungen gerächt. Für mich war dieser Krieg im Herbst 2020 wie ein Déja-vu. 1994 hatte ich gemeinsam mit Dagmar und Rainer Ossig in Mönchengladbach einen dreimonatigen Aufenthalt von hundert aserbaidschanischen Kindern, die von Armeniern vertrieben worden sind, organisiert. Damals hörte ich erschütternde Geschichten und Erzählungen von Gräueltaten, aserbaidschanische Kinder haben berichtet, wie sie gesehen haben, wie ihre eigenen Eltern ermordet worden sind. Und im Herbst 2020 wiederholten sich die Ereignisse, nur dass dieses Mal Armenier*innen vertrieben wurden. Aserbaidschaner*innen, die teilweise selbst vor 26 Jahren vertrieben worden waren, jubelten über die gelungene Revanche. Viele können nun wieder in die Häuser zurückkehren, aus denen sie 1994 vertrieben worden sind.

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serbaidschan mag völkerrechtlich gesehen im Recht sein. Die neuerliche Vertreibung von Armenier*innen, der Beschuss von zivilen Objekten in Städten in Karabach durch aserbaidschanische Artillerie indes ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. 10

Worum geht es in diesen Kriegen? „Karabach gehört den Armeniern, in Karabach leben nur Armenier*innen und diese sollen selbst bestimmen, wem sie sich zugehörig fühlen. Die umliegenden sieben Rayone brauchen wir als Sicherheitsgürtel. Wir können nicht mit den Aserbaidschanern zusammenleben,“ so ungefähr denkt die überwiegende Mehrheit der Armenier*innen. Ich habe viel Verständnis für diese Sicht. Man braucht sich nur die armenische Kirche im Zentrum von Baku ansehen: Gerne betont die aserbaidschanische Regierung, dass nach wie vor unbehindert Armenier*innen in Aserbaidschan leben. Doch die armenische Kirche in Baku ist schon lange geschlossen. Dies zeigt, dass die Befürchtung der KarabachArmenier*innen, in Aserbaidschan nur Bürger zweiter Klasse sein zu können, berechtigt ist. „Wir sind in die UNO aufgenommen worden in den Grenzen, die das Gebiet von Nagornij Karabach beinhalten. Wir sehen nicht ein, warum wir dieses Gebiet den Armeniern schenken sollen. Und überhaupt: dieser angebliche Sicherheitsgürtel, das ist aserbaidschanisches Gebiet, das die Armenier besetzt haben. Auch der UNOSicherheitsrat hat den Rückzug der armenischen Besatzungstruppen gefordert“, so die aserbaidschanische Sichtweise. Das Völkerrecht, für das die Unverletzlichkeit der Grenzen eines der höchsten Güter ist, steht auf der aserbaidschanischen Seite. Der Krieg von 2020 hat das Kräfteverhältnis vor Ort völlig verändert. Den „Sicherheitsgürtel“ gibt es nicht mehr. Und wenn


nicht auf Druck von Russland am 9. November 2020 ein Waffenstillstand unterzeichnet worden wäre, hätten die aserbaidschanischen Truppen auch Stepanakert / Chankendi eingenommen.

Georgi Vanyan

Grenzabschnitt, an dem ich lebe, so wenig geschossen wird, liegt auch daran, dass einige Bewohner dieser Gegend, von beiden Seiten der Grenze, an diesen Begegnungen teilgenommen hatten. Und weil man sich kennt, kann man sich schon mal absprechen,“ sagt er mit einem Lächeln.

Der armenische Regisseur, Menschenrechtler und FrieWie weiter? densaktivist Georgi Vanyan lebt in Nerkin Dass der WaffenstillTsaghkavan in der stand vom 9. NovemRegion Tavush. Geraber 2020 hält, hat einen Grund: Weder Armenien de einmal 700 Meter noch Aserbaidschan will sich ist die Grenze zu Asermit den in Nagornij Karabach baidschan von seinem stationierten russischen SolHaus entfernt. Auf seinen Spaziergängen daten anlegen. Doch die betritt er schon mal werden nur fünf Jahre dort aserbaidschanisches sein, dann müssen sie, wenn Territorium. Am 6. Nonur eine Seite dies fordert, I VANYA N wieder abziehen. Und dann vember schrieb er GEORG kann der Krieg jederzeit wieeinen offenen Brief an Armeniens Premierminister Nikol Paschin- der aufgenommen werden. Wenn in den jan. Er hatte sofort nach Ausbruch des nächsten fünf Jahren kein Dialog zustanKrieges ein Ende der Gewalt gefordert. dekommen wird, ist ein neuer Krieg sehr „Stoppen Sie diese kriminelle Farce eines wahrscheinlich. angeblichen Sieges. [...] Den Nachbarn vernichtet man nicht. Mit dem Nachbarn Die Politik kann nur Rahmenbedingungen muss man reden, reden und reden. So- schaffen. Wichtig sei es, die Kultur des lange, bis man eine Sprache spricht und Hasses zu überwinden, die sich in beiden Ländern festgesetzt habe. Offene Grengegenseitiges Verständnis zeigt.“ zen, Konsulate, wirtschaftliche Beziehunofort erschienen bei Vanyan Polizi- gen könnten, so Vanyan, die feindselige sten, die ihn aufforderten, den Text Stimmung in beiden Völkern etwas auflovom Netz zu nehmen. Gleichzeitig stell- ckern und langfristig den Boden für eine ten sie ihm einen Strafbescheid in Höhe umfassende politische Regelung bereiten. von 1.000 Euro aus. Doch Vanyan kennt Anfeindungen. Mehrmals ist er mit dem Es muss ein Dialog von zivilgesellschaftTod bedroht worden, irgendwann wurde lichen Strukturen beider Seiten ermöglicht sein Hund getötet. 2015 lebte er ein Jahr werden. Anbieten würde sich hier, dass in Hamburg als Gast der Stiftung für poli- derartige Dialogprojekte im Nachbarland tisch Verfolgte. Seit Jahren organisiert er Georgien stattfinden. Doch Vorsicht ist zusammen mit aserbaidschanischen und geboten. Dialogprojekte sind gut vorzubegeorgischen Kolleg*innen armenisch- reiten: Wer ein armenisch-aserbaidschaaserbaidschanisch-georgisch-abcha- nisches Treffen in Georgien organisiert, sisch-ossetische Begegnungen in dem muss überlegen, wie man verhindert, dass georgischen Dorf Tekali. „Dass an dem die Teilnehmer*innen bei einer Rückkehr

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DIE ARMENISCHE KIRCHE IN BAKU

in ihre Heimat nicht von Nationalisten und staatlichen Behörden angegriffen werden. Möglich ist z.B. eine Schirmherrschaft einer angesehenen Organisation wie der OSZE. Auch eine gewisse Vertraulichkeit beim Dialog ist hilfreich, damit es zu einem nachdenklichen Gespräch und nicht zu einem Schlagabtausch kommt. Eine wichtige Rolle spielen auch die armenischen und aserbaidschanischen Communities im Ausland. Diese haben durchaus Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Geschehnisse in ihren Heimatländern. Es hätte Vorbildwirkung, wenn sich beispielsweise in Deutschland lebende Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen in einem Dialogprojekt austauschen würden.

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ie gut Dialog zwischen Armenien und Aserbaidschan funktionieren kann, hat der Dörfertausch zwischen dem aserbaidschanischen Dorf Kyzyl-Shafag in Nordarmenien, und dem armenischen Dorf Kerkenj in Zentralaserbaidschan gezeigt. Deren Bewohner*innen hatten in den 1980er Jahren auf eigene Initiative ihre Dörfer getauscht: www.boell.de/ de/2020/11/12/beyond-karabakh-conflict

Bernhard Clasen ist Kiew-Korrespondent von taz und eurotopics.net.


FRIEDEN

Kampfdrohnen: Voraussetzung für autonome Waffensysteme Was bewaffnete Drohnen mit der EU-Militarisierung zu tun haben

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nfang Dezember 2020 hat die SPD mit der Weigerung, der Bewaffnung der geleasten Heron-TP-Drohne zuzustimmen, für Aufsehen gesorgt. Im Vorfeld waren IPPNW-Mitglieder gemeinsam mit vielen anderen aus der Friedensbewegung und von der SPD-Basis mit Aufklärung, Lobbybriefen und -gesprächen sowie Petitionen an die Politik herangetreten, um die Zustimmung zu einem Beschluss im Haushaltsausschuss zur Bewaffnung zu verhindern. Die Drohnenbewaffnung wird von ihren Befürworter*innen mit einem defensiv und humanitär daherkommenden Ziel begründet: dem Schutz deutscher Soldat*innen bei Auslandseinsätzen. Das ist verwunderlich, da seit 2014 keine Bundeswehrangehörigen durch gegnerische Einwirkung zu Tode gekommen sind. Mit Bezug auf den Bergkarabach-Krieg fordert die Verteidigungsministerin die Ausrüstung der NATO mit Drohnen und Drohnenabwehrsystemen. Unterfüttert wird diese Argumentation mit einer Studie der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Ohne Luftabwehr werde man zum „hilflosen Opfer“. Man müsse sich gegen „asymmetrische Bedrohungen“ durch Terroristen zur Wehr setzen können. Diese Argumentation ist nur bedingt plausibel, denn Kampfdrohnen sind zunächst einmal Angriffswaffen. Viel besser lässt sich der Drang nach bewafffneten Drohnen damit erklären, dass andere Auslandseinsätze geplant sind und

zwar gerade nicht UN-mandatierte zur Friedenssicherung. Der Zusammenhang ist zudem ein viel größerer: Die Drohnenbewaffnung und die Entwicklung der Eurodrohne sind Voraussetzungen für eines der größten Rüstungsprojekte der EU, das Future Combat Air System (FCAS).

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abei handelt es sich um ein Luftkampfsystem, das aus einem neuen Kampfflugzeug nebst angedockten bewaffneten Drohnenschwärmen bestehen soll und dessen Gesamtvolumen zuletzt auf 100 bis 500 Milliarden Euro geschätzt wurde. Intergraler Bestandteil ist die Allzweckdrohne, die sogenannte „Eurodrohne“ MALE RPAS (Medium-altitude, longendurance remotely piloted air system). Sie soll unter Führung des deutschen Rüstungskonzerns Airbus D&S (D) zusammen mit Dassault Av (F), Leonardo (IT) sowie Airbus S.A.U. (E) entwickelt werden. Insgesamt ist der Ankauf von 21 Systemen mit je drei Drohnen bislang fest zugesagt: Deutschland beabsichtigt davon sieben zu erwerben, Italien und Spanien jeweils fünf und Frankreich vier. Das Projekt wurde bereits im März 2019 in die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO) der EU überführt und ihre Entwicklungskosten sollen auch mit EUMitteln querfinanziert werden. Mit einer Hängepartie bei der Eurodrohne stünde laut Bartels auch das Superprogramm „Future Combat Air System“ in Frage. Bartels (SPD) war bis 2020 Wehrbeauftragter des 12

deutschen Bundestags und gehört zu den Befürworter*innen der Drohnenbewaffnung. Am 3. Februar 2021 haben führende Sozialdemokraten im Koalitionsausschuss im Voraus grünes Licht für die Finanzierung der nächsten Phase der Eurokampfdrohne gegeben – obwohl die Bundestagsabstimmung zu diesem Thema erst am 24. März 2021 stattfinden soll. Der Bundestag soll damit die weitere Entwicklung einer bewaffnungsfähigen Eurodrohne bewilligen, auch wenn vorläufig keine Finanzierung für die entsprechende Bewaffnung zugesagt ist.

„Gemeinschaftsprogramm Eurodrohne: Die Eurodrohne ist ein primär als Aufklärungssystem konzipiertes, multinationales Gemeinschaftsprojekt gemeinsam mit Frankreich, Italien und Spanien. Die Koalitionspartner vereinbaren, die notwendigen Beschlüsse herbeizuführen, damit die Verträge zur Entwicklung und Beschaffung der Eurodrohne wie geplant im März unterzeichnet werden können. Der Industrievertrag umfasst keine Bewaffnung der Eurodrohne.“ (Ergebnispapier des Koalitionsausschusses, 03.02. 2021)

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ine Konzeption als Aufklärungsdrohne ist jedoch für die Eurodrohne nie festgelegt worden: „Trotz aller verbalen Klimmzüge, die Eurodrohne ist und bleibt eine Kampfdrohne“, schreibt Jürgen Wagner (Informationsstelle Militarisierung).


Foto: Stephen Melkisethian/ CC by-nc-nd 2.0

„Der Unterschied zwischen einer bewaffneten und nicht bewaffneten Drohne ist (...) einfach zu definieren. Im Gegensatz dazu gibt es keine solche klare Linie zwischen autonomen und ferngesteuerten Waffen. Die Gefahren lassen sich auch an dem Beispiel von selbstfahrenden Autos verdeutlichen: Schon seit längerer Zeit verkauft etwa Tesla alle seine Elektroautos mit Hardware, die „autonomy ready“ ist. Das heißt, dass der Übergang von menschlicher Entscheidung zur Teil- oder Vollautonomie nun durch ein Softwareupdate stattfinden kann. Wie wir auch an diesem Beispiel sehen, ist dies oft ein schleichender Prozess, in dem kontinuierlich weitere Entscheidungen von KI-Systemen übernommen werden.“ Jacob Foerster, KI-Experte (Telepolis, 15. Dezember 2020) Thomas Wiegold vom bundeswehrnahen Online-Portal Augen geradeaus berichtet: „Der Wortlaut des Koalitionsbeschlusses ist offensichtlich von dem Wunsch geprägt, dem Koalitionspartner SPD so weit wie möglich entgegenzukommen. Denn auch wenn es zunächst nicht um eine Bewaffnung dieses Systems geht: Dass es sich um ein primär als Aufklärungssystem konzipiertes Projekt handele, ist schon eine sehr deutsche Binnen-Sichtweise, die zum Beispiel für Frankreich kaum so zutreffen dürfte. Aber da die SPD schon die Bewaffnung der bereits beschafften israelischen Heron-TP-Drohnen der Bundeswehr ablehnt, wäre ein solches System unter dem Aspekt Bewaffnung für die Sozialdemokraten vermutlich nicht tragbar gewesen.“

Freie Fahrt für die Rüstungsindustrie? Bewaffnete Drohnen spielen eine zentrale Rolle bei dem FCAS, dem Future Combat Air System. Drohnen sollen dabei als unbemannte Aufklärungsflugzeuge und/ oder als Störer der gegnerischen Luftabwehr fungieren. Laut einem öffentlichen Dokument des französischen Parlaments sollen sie „sowohl die französische(n) Atomwaffe(n) als auch die von Deutsch-

land implementierte(n) NATO-Atomwaffe(n) tragen“ können, wie es in der Übersetzung des Berichts heißt. Deutschland, Frankreich und Spanien wollen sich mit dem FCAS eine Vorreiterrolle in der autonomen Kriegsführung sichern. Im Sommer 2020 schrieben die Teilnehmer*innen einer französischen Senats-Delegation, die zu Besuch in Deutschland gewesen waren, im obengenannten Bericht, FCAS solle Anfang 2021 in eine neue Phase treten, „um das Programm irreversibel zu machen“. Die Bundestagsabstimmung über die nächste FCAS-Finanzierungsphase soll noch vor der Bundestagswahl, voraussichtlich im Mai oder Juni 2021 stattfinden. Die Kostenschätzungen zwischen 100 und 500 Milliarden Euro zeigen, dass es sich bei FCAS um ein lukratives Geschäft für die Rüstungsindustrie handelt und dass die entsprechende Lobbyarbeit dieser Industrie stattfindet.

Überschreiten einer moralischen Grenze, wenn Maschinen die Erlaubnis zum Töten bekommen, die fehlende Verantwortlichkeit und die Gefahr technischer Fehler. Die unsägliche Aufrüstung hin zu autonomen und womöglich autonomen atomaren Waffensystemen muss verhindert werden. Wir fordern daher, dass Kampfdrohnen und Killerroboter international verboten werden und Maßnahmen gegen ihre Proliferation ergriffen werden. Deutschland muss sich weiter am internationalen Ächtungsprozess beteiligen, statt die Rüstungsspirale voranzutreiben! Auch wenn im Haushaltsausschuss und im Bundestag Entscheidungen getroffen werden, die das Projekt weiter voranbringen sollen, so sind doch bei jedem der kommenden Schritte humanitäre, friedenspolitische und abrüstungspolitische Argumente vorzubringen. Wir müssen breite gesellschaftliche Diskussionen führen und auf die Parteien einwirken, die sich im Bundestagswahlkampf positionieren. Die Friedensbewegung plant mehrere Online-Hearings und Briefe an Politiker*innen. Auch bei den Ostermärschen wollen wir dem Thema eine größere Öffentlichkeit verschaffen. Mehr Infos: ippnw.de/bit/drohnen

Quellen: Telepolis-Recherchen von Jürgen Wagner: ippnw.de/bit/tp-wagner Harald Neuber: ippnw.de/bit/tp-neuber sowie Interview mit Jakob Foerster und Peter Förster: ippnw.de/bit/tp-foerster

Jetzt handeln! Im Dezember 2020 führte die „Market Research Company Ipsos“ eine Umfrage in 26 Ländern durch. In Deutschland fand sie, dass eine Mehrheit von 68% der Befragten vollautonome Waffen ablehnten. Die Gründe für die Ablehnung waren vor allem das 13

Susanne Grabenhorst ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Wir haben uns in die Corona-Krise gespart Die Personalnot in Krankenhäusern ist Folge der Ökonomisierung und Profitorientierung des Gesundheitssystems

In öffentlichen Diskussionen über die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wird zwar zunehmend die Personalknappheit in den Intensivabteilungen als limitierender Faktor für die notwendige Ausweitung der Zahl der Intensivbetten genannt. Kaum aber wird auf die strukturellen Ursachen der chronischen Unterversorgung hingewiesen

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tattdessen versuchen Regierungen und Behörden nun durch Lockdown-Maßnahmen, die Kurve der an Covid-19 Erkrankten möglichst wieder flacher zu bekommen, um das bereits übermäßig belastete Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren. Zugleich wird durch die Corona-Krise jetzt der langjährige Mangel an Pflegekräften besonders auf Intensivstationen offensichtlich und öffentlich.

reich durch die zunehmende Ökonomisierung und Profitorientierung der Krankenhäuser. Dabei durften Krankenhäuser vor dem Jahr 1985 in der BRD noch keine Gewinne machen. Es herrschte wie bei Schulen, Museen oder der Feuerwehr das Prinzip der echten Selbstkostendeckung durch duale Finanzierung. Das heißt, die Länder waren für die Investitions- und die Krankenkassen für die Betriebskosten zuständig.

Patient*innen, in England sind es immerhin durchschnittlich nur 8,6 Personen pro Pflegekraft.

Zwar wurden im Frühjahr 2020 schnell zusätzliche Intensivbetten und inzwischen auch ausreichend Beatmungsgeräte bereitgestellt, doch immer deutlicher wurde: Es fehlen die zu ihrer Bedienung nötigen qualifizierten Pflegefachkräfte, um die besonders betreuungsintensiven Covid-19-Patient*innen zu versorgen. Dass schon in Vor-Corona-Zeiten zeitweise bis zu 20 Prozent der Erwachsenen- und Kinder-Intensivbetten abgemeldet werden mussten, weil das Personal fehlte – mit oft lebensgefährlichen Verzögerungen einer Intensivbehandlungsmöglichkeit –, hat über Klagen hinaus nicht zu grundsätzlichen Änderungen des Systems geführt.

Doch entsprechend dem neoliberalen Wirtschaftscredo, nach dem der Markt angeblich alles regelt, zog sich der Staat immer weiter aus der Finanzierung zurück. Die Krankenhäuser wurden zunehmend marktwirtschaftlich und wettbewerbsorientiert ausgerichtet.

Zudem hat das „Outsourcing“ von z.B. Reinigungs- und Küchendiensten an private Firmen und deren massive Einsparungen am Personal, etwa durch die Erhöhung der pro Zeiteinheit zu reinigenden Flächen, nicht nur zu Hygienemängeln und einer damit einhergehenden Gefahr von Krankenhauskeimen geführt. Diese Entwicklung verhindert auch den für umfassende Informationen und eine ganzheitliche Betreuung der Patientinnen und Patienten so wichtigen persönlichen Kontakt durch in den Stationsbetrieb eingebundene Kräfte.

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ie konnte es in unserem medizinisch so hoch entwickelten Land so weit kommen? Die Personalnot im Pflegebereich ist die direkte Folge der seit Jahren herrschenden Sparpolitik im Pflegebe-

Folgen der neuen Gewinnorientierung Die Investitionskosten, die immer weniger von der öffentlichen Hand getragen wurden, mussten nun durch Einsparungen bei den Betriebskosten aufgefangen werden: Es kam zu massiven Stellenstreichungen, besonders im Pflegebereich. Zum Vergleich: In Deutschland muss eine Vollzeitpflegefachkraft in der Tagesschicht durchschnittlich 13 Menschen versorgen, in Norwegen sind es etwas mehr als fünf 14

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ntersuchungen zeigen, dass eine Erhöhung der Zahl der zu versorgenden Patientinnen und Patienten pro Pflegekraft von sechs auf sieben bereits ein erhöhtes Risiko für Fehler, Infektionen, Kreislaufkomplikationen und sogar eine erhöhte Sterblichkeit zur Folge haben kann.

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eit 1990, nachdem nicht mehr mit dem sozialistischen System konkurriert werden musste, kam es zu einer zunehmenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Daseinsvorsorge. Doch Solidarsysteme eignen sich nicht für eine Wettbewerbssteuerung. Da die Krankenhäuser rote Zahlen schrieben, erhofften


Foto: Rosa Luxemburg-Stiftung 2015 / CC BY 2.0

STRATEGIEKONFERENZ PFLEGE UND GESUNDHEIT (2015)

sich die Kommunen durch ihre Privatisierung Erleichterung. So stieg die Zahl zunehmend größerer privater Krankenhauskonzerne stark an. Die Abschaffung des sozialstaatlichen Selbstkostendeckungsprinzips war die Voraussetzung dafür, den Krankenhaussektor zu ökonomisieren und zu einem lukrativen Geschäftsfeld für Investoren zu machen. Inzwischen werden sogar ambulante Versorgungszentren als gewinnträchtige Investitionsmöglichkeiten für Aktionäre erschlossen.

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m Jahr 2004 sollte mit dem Fallpauschalsystems (Diagnose Related Groups, DRG) ein Steuerungsinstrument zur Kostensenkung eingeführt werden. Jedoch kam es stattdessen nach kurzer Zeit zu einer massiven Kostensteigerung. Die Ursache dafür liegt nicht nur in den teureren technischen Untersuchungsmethoden und der älter werdenden Bevölkerung. Die Steigerung der Kosten um das Zwei- bis Dreifache ist vor allem eine Folge der Fallzahlsteigerungen. Das Fallpauschalen- oder DRG-System vergütet je nach Diagnose einen Festpreis. Diese DRG-Vergütung umfasst die gesamte Krankenhausbehandlung, unabhängig von der Behandlungsdauer. Ist ein Patient kürzer stationär, macht das Krankenhaus Profit, muss er länger behandelt werden, so bedeutet seine Behandlung Verluste. Das heißt, es müssen möglichst viele Patientinnen und Patienten in möglichst kurzer Zeit behandelt bzw. durchgeschleust werden, was oft sogenannte blutige Entlassungen nach Operationen und in Folge erhöhte Komplikationen bedeutet.

Private Kliniken spezialisieren sich darauf, relativ gesunde, unkomplizierte Patientinnen und Patienten mit „lukrativen“ DRG-Diagnosen zu behandeln. „Lukrativ“ sind Fälle, bei denen ein Gewinn nach der DRG-Vergütung zu erwarten ist, z.B. Operationen für Knie- und HüftgelenkEndoprothesen. Die kommunalen Häuser müssen teure und „unrentable“ Abteilungen, Notaufnahme, Geburts- und Kinderstationen bereithalten. Das DRG-System kann sich auch auf die Art der Behandlung auswirken. So wird z.B. eine Kaiserschnittentbindung höher vergütet als eine oft sehr personal- und zeitaufwendige natürliche Geburt. Die Folge ist, dass die Zahl der Kaiserschnittentbindungen seither deutlich zugenommen hat, nicht unbedingt zum Vorteil der so Entbundenen und ihrer Babys.

Personalabbau und Frust Da die Personalkosten mit circa 60 Prozent den größten Anteil an den Betriebskosten ausmachen, wurde massiv Personal abgebaut, seit Beginn der strukturellen Veränderungen 51.000 Stellen. Dies, verbunden mit dem ständigen Stress und der Hektik sowie der Zunahme an Bürokratisierung, die für eigentliche pflegerische Aufgaben kaum mehr Zeit lassen, führt zu zunehmender Frustration, häufigen Krankmeldungen im Pflegebereich, zu Burnout, Arbeitszeitreduzierung, Frühberentungen oder sogar Kündigungen, wodurch die Personalknappheit weiter verstärkt wird. Pflegekräfte müssen ständig wieder aus ihrer Freizeit für fehlende Kolleginnen und Kollegen einspringen, was zusätzlich den Frust erhöht. Um ihre Arbeitszeit besser strukturieren zu können, arbeiten deshalb zuneh15

mend Pflegekräfte über Leiharbeitsfirmen, was für die Kliniken wiederum teurer ist.

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war wird seit Anfang 2020 versucht, dem entgegenzusteuern, indem die Personalkosten des Pflegebereichs aus den DRG-Budgets ausgegliedert wurden. Ab diesem Januar soll eine Pflegeuntergrenzenverordnung dem Personalmangel – besonders auf den Intensivstationen – entgegenwirken. Es ist jedoch zu befürchten, dass nicht ausreichend qualifiziertes Personal gefunden werden kann. Es fehlen bis zu 80.000 Pflegekräfte, die auch durch Anwerbungen ausländischer Pflegekräfte nicht ersetzt werden können. Eine bessere Vergütung der Pflegetätigkeiten ist wichtig, aber solange sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern, wird der in allen Bereichen bestehende Personalmangel nicht behoben werden können. An vielen Orten bilden sich jetzt Pflegebündnisse, um die häufig zu erschöpftresignierten Pflegekräfte in ihrem Kampf um eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und eine Abschaffung des DRGSystems zu unterstützen. Der eindrucksvolle Film „Der marktgerechte Patient“ und die Broschüre „Krankenhaus statt Fabrik“ liefern anschauliche Beispiele. Zuerst erschienen am 12.01.2021 auf www.telepolis.de

Dr. Mechthild KlingenburgVogel ist Mitglied der IPPNW und des Kieler Pflegebündnisses.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Verratene Ideale 100 Jahre DRK: Tagung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und der IPPNW

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ar das Deutsche Rote Kreuz zwischen 1933 und 1945 eine nationalsozialistische Organisation? Wie konnte diese Organisation, deren Mitglieder sich unter dem Banner der Humanität zusammenfinden, in die Inhumanität abgleiten und am eigenen moralischen Anspruch scheitern?

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pannende historische Fragen, deren Antworten bis in die Zukunft dieser Organisation reichen. Das DRK feiert bisher immer die Gründung des monarchistischen Württembergischen Sanitätsvereins am 08. November 1863 als seinen Gründungstag. Anlässlich des 100. Gründungstages des DRK am 25. Januar 1921 in der demokratischen Weimarer Republik versammelten sich erstmals alle namhaften deutschsprachigen Wissenschaftler zu einer Zoom-Konferenz auf Einladung des Institutes für Medizingeschichte und Ethik der FAU Erlangen und der IPPNW. Vor 121 Teilnehmer*innen leuchteten die Expert*innen diese kritische Phase der Vereinsgeschichte aus, stellten Fragen an die Vereinsgeschichte und versuchten Antworten gemäß des aktuellen Forschungsstandes zu geben. Die Zeitreise begann mit dem Einsatz des Roten Kreuzes im Ersten Weltkrieg. In den Kriegsjahren engagierten sich die zahlreichen deutschen RK-Verbände weitgehend unter eigener Regie für die deutschen Verletzten und auch für die alliierten Kriegsgefangenen, vornehmlich im Westen und weniger im Osten. Nach den Umbrüchen im Anschluss an den verlorenen Krieg ge-

riet auch das DRK in eine Identitätskrise, weil ihm im Versailler Vertrag wehrmachtsnahe Tätigkeiten verboten worden waren. Mit der Gründung des Deutschen Roten Kreuzes 1921 in Bamberg wurde eine personelle und inhaltliche Neuausrichtung hin zu zivilen Tätigkeiten innerhalb der Wohlfahrtspflege umgesetzt. Auf diesen Tätigkeitsfeldern kam es dann zu offenen und verdeckten Konflikten mit den etablierten konfessionellen und politischen Wohlfahrtsverbänden und Sanitätsorganisationen. Häufig obsiegte das DRK dank seiner Vernetzungen zu den staatstragenden Eliten, der Wehrmacht und staatlichen Institutionen. 1933 begannen mit der NS-Machtergreifung die Selbstgleichschaltung und die Geleichschaltung. Als Bindeglied zwischen dem Kaiserreich und dem NS-Regiem fungierte der DRK-Präsident Joachim von Winterfeld-Menkin, ein adeliger Herzensmonarchist und DNVP-Mitglied. Sein Counterpart auf NS-Seite war der Generaloberstabsarzt a. D., Chef des Sanitätswesens der SA, Dr. med. Paul Hocheisen. Beide öffneten das DRK der NSDiktatur – von verschiedenen Richtungen kommend. Sehr früh wurden unter Bruch des Neutralitätsdogmas jüdische und politisch andersdenkende Mitglieder aus dem DRK entfernt. NS-Mitglieder bekamen ohne erkennbare Gegenwehr zunehmend Einfluss in der Organisation. Zum Dezember 1933 wurde von Winterfeld-Menkin durch das hochadelige und hochrangige NSDAP-Mitglied Carl Eduard von Sachsen-Coburg-Gotha ersetzt. Er stilisierte 16

sich nach außen als Gentleman-Nazi mit internationalen familiären Verflechtungen und war doch nach innen über nahezu alle NS-Aktivitäten informiert und teilweise auch involviert. Bis 1937 war das DRK fest in das NSMacht- und Staatsgefüge involviert. Das nazifizierte DRK konnte sich sogar auf wichtigen Aufgabenfeldern gegen andere Parteiorganisationen behaupten. Militärische Traditionslinien und wehrmachtsnahe Untergruppierungen erstarkten im Kontext der Kriegsvorbereitungen. Aus dem Wohlfahrtswesen verabschiedete sich es sich zunehmend.

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ine weitere Zuspitzung erfolgte durch den neuen stellvertretenden und späteren geschäftsführenden DRK-Präsidenten Dr. med. Ernst Grawitz. Er war zum 1. Januar 1937 direkt von Hitler berufen und in Personalunion als Reichsarzt der SS und der Polizei, als SS-Obergruppenführer und Chef des SS-Gesundheitsdienstes an den KZ-Verbrechen beteiligt. Außerdem besetzten der Chefarzt der DRK-Krankenanstalten Hohenlychen und Leibarzt Himmlers, Prof. Dr. med. Karl Gebhardt, und der SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS und Leiter des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, Oswald Pohl, zwei weitere wichtige Präsidiumsposten. In Personalunion waren sie ebenfalls in die verbrecherischen Menschenversuche oder führend in die Logistik der unmenschlichen Konzentrationslager involviert. Beide wurden in den Nürnberger Prozessen angeklagt und zum Tode verurteilt. Grawitz entzog sich sei-


Foto: Schuchert, Hamburg, 1941 / CC BY-SA 4.0

SOZIALE VERANTWORTUNG

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as nun monofunktionale, kriegsfokussierte DRK war spätestens mit dem DRK-Gesetz ein integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Staates und seines zivil-militärischen Komplexes. Die Aufgabe des DRK fokussierte sich nun alleinig darauf, der Wehrmacht, den SS-Divisionen und dem Luftschutzdienst kostengünstig und in möglichst großer Anzahl geschultes Sanitätspersonal bereit zu stellen, um Verwundete zu versorgen und deren Kampffähigkeit wiederherzustellen und die Zahl ziviler Bombenopfer zu reduzieren. Dazu sollte es als strategische Reserve bisher ungenutzte personelle Ressourcen, besonders innerhalb der weiblichen Bevölkerung und der Ärzteschaft, erschließen und medizinisch und sanitätstaktisch ausbilden und bereitstellen. Vom Charakter her und de facto war es spätestens ab 1937 eine nationalsozialistische, von der SS durchtränkte Sanitäts-

VEREIDIGUNG VON DRK-SCHWESTERN, UM 1933 organisation mit NS-nationalstaatlicher Anerkennung und internationalen Verflechtungen, welche in die systematischen Kriegsvorbereitungen des Nazi-Regimes fest eingebunden war. Mit dem Untergang des deutschen Reiches und des damit eng verwobenen DRK endet dieses belastende Kapitel aber noch nicht. Über Fluchtrouten nach Italien und unter aktiver Mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes und des Vatikans konnten bis 1947 viele NS-Schergen mit gefälschten Papieren nach Südamerika fliehen wie zum Beispiel Adolf Eichmann, Josef Mengele oder Klaus Barbie. Visualisiert und abgerundet wurden Aspekte der Tagung mit dem äußerst sehenswerten Film „Missbrauchte Helfer“ (1995) des Kölner Regisseurs Wolfgang Bergmann, der seinerzeit in den dritten ARD-Programmen gezeigt worden war.

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ine erkenntnisreiche Tagung dank der gut vorbereiteten Referent*innen und der regen Diskussionsbeiträge der Teilnehmer*innen. Die Vorträge werden erfreulicherweise zum 101. Geburtstag des DRK in einem Sammelband von der Universität Erlangen gedruckt vorgelegt. Und was sagt das DRK dazu? Leider nahezu nichts. Die Gründung des demokratisch legitimierten DRK wurde zum 100. 17

Geburtstag in keiner Weise gewürdigt. Man habe ja die 150-jährige Gründung 2013 gefeiert. Sein Pressesprecher verwies in seiner Not auf eine eventuelle Reaktion des DRK beim Rotkreuztag am 8. Mai 2021 in Bamberg. Wer das bisherige Programm allerdings studiert, wird bemerken, dass am 76. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges allgemein das Ehrenamt innerhalb des DRK im Fokus dieses Tages steht. Eine Reflexion zur Rolle des DRK im verbrecherischen Zweiten Weltkrieg oder gar eine offizielle Anerkennung des Verrates an den eigenen normativen Idealen ist zumindest bis Drucklegung dieses Forums nicht vorgesehen. Zu hoffen bleibt, dass innerhalb des DRK die Kräfte an Einfluss gewinnen, die die Zeit für eine offizielle und glaubwürdige Erklärung zur belastenden NS-Vergangenheit für gekommen sehen, und dass diese Tagung weitere historische und ethische Forschungen zur Geschichte des DRK mindestens bis zur Gründung der Bundeswehr 1955 beflügelt.

Dr. Horst Seithe ist Mitglied der Regionalgruppe Nürnberg – Fürth – Erlangen und hat die Tagung organisiert.

Foto: © Liselotte Orgel-Köhne / Deutsches Historisches Museum

ner Anklage und dem wahrscheinlichen Todesurteil im April 1945 durch Suizid. Weitere SS-Mitglieder wurden ins DRK auf allen Ebenen abkommandiert. Zwischen 70 und 90 Prozent der DRK-Spitzenfunktionäre waren 1939 teilweise hochdekorierte NSDAP-Mitglieder. Im DRK-Gesetz vom 9. Dezember 1937 (es war erstaunlicherweise bis zum 5. Dezember 2008 in Kraft) kulminierten alle vorausgegangenen Entwicklungen. Die bis dahin bestehenden 8.961 Mitgliedsorganisationen mit ihren inzwischen 1,6 Millionen Mitgliedern wurden zum neuen Deutschen Roten Kreuz mit zentralistischem Aufbau gemäß Führerprinzip zusammengefasst.


ATOMENERGIE

Der World Nuclear Industry Status Report So steht es um die Atomenergie weltweit

Atomkraft, gut fürs Klima? Jährlich grüßt das Murmeltier.

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n regelmäßigen Abständen liest man on- und offline teils überraschende Meldungen wie zukunftsfähig Atomenergie sei, und wie sie überall auf der Welt – außer in Deutschland– auf dem Vormarsch sein soll. Doch selten beschäftigen sich Artikel mit reißerischen Überschriften mit Tatsachen. Das jährlich erscheinende World Nuclear Industry Report liefert dazu hilfreiche Zahlen, die die tatsächliche Lage der Atomindustrie durchleuchten. Glaubt man den sich in den letzten Monaten gefühlt häufenden Meldungen, ist eine „Renaissance“ der Atomenergie zu beobachten. Jährlich grüßt das Murmeltier. Treffender wäre hier von Wiederbelebungsversuchen zu sprechen, denn die Realität sieht anders aus: Die Zahlen der Atomindustrie weltweit sind – mit Ausnahme von China – seit Jahrzehnten tiefrot und zeigen stets nur nach unten. Selbst China baut jedoch erneuerbare Energien weitaus schneller aus als Atomenergie. So sind im letzten Jahr-

zehnt (2011-2020) insgesamt 63 neue Reaktoren ans Netz gegangen, davon 37 allein in China. Währenddessen wurden weltweit 59 Reaktoren stillgelegt, davon keiner in China. Mit anderen Worten: Ohne China sind weltweit 26 Reaktoren ans Netz gegangen, gegenüber 59 Stilllegungen. Ein Minus von 33. So gibt es Anfang 2021 weltweit 412 in Betrieb befindliche Reaktoren. Das sind drei weniger als Anfang 2020, vier weniger als 1990 und ganze 26 Einheiten unter dem historischen Höchststand von 438 Reaktoren, im Jahr 2002. Von einer Wiederbelebung sind wir weit entfernt. Der anhaltende Rückgang der Atomenergie weltweit wurde 2020 mit einem weiteren negativen Saldo aus Inbetriebnahmen und Stilllegungen bestätigt. So sind letztes Jahr nur fünf neue Reaktoren ans Netz gegangen. Ihnen stehen sechs definitive Stilllegungen entgegen. Fünf weitere wurden zudem langfristig vom Netz genommen.

Quelle: Inbetriebsetzungen versus Abschaltungen von Atomreaktoren weltweit – WNISR, mit IAEA-PRIS, 2020 18

Alt, teuer, unflexibel, anfällig, unsicher… Die Atomenergie hat es nicht leicht! Während die weltweite Atomstromproduktion zwischen 2010 und 2019 von 2.630 Terawattstunden auf 2.657 Terawattstunden minimal angestiegen ist (und dennoch lediglich etwa 10,3 Prozent der weltweiten Stromproduktion bedeutet), hat sich die Produktion aus erneuerbaren Quellen (Wasserkraft ausgeschlossen!) mehr als verdreifacht! Mit 2.806 Terawattstunden Stromproduktion im Jahr 2019 haben die Erneuerbaren die Atomenergie so weit hinter sich gelassen. Dies zeigt, wie wenige Absatzmärkte die weltweite Atomindustrie tatsächlich hat. Auch an tatsächlich installierter Leistung lässt sich ablesen, wie gering der Anteil der Atomenergie mittlerweile im Strommarkt ist. In der EU übertraf 2020 die installierte Solarstrom-Kapazität mit 130 Gigawatt erstmals die 116 Gigawatt der Atomenergie. Windkraft hatte ihrerseits die Atomenergie bereits 2014 überholt und hat seitdem den Abstand weit vergrößert. Die Windkraftleistung wuchs um 14 Prozent und die Solarenergie um sieben Prozent, während die Atomenergie um ein Prozent zurückging. Erneuerbare Energien (inklusive Wasserkraft) erzeugten 2020 einen Rekordanteil von 35 Prozent des Stroms, der in der EU erzeugt wurde, während die Atomkraft 25,5 Prozent lieferte – eine sehr nach oben verzerrte Zahl, angesichts des schwer atomlastigen französischen Strommixes. Existierende Atomkraftwerke sind meist sehr alt – sie erzeugen glänzende Profite, weil sie längst abgeschrieben sind. Dabei ist leicht zu verstehen: Je älter ein Kraftwerk, desto anfälliger wird es für Störfälle oder, im schlimmsten Fall, für Katastrophen. Neue zu bauen ist extrem teuer, langwierig und unbeliebt.


ATOMENERGIE

Grafik: WINSR / Mycle Schneider

Subventionen nicht realisierbar, und vor allem für das Militär von Interesse – ohne Gewinn für Umwelt, Klima oder Verbraucher*innen.

Schwer subventioniert in die Zukunft Ein oft genannter „Ausweg“ aus dieser misslichen Lage sind sogenannte „SMRs“, Small Modular Reactors. Atomkraftwerke kleinerer Leistung, die eine flexible Atomstromproduktion an den entlegensten Orten möglich machen sollen. Doch diese schwer subventionierten Konzepte sind genau das: Konzepte. Sie existieren bisher – bis auf einer Ausnahme in Russland – nur auf dem Papier. Diese sind ohne

Während das Gerede über die SMRs unvermindert anhält, gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass die Trends, die die Aussichten für große Atomkraftwerke weitgehend geschmälert haben – Verzögerungen, schlechte Wirtschaftlichkeit und der schnellere und günstigere Ausbau von erneuerbaren Energien zu immer geringeren Kosten – auch diese neuen Technologien betreffen, und dass es keinen Grund gibt, mit angehaltenem Atem auf den Einsatz von SMRs zu warten.

legt, der für den Stromsektor eine Priorisierung von Investitionen in erneuerbare Energien und eine Stärkung der Netze vorsieht. Für alle anderen Energiequellen einschließlich der Atomkraft schlägt die IEA lediglich vor, dass sie beibehalten werden sollten. Die Botschaft ist also klar: Für Wirtschaft, Arbeitsplätze und Klima liegt die Priorität bei den erneuerbaren Energien. Die Umsetzung dieser Vorschläge würde lediglich den Trend der letzten zehn Jahren beschleunigen: Atomkraft ist eine zunehmend veraltete, inkompatible und teure Technologie, die in einem dekarbonisierten Energiesektor nicht mit dem Angebot an günstigeren und sauberen erneuerbaren Energiequellen mithalten kann. Mehr Infos: www.worldnuclearreport.org

Den unausweichlichen Abwärtstrend der Paul-Marie Manière Atomindustrie hat selbst die Internationale ist Referent für Energieagentur (IEA) erkannt. Als Reaktion Atomenergie und Energiewende in auf die Coronaviruspandemie hat die IEA der IPPNW-Geim Juni 2020 einen Dreijahresplan vorgeschäftsstelle.

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10 JAHRE FUKUSHIMA

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Foto: © Shaun Burnie / Greenpeace

Foto: Lena Theunissen/IPPNW

ach einer Überflutung misst Greenpeace die Strahlenbelastung am Abukuma River in der Stadt Fukushima – November 2019.


Foto: © Greenpeace

Weitere Fotos von Shaun Burnie finden Sie hier: https://media.greenpeace.org

Verstrahltes Land 10 Jahre nach dem Super-GAU von Fukushima: Die Radioaktivität bleibt

EIN SCHULHOF IN NAMIE. IN DEN UMGEBENDEN WÄLDERN WURDEN HOHE STRAHLENWERTE GEMESSEN (2018). 21

Foto: © Shaun Burnie / Greenpeace

OKUMA, IN DER SPERRZONE (2019)

Ein Interview mit dem Greenpeace-Atomexperten Shaun Burnie finden Sie auf Seite 34.

Foto: © Shaun Burnie / Greenpeace

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erbst 2019: Das Team von Greenpeace Japan führt seine jährliche Strahlenmessung in der Präfektur Fukushima durch. 70 Prozent der Präfektur bestehen aus Bergwald, der nicht dekontaminiert werden kann, so dass die Umwelt langfristig verseucht ist. Das radioaktive Material, hauptsächlich Cäsium-137, bewegt sich langsam durch das Ökosystem des Waldes. Greenpeace hat festgestellt, dass die Radioaktivität in den Flüssen Fukushimas nach Regenfällen deutlich ansteigt. Dies führt zu einer zunehmenden radioaktiven Kontamination des Pazifiks, aber auch zu einer Rekontamination von Land durch Überschwemmungen. Im Oktober 2019 waren immer noch mindestens 40.000 Einwohner*innen evakuiert. Die japanische Regierung setzt ihre Politik fort, die Evakuierten zur Rückkehr in ihre Häuser zu zwingen, insbesondere in Namie und Iitate, wo die Strahlenwerte hoch sind. Verschiedene Menschenrechtsgremien der UN haben die japanische Regierung aufgefordert, ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz der Bevölkerung nachzukommen.


10 JAHRE FUKUSHIMA

Zehn Jahre Leben mit Fukushima Schilddrüsenkrebsrate steigt, während die japanische Regierung versucht, die Folgen des Super-GAU herunterzuspielen

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ehn Jahre ist es nun her, dass wir alle gebannt auf die Bildschirme starrten, während sich vor unseren Augen die größte Atomkatastrophe seit Tschernobyl entwickelte. Ein Erdbeben hatte das japanische Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi am 11. März 2011 schwer beschädigt. Der nachfolgende Tsunami begrub jede Hoffnung für eine Abwendung eines Super-GAUs. In den nächsten Tagen kam es in drei der sechs Atomreaktoren zu Kernschmelzen. Große Mengen an radioaktiven Partikeln wurden in die Atmosphäre geschleudert. Mehr als 200.000 Menschen mussten evakuiert werden, ganze Landstriche wurden zu strahlenden Sperrzonen. Vielerorts waren die Menschen in Japan damals radioaktivem Niederschlag ausgesetzt. Manche leben bis heute in den verstrahlten Regionen, in denen sie tagtäglich mit erhöhten Strahlenmengen konfrontiert sind: radioaktive Hotspots am Straßenrand, im Reisfeld oder im Sandkasten, kontaminierte Pilze oder Algen, verstrahltes Grundwasser und Rekontaminationen durch Waldbrände oder Überschwemmungen. Doch die atomfreundliche Regierung Japans versucht die Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt herunterzuspielen. Das zeigt auch eine Studie der Fukushima Medical University (FMU) zur Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima. Eine der meistgefürchteten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Schilddrüsenkrebs bei Kindern

ist zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form der strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen sind die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs relativ kurz, nur wenige Jahre. Zum anderen ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, so dass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen ist. Entsprechend groß war 2011 der Druck auf die japanischen Behörden, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.

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eit knapp zehn Jahren untersucht die FMU in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Anfangs handelte es sich bei dieser Gruppe um rund 368.000 Individuen, mittlerweile sind es nur noch knapp 218.000. Seit 2011 wurden drei Untersuchungsreihen durchgeführt, die vierte läuft seit 2018. In der Erstuntersuchung in Fukushima fand man 101 bestätigte Krebsfälle, die so aggressiv waren, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl wurde von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt: Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten sei. In den daraffolgenden Screenings fand man weitere 97 Krebsfälle. Bei diesen Fällen kann ein 22

Screeningeffekt ausgeschlossen werden, denn all diese Kinder waren ja im Vorfeld schon voruntersucht und für krebsfrei befunden worden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den ScreeningUntersuchungen entwickelt haben. Die Erklärung der FMU, die hohen Krebszahlen seien dem Screening-Effekt zuzuschreiben, ist nicht die einzige Maßnahme, die allgemein als Mittel zur Reduzierung der offiziellen Zahl diagnostizierter Krebsfälle gewertet wird. So werden Jugendliche, die 25 Jahre alt werden, aus der offiziellen Hauptstudie ausgeschlossen und in eine neu erschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen. Die Teilnahmequote in dieser Studie beträgt gerade einmal 8 %. Hier wurden bislang 4 Krebsfälle diagnostiziert. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

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inzu kommen elf Schilddrüsenkrebsfälle, die bei Kindern diagnostiziert wurden, die ebenfalls Teil der Studie waren. Allerdings fielen diese nicht im Rahmen der regulären Screening-Untersuchungen auf, sondern im Universitätsklinikum von Fukushima bei Nachuntersuchungen. Diese 11 Fälle wurden nicht zu den offiziellen Ergebnissen hinzugerechnet, obwohl sie identische Tumorentitäten zeigten. Die 11 Fälle wurden im Juni 2017 bekannt. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, ist unbekannt. Zudem stehen Daten anderer Krankenhäusern in Japan nicht zur Verfügung. Die Patienten aus verstrahlten Gebieten außerhalb der Präfektur Fukushima werden nirgendwo erhoben.


SCHILDDRÜSENKREBS BEI KINDERN IN FUKUSHIMA 2011-2021: DIE BLAUE LINIE DER BESTÄTIGTEN FÄLLE STEIGT GEGENÜBER DER ROTEN LINIE DER ERWARTETEN IMMER WEITER AN.

Das spricht dafür, dass die Dunkelziffer der Schilddrüsenkrebsfälle bei Patient*innen, die zum Zeitpunkt der Super-GAUs Kinder in den verstrahlten Gebieten waren, deutlich höher liegen dürfte. Allein die Zahl an offiziell bekannten Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima liegt aktuell bei 213 (198 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, vier aus der Ü25-Kohorte und elf aus der Universitätsklinik Fukushima). Interessant wird es bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 auf 100.000. Das bedeutet, dass in der letzten Kohorte von rund 218.000 Kindern ca. 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten wären. Heute, zehn Jahre nach dem Super-GAU wären demnach knapp 13 Schilddrüsenkrebsfälle zu erwarten – Die tatsächliche Zahl liegt aber mit 213 sechzehnmal so hoch! Betrachtet man ausschließlich die 112 Fälle, die nach der Erstuntersuchung diagnostiziert wurden und somit nicht im Verdacht stehen, durch einen wie auch immer gearteten Screeningeffekt verursacht zu sein, beträgt der Faktor gegenüber der zu erwartenden Zahl an Schilddrüsenkrebsfällen seit Ende der Erstuntersuchung sogar 20. Hinzu kommt, dass die geografische Verteilung der Schilddrüsenkrebsraten mit der vermuteten radioaktiven Belastung korreliert. In den 13 am schwersten kontaminierten Ortschaften im Osten Fukushimas wurde eine deutlich höhere Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern registriert als in

den weniger verstrahlten Gebieten. Am geringsten war die Inzidenz im Westen der Präfektur, wo der radioaktive Niederschlag am wenigsten ausgeprägt war.

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n den Jahren 2016-20 ist die Zahl der Teilnehmenden an den Screening-Untersuchungen kontinuierlich gesunken: von anfangs 79 % im 1. Screening auf 71 % im 2. Screening, 65 % im 3. Screening und aktuell im laufenden 4. Screening auf 60 %. Hinter diesem Trend scheint ebenfalls System zu stecken: die für die Studie federführende FMU schickt seit Jahren Mitarbeiter*innen an die Schulen der Präfektur, um dort Kinder über deren „Recht auf Nichtteilnahme“ und das „Recht auf Nichtwissen“ aufzuklären. Auf den Studienformularen gibt es die Möglichkeit, aus dem Screening entfernt zu werden. Es wird somit ganz bewusst in Kauf genommen und gefördert, dass Kinder aus der Studie austreten. Ein weiterer Grund des Teilnehmerschwunds ist die Ausgliederung der Über25-Jährigen aus der Hauptstudie.

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Bis heute leben die Menschen in Japan mit der Katastrophe. Es gibt weiterhin keine Normalität, auch wenn die atomfreundliche Regierung dies mit bunten olympischen „Wiederaufbau“-Spielen zu verdecken versucht. Die Lehren aus Fukushima zu lernen heißt auch, genau hinzusehen und nicht zu verdrängen: Die Menschen in Japan haben ein unveräußerliches Recht auf Gesundheit und auf ein Leben in einer gesunden Umwelt. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommen dabei nicht nur den Patient*innen selber zugute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden. Es ist wichtig, diese Entwicklungen von außen weiter kritisch zu begleiten.

eben den Schilddrüsenkrebsfällen Detaillierte Version mit Quellen unter: wird auch mit einem Anstieg weiterer ippnw.de/bit/schilddruesenkrebs Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenuntersuchungen der FMU stellen die einzigen wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen dar, die überhaupt relevante Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fu- Dr. Alex Rosen ist kushima liefern können. Derzeit laufen die- Mitglied des AK Atomenergie und se jedoch Gefahr, von Befürworter*innen Co-Vorsitzender der IPPNW. der Atomenergie unterminiert zu werden. 23


10 JAHRE FUKUSHIMA

Fukushima: Auswirkungen auf perinatale Morbidität und Mortalität Radioaktive Strahlung: Zu beobachten sind ähnliche genetische Effekte wie in der Region Tschernobyl

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Indikatoren der perinatalen Mortalität und Morbidität sind Totgeburtlichkeit und neonatale Sterblichkeit (zusammengefasst als perinatale Sterblichkeit), angeborene Fehlbildungen, Chromosomenaberrationen, mangelndes Geburtsgewicht, sowie das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt. Nach Tschernobyl wurde ein erhöhtes Auftreten dieser Merkmale ab dem Beginn der 1990er Jahre dokumentiert. Von 2007 an geriet das sekundäre Geschlechtsverhältnis als empfindlicher Strahlenindikator zunehmend in den Fokus. Aufgrund der Befunde nach Tschernobyl waren entsprechende Effekte nach der Fukushima-Katastrophe (vom März 2011 zu erwarten. Tatsächlich stieg die Perinatal-Sterblichkeit in hochbelasteten Präfekturen ab Januar 2012 gegenüber einem stabilen säkularen Abwärtstrend sprunghaft und langfristig um ca. 15 % an. Konsistent mit der strahlenbedingten Zunahme perinataler Schäden in Japan sowie übereinstimmend mit der Zunahme von Fehlbildungen in Bayern wurden in Japan Indizien für erhöhte Herzfehlbildungen berichtet. Im Jahr 2020 haben wir eine Zunahme der Geburten mit geringem Geburtsgewicht beschrieben.

in wenig bekanntes, aber durchaus relevantes Thema bei Atomkatastrophen wie der von Fukushima sind die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit während der Perinatalzeit. Die Zeit von der 22. Schwangerschaftswoche bis zum siebten Tag nach Geburt ist die wohl vulnerabelste Phase eines menschlichen Lebens. Das ungeborene Kind ist der Radioaktivität, die über die Nabelschnur in seinen Körper gelangt, viel ungeschützter ausgeliefert als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Daher ist es wichtig, die Folgen für das ungeborene Leben bzw. Neugeborene nach Freisetzungen großer Mengen Radioaktivität zu erforschen. Dr. rer. nat. Dipl.-Math. Hagen Scherb untersucht seit 1986 die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl und seit 2011 die von Fukushima, wobei sein Fokus vor allem auf genetischen und perinatalen Effekten liegt.

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um zehnten Jahrestag von Fukushima liegen monatliche perinatale Daten für die 47 Präfekturen Japans von 1995 bis 2019 vor. Abbildung 1 zeigt den Trend der Perinatal-Sterblichkeit in der Präfektur Fukushima. Führt man die Analyse der Abbildung 1 für alle 47 Präfekturen einzeln durch, so erhält man 47 Sprunghöhen der Trends der Perinatal-Sterblichkeit, welche man gegen die mittlere Dosisrate der einzelnen Präfekturen auftragen kann. Das Ergebnis ist in Abbildung 2 dargestellt. Es zeigt sich, dass eine zusätzliche Dosisrate von 1µSv/h die Perinatal-Sterblichkeit um 32 % erhöht. Eine Erhöhung der Dosisrate um 1µSv/h entspricht rechnerisch einer Erhöhung der jährlichen Dosis um 8.8 mSv. Damit steht fest, dass in Japan nach Fukushima ähnliche Effekte beobachtet werden können wie in Europa nach Tschernobyl. Dies sollte Anlass sein, die Entwicklung der strahleninduzierbaren genetischen Effekte beim Menschen genau zu beobachten. Weitere Infos und Quellen unter: fukushima-disaster.de

Dr. Hagen Scherb ist Biomathematiker am Helmholtz Zentrum München. 24


UNTERSTÜTZERKAMPAGNE FÜR DIE KLAGE DES ATOMARBEITERS „ARAKABU“.

Atomarbeiter in Japan Ein Interview mit Felix Jawinski von der Universität Leipzig „Die Ungleichbehandlung von Angestellten der Energiefirmen und den Arbeitern der Subunternehmen ist auch in Japan die Grundfeste der Kernkraftindustrie.“ Herr Jawinski, Sie recherchieren seit 2013 zu Arbeitsverhältnissen in der japanischen Atomindustrie. Wodurch kennzeichnet sich diese? Die Atomindustrie gliedert sich streng hierarchisch in fünf bis sechs, manche Quellen sprechen sogar von bis zu zehn, Ebenen. Die obersten Ebenen diese Pyramide bilden die Betreiberfirmen, darunter deren Tochterfirmen und die großen Baufirmen, mit dann unzähligen Zulieferund Subunternehmensbetrieben in den nachgeordneten Ebenen. Seit den 1970er Jahren war die Zahl der Arbeiter in den Subunternehmen stets größer als die der Betreiberangestellten. Und schon vor 40 „Als wir anfingen, bei der Firma in Fukushima zu arbeiten, hat uns der Chef im Prinzip zwei Dinge gesagt: Erstens, dass Essen aus der Mikrowelle uns stärker radioaktiv verstrahlen würde als das Arbeiten in Fukushima. Wir bräuchten uns also überhaupt keine Sorgen machen. Zweitens, dass wir auf der Arbeit keine Fotos machen, mit niemandem über unsere Arbeit reden dürften und dass wir alle eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen müssten, mit der Klausel dass, wer über die Arbeit rede, eine Strafe von bis zu 50.0000.000 Yen (500.000 Euro) erhalten könnte.“ 50-jähriger Dekontaminationsarbeiter aus den Philippinen (Jawinski 2016)

Jahren gab es ein reges Interesse gewerkschaftlich engagierter Kreise, die harten Arbeitsbedingungen öffentlich zu machen. Denn insbesondere für die Leiharbeiter ist die rechtliche Lage schwierig: Neben den vor allem in den unteren Ebenen oft niedrigen Tageslöhnen müssen sich die Arbeiter der Subunternehmen fast immer

verpflichten, absolutes Stillschweigen über ihr Arbeitsverhältnis zu bewahren. Sie haben selbst Dekontaminationsarbeiter und Arbeiter aus 1F interviewt, was haben Sie erfahren? Atomarbeiter sind stets starkem Stress ausgesetzt. Für die von ihnen verlangte Erledigung einer Aufgabe gibt es oft eine festgesetzte Tageshöchstdosis, die keinesfalls überschritten werden darf, was die Arbeiter oftmals dazu zwingt, sich zu beeilen oder aber bestimmte Tricks anzuwenden, damit das Dosimeter nicht vor Abschluss der Arbeit Alarm schlägt. Schon 1979 erklärte der ehemalige Atomarbeiter Ryūsuke Umeda: „Man kann nicht wirklich weiterarbeiten, wenn das Dosimeter dauernd piept“. Wie er damals enthüllte, waren in japanischen AKWs Mitarbeiter abgestellt, um die Tageswerte der Dosimeter zu manipulieren. Ähnliches ereignet sich heute: Die Arbeiter „vergessen“ die Dosimeter in den Umkleiden oder nehmen sie ab, bevor sie stark verstrahlte Orte betreten. Bei den Aufräumarbeiten im März 2011 hatten außerdem ca. 180 Arbeiter keine Dosimeter. Für sie wurde zumeist der Wert des Vorarbeiters übernommen, der in der Regel an weniger belasteten Orten arbeitete. Wie können Betroffene eine Entschädigung einklagen? Die Hürden für solche Klagen sind hoch – man braucht einen langen Atem und ein Netzwerk von Unterstützern. Bis 2017 wurden in Japan insgesamt nur 18 Fälle arbeitsbedingter Krankheit aufgrund von strahlenexponierter Beschäftigung durch Gerichte anerkannt. Allein die Tatsache, dass im Falle von Leukämie schon fünf Millisievert an nachgewiesener Strahlenexposition für eine Anerkennung ausreichen können und allein 2011 mehr als 10.000 Arbeiter diese 25

Dosis überschritten, lässt erahnen, dass in Zukunft eine hohe Zahl von Verfahren zu erwarten sein könnte. Allerdings können nur einige Krankheiten als berufsbedingt eingestuft werden, und jede ist mit einer eigenen Mindestexposition verknüpft. Bei einem Magentumor muss man etwa nachweisen können, dass man einer akkumulierten Strahlendosis von mindestens 100 Millisievert ausgesetzt war. Ein Fall, der zuletzt in der japanischen Öffentlichkeit präsent war, ist der des an AML erkrankten Aufräumarbeiters „Arakabu“. Seit 2011 hatte er für TEPCO und KEPCO in unterschiedlichen AKW gearbeitet, darunter auch Fukushima Daiichi. Sein Verfahren läuft seit März 2017 – die 17. Gerichtssitzung ist für den März anberaumt – ein Abschluss bis jetzt nicht in Sicht. Was für Gewerkschaftsbewegungen sind hier aktiv? Schon 1981 gründete Seiji Saitō die Gewerkschaftsorganisation „Genpatsu Bunkai“, um Arbeitern der Subunternehmen zu helfen. Aufgrund der Steine, die ihm Arbeitgeber, Polizei und Yakuza in den Weg legten, musste er ein Jahr später aufgeben. Mit seinem Wissen konnte er nach dem Super-GAU viel zur Beratung von Betroffenen beitragen. Nach 2011 gründeten sich mehrere Netzwerke zur Unterstützung Betroffener. Zusammenfassend kann man sagen, dass erst nach dem Super-GAU eine breitere Debatte über das Thema strahlenexponiert Beschäftigter stattgefunden hat – verbunden mit geringfügigen Verbesserungen für die Arbeiter.

Felix Jawinski (Universität Leipzig) ist Japanologe und Politikwissenschaftler. Er forscht seit 2013 zu Atomarbeitern in Japan.


10 JAHRE FUKUSHIMA

Psychosoziale Langzeitfolgen der Atomkatastrophe von Fukushima Wir brauchen einen ehrlichen, transparenten Umgang mit den Folgen des Super-GAU

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arum lässt die japanische Regierung bei der radioaktiven Katastrophe von Fukushima fast ausschließlich psychische Folgen erforschen und nicht die somatischen? Wenn es nicht um Atomunfälle geht, sondern um die gesundheitlichen Folgen etwa von Verkehrsunfällen, so besteht in der medizinischen wissenschaftlichen Community kein Zweifel daran, dass diese sowohl schwere physische als auch schwere psychische Schäden verursachen können und dass die betroffenen Menschen oft jahrelang an bleibenden psychischen Schäden leiden. Die Studien des Fukushima Health Management Survey (FHMS) machen jedoch deutlich: Hier werden die körperlichen Folgen systematisch ausgespart. So, als hätte die Atomkatastrophe „nur“ psychosoziale Folgen.

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ei der Dreifachkernschmelze von Fukushima Dai-ichi traten nach Informationen der japanischen Regierung an die Internationale Atombehörde 1,5 x 1016 Becquerel Cäsium-137 aus. Damit räumte die Regierung indirekt ein, dass in Fukushima im Vergleich mit der Atombombenexplosion von Hiroshima das 168-fache dieser gefährlichen Substanz freigesetzt wurde. Der nukleare Ausnahmezustand vom 11. März 2011 in der unbewohnbaren Sperrzone dauert bis heute an. Über 200.000 Menschen wurden innerhalb weniger Tage aus einer Zone von 20 km rund um die havarierten Reaktoren von Fukushima zwangsevakuiert. Dies bedeutete für Viele Entwurzelung, Unsicherheit, das Auseinanderreißen funktionierender sozialer Beziehungen und Existenzverlust. Vor allem ältere Menschen überstanden die Lebensbedingungen in den kleinen Notunterkünften oft nicht. Andere nahmen sich das Leben. Mittelbar hängen über 2.000 Todesfälle mit dem Super-GAU zusammen.

Die Regierung setzte Gesetze über Strahlenbelastungen außer Kraft und ließ mehrere Millionen Menschen im Stich, die weiter in kontaminierten Gebieten wohnen mussten. Sie erklärte 20 Millisievert pro Jahr zum Standard, um die Wiedereröffnung vieler gesperrter Gebiete zu genehmigen. Damit setzte sie die Menschen, auch die besonders strahlenempfindlichen Kinder, einer unzulässigen Strahlenbelastung aus. Die Reaktionen der japanischen Behörden im ersten Monat nach der Atomkatastrophe deuten auf eine Schockstarre hin. Intransparenz und Fehlinformationen seitens der Regierung verunsicherten die Menschen zutiefst. So sagte etwa der oberste Strahlenschutzexperte der japanischen Regierung, Prof. Shunichi Yamashita, beim „Bürgertreffen“ am 20. März 2011: „Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln.“ Jahresdosen von 100 mSV, so Yamashita, seien unbedenklich.

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m 15. März 2011 kam es wegen eines Wechsels der Windrichtung zu einer Verstrahlung der Gemeinde Iitate außerhalb der Evakuierungszone. Es wurden 45 Mikrosievert/h gemessen. Iitate wurde erst auf Druck der Bevölkerung am 12. April evakuiert. Die Anwohner*innen hatten eigenständige Messungen vorgenommen. Weil sich viele Menschen von den Behörden im Stich gelassen fühlten, begannen sie, sich mit den gesundheitlichen Folgen von radioaktiver Strahlung auseinanderzusetzen. Um der anhaltenden Strahlenexposition zu entkommen, mussten Familien sich trennen, Mütter flohen mit den Kindern in weit entfernte Gebiete Japans, Väter blieben wegen ihres Arbeitsplatzes im verstrahlten Gebiet. Bis heute hält dieser Vertrauensverlust in die japanische Regierung an. Welche medizinischen Fragestellungen wurden untersucht? Der FHMS im Auftrag 26

der japanischen Regierung beschränkte sich auf wenige begrenzte medizinische Fragenstellungen bei der Bevölkerung im Evakuierungsgebiet. Geradezu skandalös ist die Tatsache, dass der Gesundheitszustand der Aufräumarbeiter von Fukushima, der am stärksten von radioaktiver Strahlung betroffene Gruppe, nicht in die amtlich in Auftrag gegebenen Untersuchungen eingeschlossen wurde. Sogar die Empfehlung aus einem Workshop (2012) mit Mitgliedern der Internationalen Agentur für Krebsforschung und der japanischen Regierung der u.a. den Aufbau eines bevölkerungsbasierten Krebsregisters beinhaltete, wurde ignoriert. Alle Maßnahmen der japanischen Regierung, die das Ziel hatten, das Ausmaß der Katastrophe gegenüber der Bevölkerung herunterzuspielen, fanden im Einverständnis großer internationaler Organisationen statt: von UNSCEAR, dem wissenschaftlichen Komitee der UN zu den Auswirkungen atomarer Strahlung, und von der IAEO, der Internationalen Atomenergiebehörde.

Die psychosozialen Studien Auffällig an allen Studien ist, dass sie sich in der Auswertung von Fragebogentests erschöpfen. Da die Studien nicht in klinische Untersuchungen und Behandlungen eingebettet sind, fehlen Angaben zum Schweregrad der jeweiligen psychischen Störung wie auch Fallbeispiele. Ab 2012 führte die FHMS mit ca. 210.000 Menschen aus der Evakuierungszone verschiedene populationsbezogene Fragebogentests zu psychischer Gesundheit durch. M. Maeda et al. widmen sich den sozialen und psychischen Folgen der Atomkatastrophe: Diese hatte die Bevölkerung der Provinz völlig überrascht. Die Menschen waren in einen Zustand von panischer Lähmung


versetzt, mit der Ungewissheit über die Folgen der radioaktiven Ausbreitung. Am stärksten waren Mütter mit kleinen Kindern betroffen. Die Folgen waren ein Anstieg von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Alkoholmissbrauch, Selbstmordhandlungen sowie von öffentlicher Stigmatisierung und Selbststigmatisierung. Bei der Angst der Evakuierten vor einer Kernschmelze und der damit zusammenhängenden Ausbreitung der radioaktiven Strahlung handelt es sich jedoch um eine Realangst, eine adäquate Reaktion auf diese reale Gefahrensituation. Die fehlende Transparenz seitens der Behörden hat die betroffenen Menschen zusätzlich beeinträchtigt. Wie haben die Menschen auf diesen Stressfaktor reagiert? Eine frühe Studie von Miura et al. (2012) beschreibt, dass in den ersten 96 Tagen nach der Atomkatastrophe 1.321 Menschen die psychiatrische Ambulanz in Fukushima aufsuchten. Bei 13,9 % von ihnen wurde eine posttraumatische Belastungsstörung oder auch eine Anpassungsstörung diagnostiziert, bei 17,2 % eine depressive Episode, davon wiederum 30 % als Folge der Atomkatastrophe. Die Suizidrate in Japan ist eine der höchsten weltweit. Verantwortlich dafür werden neben psychischen Erkrankungen soziale und wirtschaftliche Umbruchsituationen gemacht. Auch in den Evakuierungsgebieten von Fukushima wurde die Suizidmortalitätsrate untersucht: Laut Matsuyabashi et al. (2013) kam es im ersten Jahr zu einem Anstieg, besonders bei Männern, dann 2012-13 zu einem Abfall und dann zu einem erneuten Anstieg auf gleichbleibend hohem Niveau. Hierfür dürfte eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich sein: Trennung von der Familie, plötzlicher Verlust des Arbeitsplatzes und damit verbundener Statusverlust, Verlust sozialer Beziehungen. Allerdings erscheint die bloße altersstandardisierte und geschlechtsspezifische Suizidrate als Maß für die psychosoziale Belastung wenig aussagekräftig. Yasoto Kunii et al. (2016) fanden in ihrer Studie über psychische Belastungen bei Evakuierten eine Korrelation zwischen

Yasoto Kunii et al: psychischer Stress bei Evakierten (A) – verglichen mit der radioaktiven Belastung der Umwelt in Mikrosievert (B)

der Höhe der radioaktiven Belastung in dem jeweiligen Bezirk der Präfektur und dem Ausmaß an psychosozialem Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt war. Auf den beiden Karten (s.o.) sieht man, dass in den Zonen mit der höchsten Strahlenbelastung (zwei bis acht Mikrosievert/h) die Menschen mit der größten psychischen Belastung wohnen. Einzelne Faktoren, die in diesen Stressparameter eingehen, können vielfältig sein: Trennung in der Familie, Veränderung der Wohnsituation, Arbeitslosigkeit, verringertes Einkommen und Unsicherheit bezüglich der Zukunft. Mobbing bei Kindern und Jugendlichen: Sawano et al. (2018) befassten sich mit 199 Fällen von Stigmatisierung, die bei evakuierten Kindern bekannt geworden seien, 13 Fälle hätten einen direkten Bezug zur Evakuierung gehabt. Ein Beispiel: Ein Junge, der nach Yokohama umgesiedelt war, wurde von seinen Mitschülern im Zeitraum von 2011-14 geschlagen und getreten und von den Mobbern gezwungen, ihnen insgesamt ca. 13.200 US-Dollar zu zahlen. Der aktuelle Bericht der FHMS (2021) bestätigt die wesentlichen Ergebnisse der referierten Studien: Der starke Anstieg von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Alkoholmissbrauch und Suizidhandlungen unter den erwachsenen Evakuierten (über 16 Jahre) sei aber nach wie vor höher als die Raten von Menschen 27

mit psychosozialen Problemen und Erkrankungen in ganz Japan. Besorgniserregend sei weiterhin die relativ hohe Rate der psychosozialen Belastungen bei Schulkindern. Fazit: Allen Studien fehlt die Einbettung in eine ganzheitliche Perspektive: Körperliche und psychische Befunde gehören zusammen, Diagnostik und Behandlung müssen Teil ein- und desselben Versorgungsprozesses sein. Fallvignetten, die die schwierige Situation der evakuierten Bevölkerung und der betroffenen Aufräumarbeiter illustriert hätten, wären sowohl für das medizinische und psychologische Personal als auch für die internationale Fachöffentlichkeit wichtig. Klinische Studien mit ganzheitlichen Studiendesign, die die Tatsache der anhaltenden radioaktiven Exposition offenlegen, hätten auch Aufschluss darüber geben können, welche psychosozialen Bewältigungsmechanismen in einer Gesellschaft angemessen sind, die durch kollektive Werte geprägt ist. Mehr dazu: ippnw.de/bit/psychfolgen

Dr. Angelika Claußen ist Co-Präsidentin der europäischen IPPNW.


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Ökologie in Fukushima: Was haben wir gelernt? Die biologischen Auswirkungen des Super-GAU von Fukushima wurden bis jetzt kaum erforscht

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s scheint global einen wichtigen Bewusstseinswandel zu geben, was die vielfältigen Beeinträchtigungen des Planeten durch den Menschen betrifft. Endlich erkennen die Menschen überall an, dass das Leben auf diesem Planeten im letzten Jahrhundert tiefgreifend und unumkehrbar von menschengemachten Einflüssen geprägt wurde. Der Klimawandel, der Anstieg des Meeresspiegels und eine Unmenge von Vergiftungen sind für die Ökosysteme der Erde Herausforderungen mit katastrophalen Auswirkungen auf biologische Systeme und Prozesse. Diese Auswirkungen könnten die Widerstandsfähigkeit des Planeten übersteigen. Auf der Erde gibt es keinen Ort, der von diesen Störungen nicht betroffen ist. All unsere Angriffe auf den Planeten haben zu einem sechsten globalen Massensterben geführt. Während angesichts des Klimawandels der „geringe CO2-Fußabdruck“ der Atomenergie attraktiv erscheinen mag, wird nicht allgemein anerkannt, dass AKWs als normaler Teil des täglichen Betriebs große Mengen radioaktiver Abwässer freisetzen, deren gesundheitliche Auswirkungen weitgehend unbekannt sind. Unmöglich ist es jedoch, die radioaktiven Freisetzungen von mehr als 200 Atomunfällen im Zusammenhang mit der Atomenergie zu ignorieren, insbesondere die beiden Super-GAUs von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). Bei beiden Unfällen wurden enorme Mengen an Radioaktivität freigesetzt, obwohl inzwischen anerkannt ist, dass die Katastrophe von Tschernobyl etwa das Zehnfache an Ra-

dioaktivität freisetzte und dass aufgrund der Wetterverhältnisse im März 2011 der größte Teil des Fukushima-Fallouts nicht an Land, sondern im Pazifik landete.

Zehn Jahre seit Fukushima – Was haben wir gelernt? Um diese Frage zu beantworten, folgte ich einem einfachen Ansatz und verschaffte mir anhand des Web of Science (WoS) einen Überblick über die wissenschaftlichen Literatur. Mein erster Eindruck war, dass in den letzten zehn Jahren Unmengen an neuem Wissen zu diesem Thema erzeugt worden sind – 7.840 wissenschaftliche Arbeiten. Eine genauere Betrachtung ergab aber, dass sich der Großteil dieser Arbeiten mit verschiedenen Aspekten der Verteilung und Häufigkeit von Radionukliden im Zusammenhang mit dem Super-GAU beschäftigte und nicht mit den Folgen der radioaktiven Strahlung. Tatsächlich basiert eine beträchtliche Anzahl dieser Veröffentlichungen eher auf mathematischen Modellen als auf empirischen Daten – weshalb ihre Schlussfolgerungen weitgehend spekulativ sind. Außerdem gibt es bei vielen der Veröffentlichungen etliche Überschneidungen und Wiederholungen. Das soll nicht heißen, dass solche Untersuchungen nicht nützlich sind! Sie sind es sehr wohl und sollten der erste Schritt in jeder detaillierten Analyse der Beziehung zwischen Radionukliden und betroffenen Teilen der Biosphäre sein – seien es Pflanzen, Tiere oder Menschen. Zum Beispiel hat Dr. Ken Buesseler, ein Meeresgeochemiker vom Woods 28

Hole Oceanographic Institute, umfangreiche Publikationen zur Verteilung und zu Bewegungen von Radionukliden auf der Grundlage von Messungen im Meer veröffentlicht. Diese gehören zu den meistzitierten und einflussreichsten Arbeiten zum Thema. Enttäuschend ist jedoch, dass die Bewertung der Auswirkungen dieser Radionuklide auf biologische Systeme nur minimal weiterverfolgt wurde. Selbst dort, wo wir wissen, dass die Konzentrationen hoch sind, wurde kaum genetische, physiologische oder ökologische Forschung betrieben.

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enn wir schauen, wie oft jede dieser Arbeiten zitiert wurde, ist das Papier der Forschungsgruppe um Joji Otaki zu den biologischen Auswirkungen des Atomunfalls auf den Schmetterling Pseudozizeeria maha („pale gras blue butterfly“ – Hiyama et al 2012), das in dieser Rangliste erst auf Platz 46 kommt, das erste, das sich wirklich auf nicht-menschliche biologische Auswirkungen der radiologischen Komponenten der Katastrophe bezieht. Otakis Team war sehr aktiv und hat bis heute etwa 60 Publikationen zu diesem Schmetterlingssystem veröffentlicht. Damit hat sie die komplexen multigenerationalen Wechselwirkungen zwischen der radioaktiv verstrahlten Umwelt und diesem Beispiel-Insekt konsequent und überzeugend erforscht. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehören starke Hinweise auf Mutationen, die durch Radioaktivität ausgelöst wurden und sich auf die Gesundheit der Tiere und die Populationsstärken auswirken.


10 JAHRE FUKUSHIMA

HIYAMA ET AL (2012): BIOLOGICAL IMPACTS OF THE FUKUSHIMA NUCLEAR ACCIDENT ON THE PALE GRASS BLUE BUTTERFLY / CC BY-NC-SA 3.0

Foto: gemeinfei

PSEUDOZIZEERIA MAHA / PALE GRASS BLUE BUTTERFLY

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s gibt eine Handvoll Arbeiten, die klassische radioökologische Methoden anwenden, um mögliche biologische Folgen zu untersuchen – aber mit wenigen Ausnahmen handelt es sich dabei um hypothetische Erkundungen dessen, was möglich ist angesichts unseres begrenzten Verständnisses der Radionuklidbewegung durch das Ökosystem. Auch der Wert dieser Untersuchungen ist begrenzt, da wir die tatsächliche Schädigung von Organismen, die in den betroffenen Regionen von Fukushima leben, viel eingehender untersuchen müssten. Eine Ausnahme ist die Studie von Jacqueline Garnier-Laplace und Kollegen (2015), die moderne radioökologische Methoden einsetzt, um wahrscheinliche Dosen für Tausende Vögel abzuschätzen, die Anders Møller und Kollegen in Fukushima 201114 untersuchten. Bei dieser Reanalyse stellte sich heraus, dass eine Berechnung der Dosen grundsätzlich zu ähnlichen Ergebnissen führte wie die Untersuchungen, die auf einfachen Messungen der Umgebungsstrahlung beruhten, außerdem gaben sie der Studie die dringend nötige zusätzliche Stringenz. Die wichtigsten Er-

gebnisse waren, dass Vogelreichtum und -vielfalt in stärker radioaktiv belasteten Gebieten signifikant niedriger waren und dass dies wahrscheinlich mit der Strahlendosis zusammenhing, der die Tiere ausgesetzt waren. Mit demselben Ansatz analysierte das Team die Verteilung und Populationsstärke von Säugetieren in Tschernobyl – mit fast gleichem Ergebnis (BeaugelinSeiller et al. 2020). Außerdem gibt es ein paar Dutzend Studien über japanische Makaken, Blattläuse, Wildschweine, Kühe sowie andere Arten. Zumeist war jedoch der Umfang dieser Studien zu klein, oder sie waren nicht wiederholbar und haben keinen wesentlichen signifikanten Beitrag zum Verständnis des Ökosystems von Fukushima bzw. der Strahleneffekte im Allgemeinen geleistet. Schuld an diesem Mangel ist anscheinend, dass der Fokus der Forschung auf radioökologischer Forschung (zur Bewegung von Radionukliden) liegt – zulasten der ökologischen Grundlagenforschung Das kommt nicht unerwartet – denn die überwiegende Mehrheit der Gelder für die Strahlenökologie kommt entweder von der 29

Atomindustrie (z.B. in Japan von TEPCO) oder von Agenturen, die mit Aufsichts- und Sicherheitsfragen zu tun haben (z.B. der IAEA und ihren Zweigstellen). Die unglückliche Realität der modernen Welt ist, dass sehr wenig passiert, wo es keine finanziellen Investitionen gibt – und die Grundlagenforschung ist da keine Ausnahme.

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ehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima haben wir etwas mehr über die biologischen Auswirkungen von Strahlung in natürlichen Systemen gelernt. Doch die meisten der wichtigen Veränderungen, die aufgetreten sind, haben wir verpasst, weil niemand da war, um Messungen vorzunehmen. In Tschernobyl ist die Situation etwas besser, vor allem, weil der Super-GAU dort ein viel größeres Ereignis war – außerdem ist die Umgebung dort logistisch besser zugänglich. Es ist noch viel zu lernen über die ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung. Doch Fortschritt erfordert Investitionen. Dokumentation des Vortrages von Timothy Mousseau: www.fukushima-disaster.de

Prof. Timothy Mousseau ist Biologe an der University of South Carolina. Er hat die Strahlenfolgen in Tschernobyl und Fukushima untersucht.


WELT

Studis: International und virtuell Der Weltkongress der Studierenden

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amstag, der 30. Januar, 10.30 Uhr: Dominik aus Polen ruft an und fragt, ob es einen Dresscode für den Kongress gebe. Es erreichen mich mehrere WhatsappNachrichten, wo denn der Link zur Anmeldung sei. Komisch, ist die letzte Erinnerungsmail gestern nicht rausgegangen? Ich schicke nochmal eine Mail an alle Registrierten und sehe, dass sich seit gestern noch weitere 20 Personen angemeldet haben – kein Wunder also, dass sie den Link noch nicht haben. Jetzt sind es 150 Anmeldungen aus 24 Ländern.

Foto: Jernej Furman / CC BY-2.0

12.30 Uhr: Es ist soweit. Wir treffen uns im Zoom-Raum für die letzten Vorbereitungen. Dominik hat sich für ein legeres Hemd entschieden – gute Wahl! Die ersten Menschen betreten den Raum. Es ploppen immer mehr Namen auf. Zu einigen kenne ich die Gesichter, andere nur aus E-Mail-Unterhaltungen der letzten Wochen. Mahmood aus Ägypten von der IFMSA ist auch dabei. Der Zoom-Raum füllt sich, bis über 60 Menschen da sind. Und dann gehts los! Für den ersten Tagen ist geplant, dass jedes Land sich kurz vorstellt. Viele der Gruppen haben eine Präsentation vorbereitet und wer wollte, konnte einen passenden Song dazu schicken. Dominik moderiert und Molly aus dem Büro in Boston organisiert im Hintergrund die Technik: Land anmoderieren – Bildschirm teilen – Song anspielen – Präsentation zeigen. Die Technik

funktioniert einwandfrei und alle machen begeistert mit. Eine unglaubliche Vielfalt von Aktionsformen und bearbeiteten Themen wird deutlich: Die Gruppe aus der Mongolei hat zum Beispiel mit Chemielehrern aus einer Schule ein Wissenswettbewerb zu nuklearer Technik und ihren Gefahren organisiert. Nur die Zeit rennt uns davon. Die ursprünglich für diesen Teil angepeilten 45 Minuten haben wir schnell überschritten. Doch unterbrechen wollten wir diesen wertvollen Austausch nicht. Wir bleiben flexibel und verschieben die Workshops zur Strategieplanung auf den nächsten Termin. So schließen Kelvin und ich den ersten Tag mit einem kurzen Input zum aktuellen Stand der globalen nuklearen Abrüstung und mit einem Bericht über unsere Aktivitäten als Internationale Studisprecher*innen seit Sommer 2017.

unserer Website und auf unseren SocialMedia-Kanälen abrufbar. Nach einer Frage-Antwort-Runde mit den Kandidat*innen wird online gewählt. Victor Chelashow aus Kenia erhält die meisten Stimmen im ersten Wahlgang. Yusuf Dominik aus Nigeria und Ulfat Pardesi aus Indien sind jedoch beide gleichauf auf dem zweiten Platz. In einer anschließenden Stichwahl gewinnt Yusuf. Da der internationale Vorstand Gleichberechtigung und regionale Diversität gewährleisten möchte, hat sich das Executive Board dafür ausgesprochen, die Position der Internationalen Studierendensprecher*innen um einen Platz zu erweitern und Ulfat die Position ebenfalls anzubieten. Eine endgültige Entscheidung wird während des International Council Meetings am 22. und 23. März 2021 getroffen.

Zwei Wochen später, am 13. Februar, findet der zweite Teil des Kongresses statt. Dort gibt uns Carlos Umaña aus Costa Rica einen Input zu „Evidence-based Policy-Making“. Das Beispiel von ICAN und den humanitären Konferenzen, die zum Atomwaffenverbot führten, zeigt, wie gut dieses Konzept funktionieren kann. Anschließend holen wir die Strategieplanung nach. Es gibt einen Workshop zu „Advocacy Work“, zur besseren Kommunikation unter den internationalen IPPNW-Studis und einen zu unserer Social-MediaPräsenz. Und dann ist es endlich so weit: Wir wählen die neuen Internationalen Studierendensprecher*innen. In der Zeit zwischen den beiden Konferenztagen konnten sich die Kandidat*innen in kurzen Videos vorstellen. Die Videos sind auf

I

nsgesamt war es also eine bis zur letzten Minute spannende und inspirierende Konferenz. Durch sie wurde die Stärke und Vielfalt der internationalen Studierendenbewegung deutlich. Ausschnitte beider Konferenztage sind online verfügbar: Facebook @IPPNWStudents – Instagram @IPPNW_Student Zum Schluss möchte ich mich herzlich bei den Menschen bedanken, ohne die dieser Kongress nicht möglich gewesen wäre: bei Molly McGinthy aus dem IPPNW-Büro in Boston – bei Dominik Stosik (Polen) und Ella Faiz (Frankreich), den europäischen Studisprecher*innen – bei Sophia Christoph, der deutschen Studisprecherin, bei Alexej Silenko (Deutschland) – und natürlich bei Kelvin Kibet aus Kenia, mit mir zusammen internationaler Studierendensprecher.

Franca Brüggen war bis vor kurzem internationale StudierendenSprecherin der IPPNW. 30


AKTION

BREMEN

RATHAUS FRANKFURT

Nukes are Banned! Die IPPNW feiert das Atomwaffenverbot

A

m 22. Januar 2021 ist der UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen in Kraft getreten – ein großer Erfolg und Anlass zum Feiern. ICAN hatte im Vorfeld bundesweit über eintausend Flaggen mit der guten Botschaft an Aktivist*innen und Initiativen verschickt. In vielen Städten fanden unter Wahrung der CoronaAuflagen Aktionen und Aktivitäten statt. Einige Gruppen hatten ihre lokalen Bürgermeister*innen für Frieden dazu eingeladen oder äußerten sich in der Presse zum Atomwaffenverbot. International riefen Gesundheitsorganisationen wie das IKRK und die World Medical Association die Regierungen zur Unterzeichnung auf: „Atomwaffen sind von Menschen gemacht, daher liegt die Lösung der Bedrohung in unserer Hand. Atomwaffen zu beenden bevor sie die Menschheit und viele andere Lebensformen auslöschen, ist ein dringendes gesundheitliches und humanitäres Gebot.“

RATHAUS COCHEM

LANDSBERG / LECH 31


G ELESEN

Chronik der Krise

Hiroshima ist überall

Ein Streitschrift für die Grundrechte in Zeiten von Corona: Wir müssen uns vor dem Virus schützen, aber auch vor Schäden an der Demokratie.

Die Aktualität des Philosophen Günther Anders – eines der bekanntesten Vertreter der Anti-Atomtod-Bewegung der 1950er und 60er Jahre

n seinem Buch hat Heribert Prantl seine Kolumnen der letzten Monate zusammengefasst, die zum Teil in der Süddeutschen Zeitung und zum Teil in seinem Newsletter „Prantls Blick“ erschienen sind. Entstanden ist eine „Chronik der Krise“, die die einschneidenden Ereignisse des vergangenen Jahres Revue passieren lässt und in oftmals drastischen Worten kommentiert.

er 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, dass die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht – dass wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden – der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet,“ schreibt Günther Anders.

Corona habe viele von uns entheimatet, nur dass diese Entheimatung von den Menschen sehr unterschiedlich erlebt werde. Als besorgniserregend empfindet Prantl die Selbstbeschneidung des Bundestages und die Auswirkungen des neuen Infektionsschutzgesetzes, auf dessen Grundlage die „schwersten Eingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland,“ stattgefunden haben, wie es eine wissenschaftliche Gruppe um den Juristen Prof. Sebastian Kluckert formuliert. Prantls Fazit: „Grundrechte sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten. Sie gelten immer – gerade und erst recht im Katastrophenfall.“ Nicht jede Freiheitseinschränkung sei eine Verletzung der Grundrechte – die Politik müsse aber in jedem Fall die Verhältnismäßigkeit wahren. In den Blick nimmt der Autor viele der Themen, die von Corona „aufgefressen“ und oftmals aus dem Blick der Öffentlichkeit verdrängt wurden: Die Klimakatastrophe, den bedrohlicher werdenden Rassismus und die Spaltung unserer Gesellschaft, die Militarisierung und digitale Überwachung, die im Schatten der Krise auf dem Vormarsch sind. Seine Aufmerksamkeit gilt zuerst den Verlierer*innen dieser Krise – etwa den Menschen in den Heimen, die während des Shutdowns oftmals alleingelassen wurden.

Das Entsetzen über die Atombombenabwürfe durchzieht Günter Anders‘ gesamtes philosophisches Werk. Im Zentrum steht die Frage nach der Verantwortung und nach den Schuldzusammenhängen, die vom einzelnen Individuum kaum bewältigt werden können. Unser Problem sei, dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen seien, dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können.

Wir müssen uns für ein Gesundheitssystem ohne Privatisierung und Sparzwänge einsetzen, fordert Prantl. Um eine neue Heimat in Corona-Zeiten zu finden, können wir daran arbeiten, „die Spaltung der Gesellschaft und die Schwarzweiß-Malerei zu überwinden“. Nicht zuletzt brauche es ein gutes Stück Optimismus, denn (mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen) „den Optmismus als Wille zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens.“

„Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die NATO-Länder zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen,“ schrieb Otfried Nassauer wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod im Herbst 2020.

I

D

Im Sommer 1961 beginnt Anders einen eineinhalbjährigen Briefwechsel mit dem am Hiroshima-Einsatz beteiligten Piloten Claude Eatherly. Eatherly flog an jenem Morgen das Wetteraufklärungsflugzeug. Obwohl nur mittelbar am Abwurf der Bombe beteiligt, war er der einzige, der öffentlich Reue zeigte und damit zunehmend zum Politikum wurde. Er litt unter schweren, nicht bewältigten Schuldgefühlen. In seinem ersten Brief an Eatherly schreibt Anders: „Die Technik hat es mit sich gebracht, dass wir auf eine Weise schuldlos schuldig werden können, die es früher, in der technisch noch nicht so fortgeschrittenen Zeit unserer Väter, noch nicht gegeben hatte.“ Wie aktuell dieses Thema immer noch ist, zeigt das Dilemma mit der deutschen nuklearen Teilhabe:

Heribert Prantl: Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne. München: C.H: Beck, 200 S., Broschur 18,- Euro, e-Book 12,99 Euro, ISBN 978-3-406-76895-8

Günther Anders: Hiroshima ist überall. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki. Der Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Rede über die drei Weltkriege. München: C.H: Beck, 394 S., 12,50 Euro, ISBN 3-406-39212-1

Regine Ratke

Ute Rippel-Lau 32


G EDRUCKT

TERMINE

Amatom 33

APRIL 1.–5.4. Ostermärsche 2021

Im neuen Layout: IPPNW-Magazin von und für Studierende Was, wenn man ein supertolles Titelthema geplant hat und plötzlich „Corona“ ist? Die Amatom-Redaktion hat sich in diesem Heft erst recht dem Thema „deutsche Einheit“ zugewendet. Denn im Jahr ihres dreißigsten Geburtstags stand die Einheit vor einer besonderen Zerreißprobe. Es ist eine Zeit, die Widersprüchliches hervorbringt, und dazu kamen die zwiespältigen Gefühle, die die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte eben so mit sich bringt.

40 Seiten vierfarbig, Kosten: 1,- Euro zzgl. Versandkosten. Zu bestellen unter shop.ippnw.de Lesen: issuu.com/IPPNW

Die Redakteur*innen haben sich auf eine Zeitreise in die IPPNW-Geschichte begeben, in ein Europa vor der Pandemie. Wusstet Ihr, dass es neben der offiziellen IPPNW-Sektion der DDR noch viele weitere unabhängige Friedensgruppierungen gab? Wie diese letztlich zusammenfanden, könnt Ihr in diesem Amatom erfahren. Wo die IPPNW jetzt steht und was nach 1989 und dem abrupten Ende des Kalten Krieges passiert ist? Auch dazu findet Ihr hier Beiträge unseres studentischen Redaktionsteams. Und außerdem: We proudly present our new Layout!

23.4. Rotenburg/Wümme: Vortrag „Klima bewahren und Zukunft gestalten: Brauchen wir eine neue Ökonomie?“ mit Prof. Maja Göpel 24.4. Rotenburg / Wümme: Vortrag „Klimakrise UND Pandemie: Lösungen für Afrika“, mit Bärbel Höhn

MAI 29.–30.5. Altenfelden, Oberösterreich: Seminarwochenende zum Thema „Climate, War and Health“: www.ippnw.at

JUNI 18.–20.6. Landsberg am Lech IPPNW-Kongress „40 Jahre IPPNW“

JULI 9.-11.7. Fliegerhorst Büchel: IPPNW- und ICAN-Aktionstage Infos: buechel.nuclearban.de

AUGUST 6. & 9.8. Aktionen zu den Hiroshima- & Nagasaki-Jahrestagen

G EPLANT Das nächste Heft erscheint im Juni 2021. Das Schwerpunktthema ist:

Atomwaffen sind verboten! Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 166 /Juni 2021 ist der 30. April 2021. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete

Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer

Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

der Redaktion oder des Herausgebers. Nach-

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika

drucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Wilmen, Regine Ratke, Lara-Marie Krauße

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum,

30. April 2021

Körte­straße 10, 10967 Berlin,

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,

Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66,

Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Berlin

E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de,

Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft,

Bildnachweise: S. 18 o. li.: Gib auch du zum 2.

Kto-Nr. 2222210, BLZ 100 20 500,

Kriegshilfswerk für das Deutsche Rote Kreuz.

IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10,

Plakat, Schuchert, Hamburg, 1941

BIC: BFSWDE33BER

/ CC BY-SA 4.0

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag 33

SEPTEMBER #HandinHand Rettungskette für Menschenrechte – von der Nordsee bis an das Mittelmeer. www.rettungskette-ulm-neu-ulm.de Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Ä nder ung: 2022

IPPNW-Begegnungsreise Palästina/Israel Die Reise musste leider auf Mai / Juni nächsten Jahres verschoben werden. Weitere Infos in Kürze.


G EFRAGT

6 Fragen an … Foto: © Christian Åslund / Greenpeace

Shaun Burnie

… Atomexperte bei Greenpeace – führt seit 2011 regelmäßig Strahlenmessungen in der Präfektur Fukushima durch.

1

Das Dekontaminationsprogramm, das 2012 begann, war ein Programm bis daher unbekannten Ausmaßes. Ja, im März 2019 hatten sich die Gesamtkosten auf 28 Milliarden Dollar summiert. Nach Angaben der japanischen Regierung war ein „Äquvalent von 13 Millionen Dekontaminationsarbeitern“ im Einsatz – 17 Millionen Tonnen Atommüll sind angefallen. Das Außmaß der Arbeiten ist schwer zu fassen, wenn man nicht vor Ort gewesen ist.

sicher – exemplarisch haben wir in Iitate seit 2015 regelmäßig das Grundstück den Hausbewohners Toru Anzai durchgemessen: Sieben von zehn gemessenen Orten überschritten 2019 deutlich die 0,23 µSv/h. Die Werte gehen nur langsam zurück. Uns schien es wahrscheinlich, dass Radioaktivität aus einem höher gelegenen Waldstück mit dem Regen heruntersickert und die bereits dekontaminierten Zonen in der Nähe des Hauses wieder verstrahlt.

2

Was soll mit dem verseuchten Boden passieren? Dem japanischen Umweltministerium zufolge sind in der Speziellen Dekontaminationszone bis Ende 2018 9,1 Millionen Kubikmeter verseuchter Boden angefallen. Dieser Abraum soll in der Nähe des AKW gelagert werden. Das heißt, hier finden täglich hunderte von Atomtransporten statt. Derzeit gibt es rund 50.000 vorläufige Lagerstätten in der ganzen Präfektur Fukushima. Die Pläne, die radioaktive Erde nur für 30-40 Jahre hier zu lagern, sind unrealistisch. Der Abraum wird lange bleiben.

5

3

6

Wie sehen sie die Situation in Hinblick auf die Olympischen Spiele? Wir haben im November 2019 an den Sportstätten für die Wettkämpfe gemessen. Beim Sportzentrum von Azuma, 80km vom AKW entfernt, lagen die Werte unterhalb des angestrebten Werts. Im J-Village, wo der Fackellauf starten sollte, fand sich viel radioaktives Cäsium. An einem Ort lagen die Werte sogar bei über 70 µSv/h. Nachdem TEPCO hier einige Quadratmeter dekontaminiert hatte, blieben die Werte bei ca. µSv/h – um das 25-fache über dem Wert vor 2011.

Was haben Sie bei Ihren Untersuchungen in Japan herausgefunden? Seit März 2011 haben wir die Gebiete Iitate, Namie, Okuma, Naraha und Fukushima untersucht, sowohl die zugänglichen Gebiete als auch die Sperrzonen. In jedem untersuchten Gebiet haben wir Zehntausende Messpunkte etabliert und radioaktive Hotspots ausfindig gemacht, zuletzt im November 2020. Die tatsächlich gemessenen Strahlenwerte sind viel höher als die 0,23 µSv/h. Zum Beispiel sind etwa 79 % der Gemeinde Iitate nicht dekontaminiert – nämlich die Berg- und Waldregionen.

Was sollte die japanische Regierung tun? Die Regierung sollte von ihrer derzeitigen Rückkehrpolitik Abstand nehmen. Sie darf nicht ein viel höheres lebenslanges Risiko für die Einwohner*innen riskieren. Stattdessen muss sie klar kommunizieren, wann sie das Ziel von 0,23 µSv/h realistischerweise erreichen kann – und auf keinen Fall die Grenzwerte erhöhen. Sie sollte das Risiko untersuchen, das radioaktive Hotspots für die öffentliche Gesundheit darstellen. Wir empfehlen, die Evakuierung der betroffenen Gemeinden auf jeden Fall bestehen zu lassen und den Betroffenen volle Entschädigung und finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Die Bürger*innen müssen selbst entscheiden dürfen, ob sie zurückkehren oder umziehen möchten – unabhängig von der Dauer und frei von finanziellem Druck. Schließlich muss die Regierung den Empfehlungen und Anfragen der UN nachkommen und die Anfrage des UN-Sonderberichterstatters annehmen, sich in Japan ein Bild von der Lage zu machen.

4

Was heißt das für die Bevölkerung? Mit der Ankündigung, die Dekontamination sei abgeschlossen, wollte man die Bevölkerung ermutigen, nach Hause zurückzukehren. Die japanische Regierung versucht, die Bevölkerungszahlen der Region wieder auf den Stand von 2011 zu bringen, um den Eindruck von Normalität herzustellen. Der Aufenthalt dort ist jedoch nicht 34


Ein Projekt von .ausgest

ätswerken rahlt und den Elektrizit

Schönau

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# 16 Sicherheitsmängel

Was bedroht Leben und Gesundheit von Millionen Menschen, belastet Tausende von Generationen mit strahlendem Müll, ist ineffizient, inkompatibel mit Erneuerbaren Energien und zudem die teuerste Art, Strom zu erzeugen? Genau, das ist Atomkraft: ein Irrweg, auch und gerade in der Klimakrise. Gegen alte wie neue Reaktoren sprechen also jede Menge gute Gründe. Hier sind 100 davon. Zum Weiterverbreiten!

w w w .1 00 -g ut e- gr ue nd

Keines der 130 Atomkraftwerke in Europa bekäme heute noch eine Genehmigung. … weiterlesen auf > > >

e. de

40 Jahre IPPNW Ärztliche Verantwortung für eine Welt in Frieden Kongress der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

18. – 20. Juni 2021 Historischer Rathaussaal 86899 Landsberg am Lech

Programm und Anmeldung: ippnw.de / bit / 40-jahre In Memoriam Karl Bonhoeffer | Horst-Eberhard Richter | Hans Peter Dürr 35


IPPNW- & ICANAKTIONSCAMP BÜCHEL 6.-11. Juli 2021 Am 22. Januar diesen Jahres

der Verfügung über US-Atom-

lich kundzutun – mit Work-

ist der Atomwaffenverbotsver-

waffen in Büchel handelt die

shops, Musik, Tanz, Theater

trag der Vereinten Nationen in

Bundesregierung eindeutig

und Aktionen. Wir wollen

Kraft getreten. Seitdem sind

gegen geltendes Völkerrecht.

die öffentliche Aufmerksam-

Atomwaffen völkerrechtlich geächtet und somit verboten. Ein Meilenstein im jahrzehntelangen Kampf gegen die atomaren

Auf dem Fliegerhorst der Bundeswehr in Büchel trainieren deutsche Pilot*innen im

Massenvernichtungsmittel!

Rahmen der nuklearen Teilhabe

Obwohl die Bundesregierung

sind im Kriegsfall verpflichtet,

vorgibt, an einer atomwaffen-

die Atombomben im Zielgebiet

freien Welt zu arbeiten, und

abzuwerfen.

regelmäßig den Abwurf und

laut einer repräsentativen Umfrage 92 Prozent der Deutschen für einen Beitritt zum Atom-

Seid dabei!

keit erhöhen und bei den politisch Verantwortlichen ein Umsteuern bewirken.

Wir fordern die Bundes regierung auf: – sich an das Völkerrecht zu halten, – den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen und

waffenverbot sind, boykottiert

Vom 6.-11. Juli 2021 kommen wir

– den Abzug der US-Atombomben

Deutschland immer noch den

in Büchel zusammen, um vor

aus Büchel in die Wege

Verbotsvertrag. Mit der nuklea-

Ort unsere Forderungen und

zu leiten

ren Teilhabe in der NATO und

unseren Protest laut und deut-

ICAN DEUTSCHLAND

2017 NOBEL PEACE PRIZE

Infos und Anmeldung: bueche l.nuclearban.de


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