Foto: © Uli Reinhardt / Zeitenspiegel Reportagen
ippnw forum
das magazin der ippnw nr167 sept2021 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
- Argumente gegen Atompropaganda - Türkei: Widerstand in Krisenzeiten - Opferzahlen nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“
Sicherheit neu denken! Für Krisenprävention und zivile Lösungen
Sonntag, 31. Oktober 21 10-19 Uhr
20 Jahre NATO-Krieg in Afghanistan – eine vorläufige Bilanz Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77 60329 Frankfurt am Main Veranstalter: Attac-AG Globalisierung & Krieg, Friedens- und Zukunftswerkstatt Ffm, Pax Christi, IPPNW
Nach Abzug der NATO-Interventionstruppen ziehen wir ein Resümee: Seriöse Schätzungen gehen von mindestens 238.000 Todesopfern in Afghanistan und Pakistan aus – weit überwiegend unter der Bevölkerung. Millionen von Menschen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land, und unter den Geflohenen, die bis Europa gelangt sind, stellen Afghaninnen und Afghanen die zweitgrößte Gruppe. Im Land selber haben laut UNICEF 41 Prozent der Kinder unter fünf Jahren nicht genug zu essen, sauberes Trinkwasser steht im Schnitt weniger als 40 Prozent der Menschen zur Verfügung. Afghanistan zeigt in besonders drastischer Weise, wie weit das militärische Verständnis von „Sicherheitspolitik“ von den elementaren menschlichen Sicherheitsbedürfnissen abweicht, wie wenig den globalen Machtstrategen an Ernährungssicherheit, an einer sicheren Umgebung für das Aufwachsen der Kinder, an der Sicherung einer intakten Umwelt gelegen ist. Bei unserer Konferenz werden wir uns mit diesen Opferzahlen beschäftigen, aber auch mit den Motiven der internationalen und afghanischen Akteure sowie mit den Schlussfolgerungen für die deutsche Außen- und „Verteidigungs“Politik. Welche Handlungsoptionen kann die Friedensbewegung entwickeln, um weitere Desaster dieser Art zu verhindern?
Weitere Infos & Anmeldung: ippnw.de/bit/afghanistan
Zerstörte Häuser in Kabul. Foto: Jochem Wijnands, © Horizons WWP / Alamy Stock Photo
Konferenz der Friedensbewegung Gewerkschaftshaus Frankfurt
EDITORIAL
Andy D‘Agorne CC BY-NC-ND 2.0
Dr. Lars Pohlmeier ist Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW.
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on Anfang an hat die IPPNW im Trägerkreis der Initiative „Sicherheit neu denken“ mitgearbeitet. Die Initiative hat ein Konzept ziviler Außen- und Sicherheitspolitik erarbeitet, das auf Gewaltprävention und Kooperation setzt. Das Konzept skizziert Schritte und Etappen dorthin und zeigt in fünf Politikfeldern den möglichen Weg zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Ralf Becker, Koordinator von Sicherheit neu denken, gibt uns in seinem Artikel einen Überblick über die Zukunftsszenarien und Ziele der Initiative. Theresa Hirn und Mirka Hurter haben junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren befragt, ob sie sich vorstellen können, sich für Sicherheit und Frieden zu engagieren. Basierend auf den Ergebnissen der Umfrage entwickeln sie derzeit ein friedens- und sicherheitspolitisches Fortbildungsangebot für die Kampagne. „Polizei statt Militär“: Theodor Ziegler stellt in seinem Artikel die Zukunftsperspektive einer „Internationalen Polizei“ vor, deren Arbeit konfliktlösend, präventiv und auf langzeitigen Beziehungsaufbau angelegt ist. Dieses Konzept wurde von Vertreter*innen aus Wissenschaft, Friedensbewegung, Polizei, Militär und Politik entwickelt. Dr. Angelika Claußen und Angelika Wilmen schreiben über die Schnittpunkte der IPPNW zu „Sicherheit neu denken“. Eine wichtige Rolle spielt hier das Thema Klima und Militär. Angesichts der katastrophalen Entwicklung in Afghanistan fordern wir außerdem verstärkt, dass es eine kritische Reflexion über Militäreinsätze geben muss. Afghanistan zeigt in besonders krasser Weise, wie weit das militärische Verständnis von „Sicherheitspolitik“ von den elementaren menschlichen Sicherheitsbedürfnissen abweicht. Zerstörung, Traumatisierung und Armut sind die Folgen dieser Kriegspolitik.
Ein Beipiel dafür, wie fruchtbar etwa Bildungsarbeit für die Gesellschaft sein kann, ist der Verein OFARIN in Afghanistan. Für fast 4.000 Schüler*innen – sowohl Mädchen und Jungen als auch erwachsene Frauen – bietet der Verein elementaren Schulunterricht in Kooperation mit lokalen Moscheen an. Das Programm gibt Hoffnung und Selbstbewusstsein. Fotograf Uli Reinhardt hat die Arbeit von Ofarin im Juni 2021 in der Reportage „Die fliegenden Klassenzimmer“ dokumentiert. Seine Fotos finden Sie auf S. 20-21. Die Drucklegung dieses Forums fällt zusammen mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Welche Konsequenzen letztere für die hier im Forum beschriebene Projektarbeit hat, lässt sich derzeit nicht einschätzen. Wir fühlen uns bestärkt, dass Sicherheit anders erreicht wird als durch Militäreinsätze. Eine interessante Lektüre wünscht – Ihr Dr. Lars Pohlmeier 3
INHALT Online-Reise in die Türkei: Ziviler Widerstand in Krisenzeiten
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THEMEN Feindbilder überwinden: Von der Notwendigkeit, sich zu erinnern................................................8 Türkei: Ziviler Widerstand in Krisenzeiten...........................................10 Kolumbien: „Auf der anderen Seite der Angst ist das Land, von dem wir träumen“...................................................... 12 Opferzahlen nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“
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Wie rational ist nukleare Abschreckung?.............................................16 Argumente gegen Atompropaganda....................................................... 18
Peace for Future: Ein Projekt für die junge Generation
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SCHWERPUNKT Bildung als Friedensprojekt......................................................................... 20 Die Wirksamkeit von Militäreinsätzen in Frage stellen............... 22 Deutschland ohne Militär – ist das möglich?.....................................24
Foto: Alice Donovan Rouse / Unsplash
Peace for Future: Ein Projekt für die junge Generation............. 26 Polizei statt Militär........................................................................................... 28
WELT Fahrplan zur Beendigung der nuklearen Teilhabe......................... 30
Ionisierende Strahlung: Argumente gegen Atompropaganda
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RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5
Grafik Reaktor: © TerraPower, LLC and GE Hitachi Nuclear Energy Americas, LLC
Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4
MEINUNG
Ralph Urban ist Mitglied im Vorstand der deutschen IPPNW.
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Ein deutsches Kriegsschiff, die Fregatte „Bayern“, bricht zu einer sechsmonatigen Fahrt in das südchinesische Meer auf. Gleichzeitig erleben wir katastrophale Überschwemmungen in Deutschland und vernichtende Waldbrände in den Mittelmeerländern. Wir hören drastische Alarmmeldungen des Weltklimarates.
ie Reise der „Bayern“ ist ein vorläufiges Ergebnis einer jahrelangen strategischen Planung. Seit der Präsidentschaft von Barack Obama ist es eine Priorität der USA, dem „militärischen Aufstieg Chinas“ etwas entgegenzusetzen. In den letzten drei Jahren ist diese Rivalität prägend für die internationalen Beziehungen geworden, in den USA hat sie das Paradigma „Kampf gegen den Terrorismus“ abgelöst. Die NATO spricht seit Dezember 2019 von der Herausforderung durch China (London Declaration, 12/2019) Faktencheck: Die USA haben 2020 knapp dreimal so viel Geld für Verteidigung ausgegeben wie ihre Rivalen China und Russland zusammen – das ergaben Recherchen des Internationalen Instituts für Strategische Studien. Am 2. September 2020 hat auch die Bundesregierung ihre „Indo-Pazifik-Leitlinien“ verabschiedet, die ausdrücklich vermehrte militärische Aktivitäten der Bundeswehr dort vorsehen. Unter dem Motto „Mit globaler Vernetzung kommt globale Verantwortung“ sollen Transportrouten und Lieferketten von und nach Europa gesichert werden, so das Bundesministerium für Verteidigung in seinen „ Indo-Pazifik-Leitlinien“. Den Einsatz in fernen Gewässern hatte die Verteidigungsministerin schon ein Jahr vorher geplant. Im Zeiten von Atomwaffen und Klimakrise kann militärische Aufrüstung nicht zur Klärung der Konflikte im indo-pazifischen Raum beitragen. Die Entsendung eines Kriegsschiffs wird auch nicht den Menschenrechten nützen. Vielmehr ist die Ideologisierung des Konflikts mit der Entwicklung emotional aufgeladener Feindbilder, kombiniert mit militärischen Drohgebärden, ein Spiel mit dem Feuer. Und wenn wir begreifen, dass wir die Klimakatastrophe nur gemeinsam abwenden können, müssen wir Sicherheit neu denken lernen. Notwendig ist Kooperation statt einer Politik der feindseligen Konkurrenz. „Der Planet schwebt in Lebensgefahr“ sagt unsere Bundesumweltministerin. Die Fahrt der „Bayern“ erweist sich vor diesem Hintergrund als ein trauriger und gefährlicher Anachronismus. Ralph Urban 5
Michielverbeek / CC BY-SA 3.0
N ACHRICHTEN
Bundestag gibt fast 20 Milliarden Euro für Rüstungsprojekte frei
Strahlenmediziner Prof. Wolfgang Köhnlein ist gestorben
Abschaltung gefordert: AKW Tihange vom Hochwasser bedroht
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m Juni hat der Haushaltsausschuss des Bundestages die Mittel für 27 Rüstungsprojekte mit einem Gesamtvolumen von fast 20 Milliarden Euro bewilligt. Zu den Vorhaben, die das Verteidigungsministerium für die letzte Sitzung vor der Sommerpause vorgelegt hatte, gehören u.a. die weitere Entwicklung des „Zukünftigen Luftkampfsystems“ FCAS, Flugzeuge und Schiffe für die Marine sowoe die Nachrüstung des Schützenpanzers Puma. Damit kann das Verteidigungsministerium entsprechenden Verträge abschließen. Möglich wurde diese Entscheidung vor allem, weil das Bundeskabinett zuvor im Entwurf für den Verteidigungshaushalt der kommenden Jahre mehr Geld zugesagt hatte. Bei fünf Vorhaben, die beiden größten davon FCAS und Puma, legten die Abgeordneten mit so genannten Maßgabebeschlüssen Vorgaben für das Verteidigungsministerium fest. Vier Forscher zur künstlichen Intelligenz der autonomen Kriegsführung hatten sich im Vorfeld der Entscheidung an die Parlamentarier*innen gewandt. Sie warnten vor den Risiken der autonomen Kriegsführung und appellierten an die Abgeordneten, gegen die weitere Finanzierung des Future Combat Air Systems zu stimmen. „Ein Großteil der weltweit vernetzten Forscher der KI lehnen autonome Waffen ab, wir wissen darin eine Mehrheit der Bevölkerung an unserer Seite“, heißt es in dem Brief. Auch die IPPNW hatte die Abgeordneten aufgefordert, die weitere Finanzierung von FCAS abzulehnen. Mehr dazu: www.ippnw.de/bit/fcas
er Strahlenmediziner Prof. Dr. Wolfgang Köhnlein aus Münster ist im Juli 2021 im Alter von 89 Jahren verstorben. Köhnlein war für die IPPNW ein wichtiger Weggefährte in strahlenmedizinischen Fragen. Er hat dazu beigetragen, dass die IPPNW Expertise in strahlenmedizinischen Fragen entwickeln konnte und sich bis heute gegen die Verharmlosung von Strahlenschäden positioniert – gemeinsam mit Berater*innen wie Inge SchmitzFeuerhake, Sebastian Pflugbeil, Edmund Lengfelder und Roland Scholz. Er gehörte zu den wenigen Hochschulprofessoren, die sich schon früh gegen die Nutzung der Atomenergie und die öffentliche Verharmlosung von Strahlenschäden wandten. Der Unfall in dem Atomkraftwerk Three Mile Island 1979 in den USA wurde für ihn zu einem Schlüsselerlebnis. Der Super-GAU dort sowie die nachfolgenden offiziellen Vertuschungsaktionen der Strahlenfolgen trugen zu seiner Ablehnung der Atomkraftnutzung bei. Anhand von Daten der japanischen Hibakusha wies er zusammen mit dem Kernphysiker Rudi H. Nussbaum nach, dass im Bereich niedriger Strahlendosen ein überlinearer Wirkungsverlauf besteht: Die Wirkungen im Bereich niedriger Strahlendosen sind relativ höher als bei höheren Dosen. Köhnlein organisierte wissenschaftliche Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen und hielt viele populärwissenschaftliche Vorträge. Dabei wurde er zu einer Leitfigur der wissenschaftlichen Strahlenschutzkritik in Deutschland. Nach dem Super-GAU von Tschernobyl unternahm er mehrere Reisen in die Sperrzone. Er war in zahlreichen internationalen Gremien aktiv. 6
ngesichts der Hochwasserlage im Sommer hat das Umweltinstitut München die sofortige Abschaltung des belgischen Pannen-AKWs Tihange gefordert. Der Meiler liegt unmittelbar am Ufer der Maas, durch deren Wasser er gekühlt wird. Die Maas führte beizeiten ein Hochwasser bis zu 2.140 Kubikmeter pro Sekunde. Für den Hochwasserschutz des AKW wurde jedoch ein historisches Bemessungshochwasser aus dem Jahre 1926 mit 1.862 Kubikmeter pro Sekunde herangezogen und ein Sicherheitspuffer von 20 Prozent auf 2234 Kubikmeter pro Sekunde angesetzt. Mit dieser Auslegung ist die Anlage nur knapp an einer Überflutung des Geländes vorbeigeschrammt. Bei einer Flutung eines AKW-Geländes sind unerwartete Ausfälle, insbesondere an elektrischen Einrichtungen, nicht auszuschließen. Zudem würde im Störfall der Zugang durch Rettungskräfte durch das Hochwasser stark behindert oder unmöglich. Unerwartet starke Hochwasser könnten so zu einem „zweiten Fukushima“ in Europa führen. Durch die fortschreitende Klimakrise steigt das Risiko des Betriebs von Atomkraftwerken enorm an, insbesondere durch Extremwetter wie Hochwasser. Auch in Deutschland ist der Hochwasserschutz an vielen Atomkraftwerken unzureichend: Laut der Sicherheitsüberprüfung der Reaktorsicherheitskommission von 2011 haben lediglich die AKW Emsland und Isar-2 das Robustheitslevel 1 erreicht – alle übrigen Standorte hingegen nicht.
Foto: Mike Banzhaf / US Navy
CTBTO Photostream 2019 / CC BY 2.0
N ACHRICHTEN
IPPNW und ICAN fordern Teilnahme an Staatenkonferenz
Nuclear Games: Interaktives Onlineportal zur Nuklearen Kette
Deutschland schickt Kriegsschiff in den Indopazifik
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nlässlich der Veröffentlichung des SPD-Wahlprogramms, das für eine Teilnahme Deutschlands an der Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags plädiert, haben IPPNW und ICAN Außenminister Heiko Maas gebeten, sich an der Konferenz zu beteiligen. Diese soll vom 20.-22. März 2022 in Wien stattfinden. Heiko Maas als Außenminister könne die notwendigen Schritte umgehend einleiten: „Es braucht Diplomatie und Mut, um Vertrauen aufzubauen und nukleare Abrüstung voranzubringen“, erklärt IPPNWVorstandsmitglied Daniel Becker in einem Offenen Brief. Die Bundesrepublik könne so der Mehrheit der Staatengemeinschaft signalisieren, dass ihre Sicherheitsbedenken ernst genommen werden und wäre frühzeitig in die Ausgestaltung des Vertrages eingebunden. Desweiteren könne Deutschland schon vor einem Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag Artikel 6 und 7 des Vertrages anerkennen und die Leidtragenden der Herstellung und Testung von Atomwaffen unterstützen. „In Deutschland leben heute noch zahlreiche Opfer des sowjetischen Atomwaffenprogramms. Viele Tausend Bergarbeiter*innen der Wismut AG leiden an Krankheiten, die durch den Uranbergbau zwischen 1946 und 1990 verursacht wurden. Nur ein Teil von ihnen erhielt bisher eine Entschädigung“, so Becker. Opferhilfe und Umweltsanierung sind im Atomwaffenverbotsver-trag festgeschrieben. Offener Brief unter www.ippnw.de/ commonFiles/pdfs/Atomwaffen/IPPNWBrief_Maas_Beobachterstatus.pdf
ie interaktive Homepage „Nuclear Games“ erzählt die globale Geschichte der Atomkraft anhand von fünf Geschichten aus fünf Kontinenten: Uranabbau, die Verbreitung von Atomwaffen, Atombombentests, katastrophale Unfälle sowie das Problem der Atommüll-Entsorgung – eine multimediale Internetseite mit Videos und Animationen. Die vom Schweizer Rundfunk koproduzierte Web-Dokumentation behandelt achte Jahrzehnte des nuklearen Zeitalters in interaktiven Manga-Stories. Der Projektname «Nuclear Games» bezieht sich auf Japans Versuch, die Olympischen Spiele in Tokio zu missbrauchen, um die atomaren Gefahren der FukushimaKatastrophe zu verdrängen und in der Provinz Fukushima einen Teil der olympischen Wettbewerbe durchzuführen. «Eine reine Propaganda-Aktion und politische Instrumentalisierung der olympischen Idee», empört sich der Autor Daniel von Aarburg, der das Skript für die interaktiven Mangas verfasst hat. Eine der Geschichten beschäftigt sich mit der Kubakrise, eine andere mit dem Atomtests im Bikini-Atoll sowie der atomaren Katastrophe von Tschernobyl. Initiator des Projekts ist Dr. Andreas Nidecker von der Schweizer IPPNW-Sektion. Eine Wissensbibliothek liefert umfangreiche Hintergrundinformationen zum Beispiel über die Opferzahlen durch globale Atomtests und die Bombardierungen in Japan, die Folgen der Kubkrise oder das globale Atomwaffenarsenal. Weitere Infos: nuclear-games.net 7
rstmals seit knapp 20 Jahren ist mit der Fregatte „Bayern“ ein deutsches Kriegsschiff in Richtung Indopazifik aufgebrochen. Laut Außenminister Heiko Maas soll es die Einhaltung des Völkerrechts sichern. Die Fregatte Bayern wird voraussichtlich auf zusätzliche Provokationen gegenüber China verzichten, wenn sie auf ihrer Rückfahrt aus Ostasien das Südchinesische Meer durchqueren wird. So soll sie weder die Taiwanstraße passieren noch gemeinsame Manöver mit Kriegsschiffen verbündeter Staaten abhalten. Auch ist nicht vorgesehen, dass die „Bayern“ in Zwölf-Meilen-Zonen rings um umstrittene Inseln eindringt. Etwa sieben Monate lang wird die Fregatte unterwegs sein. Laut Verteidigungsministerium handelt es sich dabei um eine „Präsenz- und Ausbildungsfahrt“, nicht um einen Einsatz. Anhaltende Debatten begleiteten die Entsendung der Fregatte. So gab es beispielsweise Kritik, dass die „Bayern“ bislang keine speziellen Provokationen gegen China zusätzlich zur Durchquerung des Südchinesischen Meeres plane. Dass eine direkte „Konfrontation offensichtlich vermieden“ werde, moniert beispielsweise eine Mitarbeiterin des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Die Volksrepublik fordert im Hinblick auf den von Deutschland erbetenen Hafenbesuch der Fregatte in Shanghai, die Bundesregierung müsse sich entscheiden, ob sie die Kooperation oder einen schwerwiegenden Konflikt mit China anstrebe.
FRIEDEN
Feindbilder überwinden Von der Notwendigkeit, sich zu erinnern
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ie Erinnerungen an den Krieg“ sind immer auch ein „Krieg der Erinnerungen“, wie es die Historikerin Dr. Ekaterina Makhotina formuliert. „Hamburgs Umgang mit dem NS-Erbe“ hieß 2019 eine eine Podiumsveranstaltung am 27. Januar, zu der die KZ Gedenkstätte Neuengamme eingeladen hatte anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz. Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit. Ein Jahr davor, nämlich am 27. Januar 1944, war Leningrad durch die Rote Armee von der Blockade der Wehrmacht befreit worden. Die 872 Tage dauernde Belagerung hatte fast 1,3 Millionen Leningrader das Leben gekostet – überwiegend Zivilist*innen. Sie stellte damit eines der größten Kriegsverbrechen der Wehrmacht dar. Die Belagerung der Stadt war Teil des rassenideologischen Weltanschauungskrieges. Von Anfang an war geplant, die Stadt gar nicht einzunehmen, sondern auszuhungern. Doch der 75. Jahrestag des Endes der Blockade findet an diesem Tag keine Erwähnung, obwohl Hamburg seit 1957 Partnerstadt von St. Petersburg, dem ehemaligen Leeningrad, ist. Es gibt keine Kultur des Gedenkens an diesen wichtigen Tag.
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eindbilder vertragen sich nicht mit Erinnerungskultur, denn sie verweigern die Empathie. Feindbilder sind eine unerlässliche Voraussetzung für Aufrüstung und Krieg. Sie haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen, Herrschaftssysteme zu stabilisieren und das Selbstbild zu erhöhen. So können militärische Aktionen besser legitimiert werden. In der Zeit des Kalten Krieges verlief die Erinnerungsdebatte entlang den jeweiligen politischen und ideologischen Feindbildern und Linien. In der frühen Sowjetunion traten im Gedenken die Leiden der Zivilbevölkerung hinter der Schilderung der „kämpfenden Frontstädte“ und des
„großen Vaterländischen Kriegs“ zurück. In der anti-kommunistischen Grundstimmung der jungen Bundesrepublik wurde die historische Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten schlicht geleugnet. Man sah sich nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Blockade Leningrads wurde als eine Militäroperation von vielen dargestellt, unterstützt durch ein starres anti-sowjetisches Feindbild. Erst mit dem allmählichen Auflösen der Ost-West-Konfrontation und dem Abbau von Feindbildern durch die Entspannungspolitik Willy Brandts änderte sich auch auf beiden Seiten die Wahrnehmung der Geschichte. Anfang der 70er Jahre entwickelte Bundeskanzler Willy Brandt zusammen mit Egon Bahr das Konzept des „Wandels durch Annäherung“. Die friedliche Koexistenz wurde der Rivalität der Systeme entgegengesetzt. Das Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ entstand. Am 9. Juli, 2015, kurz vor seinem Tod fasste Egon Bahr seine Gedanken zusammen: „Wenn es denn richtig war, dass West wie Ost über die atomare Zweitschlagsfähigkeit verfügten, also beide ganz unberechenbar und unannehmbar Schlägen ausgesetzt wären, würde die klassische Hoffnung auf Sieg im Krieg sinnlos werden. Wer zuerst schlägt, stirbt als Zweiter, setzt die verrückte Bereitschaft zum eigenen Ende voraus. Mit anderen Worten: Die Theorie der Abschreckung war eine unverwendbare Theorie geworden. Praktisch bedeutete dies, dass Sicherheit voreinander nur noch stimmte, solange sie nicht erprobt wurde. Die abstrakte Konsequenz hieß dann also: Sicherheit voreinander muss durch Sicherheit miteinander ersetzt werden.“
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m Zuge der Entspannungspolitik und der Wiedervereinigung in den 90er Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, die ehemaligen Feinbilder von Ost und West würden der Vergangenheit angehören. Doch wenn man sich das heutige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland 8
ansieht, muss man feststellen, dass dieses nicht von Vertrauen, sondern von äußerstem Misstrauen und einer ausgeprägten Bedrohungswahrnehmung geprägt ist. Die Aufrüstung hat dementsprechend auch wieder bedrohliche Formen angenommen. Wie ist das zu erklären? Haben wir eine einseitige Wahrnehmung? Wurden die russischen Sicherheitsinteressen in Bezug auf die NATO-Osterweiterung im Sinne einer gemeinsamen Sicherheit ausreichend berücksichtigt? Oder schlummerten die alten Ressentiments und Feindbilder vielleicht weiter im Untergrund, da sie nie wirklich aufgearbeitet wurden? Am 21. Juni 2021 erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer beeindruckenden Rede: „…was am 21. Juni 1941 begann, war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion (…) Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei. (…) Es werden am Ende 27 Millionen Tote sein, die die Völker der Sowjetunion zu beklagen hatten. 27 Millionen Menschen hat das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht. 14 Millionen von ihnen waren Zivilist*innen. Niemand hat in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der Sowjetunion. Doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid und unsere Verantwortung es fordern.“ Das gilt auch für das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Von den 7,5 Millionen in deutsche Gefangenschaft geratenen Soldaten haben nur ca. die Hälfte die unmenschlichen Verhältnisse überlebt.
LENINGRAD, 1942: AUF DEM WEG ZUM BEGRÄBNIS EINES FAMILIENMITGLIEDS
Die Wehrmachtsausstellung von 1995 benannte die Verbrechen der Wehrmacht und brach endgültig mit dem Mythos von der „sauberen Wehrmacht“: Sie zeigte schonungslos die Beteiligung am Holocaust, die Plünderung der besetzten Gebiete, die Massenmorde an der Zivilbevölkerung und die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener. Die überarbeitete zweite Fassung von 2001 legte einen Schwerpunkt auf die Hungerpolitik am Beispiel der Blockade Leningrads. Dennoch ist dieses Verbrechen weiterhin ein weißer Fleck im Bewusstsein der meisten Deutschen. Mit zunehmenden politischen Spannungen zwischen Russland und der EU versucht die Politik zunehmend, das Geschichtsbild zu instrumentalisieren. Am 19. September 2019 verabschiedete das europäische Parlament auf Antrag von Polen und den baltischen Staaten mit großer Mehrheit eine problematische „Entschließung des europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. Anlass war der 80. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg wird darin relativiert, indem der Hitler-Stalin-
Pakt als Ursache des Zweiten Weltkrieges benannt wird. Außerdem werden Nationalsozialismus, Stalinismus und Kommunismus gleichgesetzt. Diese Entschließung des EU-Parlamentes wurde zu Recht von Historiker*innen kritisiert. Ein Europabild, das nicht vereinfachen und vereinheitlichen will, sondern die besondere Vielfalt Europas betont, zeigt dagegen die Ausstellung europäischer Gegenwartskunst „Diversity United“ im Berliner Flughafen Tempelhof. „In der Zeit der globalen Krise und zunehmenden politischen Sprachlosigkeit fordert die Kunst den gesellschaftlichen Dialog,“ heißt es dort. Schirmherren der Ausstellung sind die Präsidenten Macron, Putin und Steinmeier. Die Ausstellung soll anschließend – so ist es zumindest geplant – in Paris und Moskau gezeigt werden. Auf einem wandgroßen Kunstwerk „Mystical Protest“ des Kollektivs „Slavs and Tatars“ prangt der Schriftzug: „It is of utmost importance that we repeat our mistakes as a reminder to future generations of the depths of our stupidity.“
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m 8. September 2021 plant die IPPNW ICAN-Gruppe Hamburg an den 80. Jahrestag des Beginns der Blockade von Leningrad zu erinnern. Eingeladen sind die Historikerinnen Dr. Ulrike Jureit, Dr. Ekaterina Makhotina und Dr. Alexandra Köhring. Der Schauspieler Edgar Selge wird aus der Rede vortragen, die der russische Schriftsteller und Blockade-Überlebende Daniil Granin 2014 im Bundestag hielt: „Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Sie wussten es durch ihre Aufklärung und von Überläufern. (...) Im Grunde warteten die deutschen Truppen in aller Ruhe und ohne besondere Anstrengungen darauf, dass der Hunger die Menschen in Leningrad in die Knie zwingt. Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. Die Deutschen hatten das wichtigste Lebensmittellager der Stadt, die Badajewskije Sklady, und damit alle Vorräte vernichtet“, www.tagesschau.de/rede-granin100.pdf Um den zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen West und Ost voranzubringen, haben wir den Kontakt zu IPPNW-Kolleg*innen in St. Petersburg wiederaufgenommen und planen sie nach Hamburg einzuladen.
Ute Rippel-Lau ist Mitglied des Vorstandes der IPPWN.
„MYSTICAL PROTEST“, Kunstwerk von Slavs and Tartars 9
RIAN Archive, Sergei Strunnikov / CC BY-SA 3.0
Die sowjetischen Kriegsgefangenen galten als „Untermenschen“ und als Agenten der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, für die sämtliche Kriegskonventionen außer Kraft gesetzt wurden.
Aus der Ausstellnun
Foto: IPPNW
RIAN Archive, Ozersky / CC BY-SA 3.0
EINE FRAU ZIEHT EINEN HUNGERNDEN MANN.
FRIEDEN
Ziviler Widerstand in Krisenzeiten IPPNW-Mitglieder „reisten“ online in die Türkei, um sich mit zivilgesellschaftlichen Initiativen auszutauschen
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nsere diesjährige Türkeireise musste virtuell stattfinden. Im März und April konnten wir mit vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen sprechen, die wir sonst besucht hätten – unterstützt durch unsere Dolmetscherin Serra in Diyarbakir. Die Gespräche waren sehr intensiv. Die Gesprächspartner*innen hatten einen großen Mitteilungsbedarf. Sie ersticken unter staatlichen Repressionen, die sie mehr belasten als die Pandemiebeschränkungen. Es gibt nur wenig Kontakte ins europäische Ausland. Delegationen kommen nicht. Die Haltung der europäischen Regierungen, besonders der deutschen, enttäuscht sie sehr. Sie fühlen sich isoliert und im Stich gelassen. Trotzdem vermitteln sie ungebrochenen Mut und Resilienz, die uns immer wieder beeindrucken.
Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder werden syrische Menschen und Geschäfte vom nationalistischen Mob angegriffen. Die Nachricht von dem kurdischen Jungen in einer Großstadt in der WestTürkei, der von Nachbarn erschlagen wurde, weil er auf dem Balkon kurdische Musik gespielt hatte, schaffte es auch in die deutschen Medien.
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iele Menschen fliehen vor Repression und existenzieller Bedrohung nach Europa, oft nach Deutschland, wo sie Verwandte haben. Nach der Asylgeschäftsstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom März 2021 ist die Türkei nach Syrien, Afghanistan und Iran auf Platz vier der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote von Januar bis März lag bei 31,3 Prozent. Aus der Statistik geht nicht hervor, wie viele der Asylsuchenden Kurd*innen aus dem Südosten sind. Wenn man Anhörungsprotokolle liest, hat man den Eindruck, dass viele Anhörer*innen und Richter*innen in Deutschland Kurd*innen unter den Generalverdacht des Terrorismus stellen und ihre Asylanträge ablehnen.
Neben der Pandemie, die ähnliche Probleme verursacht wie bei uns, steht vor allem die zunehmende Armut im Vordergrund. Der informelle Arbeitssektor ist fast völlig zum Erliegen gekommen, worunter besonders Frauen und Kinder zu leiden haben. Die Schulen waren ein Jahr lang nahezu vollständig geschlossen, Online-Unterricht ist für die meisten Kinder in den beengten Wohnverhältnissen und ohne technische Ausrüstung nicht möglich. Zunächst wurde in der Türkei mit dem chinesischen Impfstoff Sinuvac geimpft. Die Impfbereitschaft war gering, auch weil die Bevölkerung im Südosten der Regierung nicht traut. Insbesondere unsere ärztlichen Kolleg*innen hatten Zweifel an den von der Regierung veröffentlichten Corona-Zahlen: Fast in jeder Familie gab es Erkrankte oder sogar Tote. Das Gesundheitspersonal war besonders stark betroffen. Wenn Ärztinnen und Ärzte eigene Zahlen veröffentlicht oder Informationsmaterial verteilt haben, wurden sie strafrechtlich verfolgt.
Als Gegengewicht zu den innenpolitischen Problemen, versucht die Regierung Erdogan, eine Vormachtstellung in der Region zu erkämpfen – mit völkerrechtswidrigen militärischen Einmärschen in Syrien und im Nordirak und jetzt auch mit Versuchen, sich in Afghanistan zu etablieren. Die Bundesregierung steht „in Treue fest“ zum Verbündeten Türkei. Mehr als gelegentliche Betroffenheit ist nicht zu vernehmen. Zu groß ist die Angst vor neuen Flüchtlingsströmen nach Europa. Man scheint zu glauben, dass man den rechten Strömungen hier nur so Paroli bieten könne. Ein Irrglaube, wie ich meine. Nur eine konsequente Menschenrechtspolitik und ein klares Bekenntnis zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen können hier zum Erfolg führen. Die ständige Beschwörung der westlichen Wertegemeinschaft ohne entsprechendes Handeln ist unerträglich.
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ie Wirtschaftskrise und die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungsteile haben dazu geführt, dass die Regierung Erdogan ihren Rückhalt verliert. Das führt zu immer absurderen Verfolgungsmaßnahmen jeglicher Opposition. Vor einigen Wochen konnte man in der Zeitung lesen, dass selbst für die verheerenden Brände am Mittelmeer die PKK verantwortlich gemacht wurde. Die Wirtschaftskrise führt auch zu einer zunehmenden 10
NAZ DAR ECE VIT
Wir haben deshalb einige Forderungen an die Bundesregierung formuliert:
Wie kann Solidarität in dieser Situation aussehen? Wie können wir uns bei all den Beschränkungen gegenseitig bestärken?
» Eine Aufhebung des PKK-Verbots, das alle politisch aktiven Kurd*innenen in Deutschland stigmatisiert und viele kriminalisiert.
Wir haben einige unserer Gesprächspartner*innen für den Herbst nach Deutschland eingeladen: u.a. zwei Psychologen, eine Ärztin, eine Rechtsanwältin und zwei Aktivist*innen aus der BrennpunktArbeit mit Kindern. Vom 09. bis zum 29. Oktober werden wir mit ihnen in Braunschweig, Hannover, Berlin und mehreren Stationen in Süddeutschland zivilgesellschaftliche Gruppen treffen und uns über medizinische, psychologische und friedenspädagogische Arbeit austauschen und Netzwerke knüpfen.
» Ein Ende der Zusammenarbeit der türkischen und deutschen Geheimdienste und der Polizei bei der Bedrohung und Verfolgung oppositioneller Politiker*innen und Journalist*innen. » Die Unterstützung kurdischer Vereine in derselben Weise wie der türkischen für ein gedeihliches Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen hier bei uns. » Die Anerkennung oppositioneller Türk*innen und Kurd*innen aus der Türkei als politische Flüchtlinge, solange das repressive AKP/MHP-Regime ihre Freiheit und oft auch ihr Leben gefährdet. Die derzeitige Türkei ist kein sicherer Drittstaat.
Am 14. Oktober 2021 planen wir in Braunschweig eine öffentliche Veranstaltung zu den Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen und friedenspolitischen Engagements. Diese Veranstaltung soll als Hybridveranstaltung vielen die Möglichkeit bieten, unsere Gäste zu treffen. Das Programm finden Sie unter: ippnw.de/ bit/tuerkei
» Aufkündigung des EU-Türkei-Deals und stattdessen eine abgestimmte ehrliche Flüchtlingspolitik, die den Schutzbedarf der geflüchteten Menschen im Blick hat und eine menschenwürdige Zukunft.
Noch ist diese Reise nicht finanziert. Wir sind auf Spenden angewiesen. Wenn Sie das Projekt unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf das IPPNW-Konto bei der GLS-Bank IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01 – Stichwort „Türkei“.
» Die Einstellung der Waffenexporte trotz der NATO-Verpflichtungen, solange die Türkei ihre innerstaatlichen Konflikte nicht mit friedlichen Mitteln löst und ihre völkerrechtswidrige Expansionspolitik in die Nachbarstaaten fortsetzt.
Alle Reiseberichte unter blog.ippnw.de/tag/turkei Das IPPNW-Akzente „Ziviler Widerstand in Krisenzeiten“ können Sie unter shop.ippnw.de bestellen – oder lesen unter: issuu.com/ippnw
» Einen Austausch auf Augenhöhe zwischen Wissenschaftler*innen, Studierenden und Zivilgesellschaft mit Abschaffung der einseitigen Visumspflicht.
Gisela Penteker leitet die Türkeireisen von IPPNWMitgliedern und ist im AK Flucht und Asyl aktiv. 11
Foto: ANF deutsch
KUNDGEBUNG GEGEN DIE GEPLANTE ABCHIEBUNG DER KURDIN NAZDAR ECEVIT – MAI 2021 IN MAINZ
FRIEDEN
„Auf der anderen Seite der Angst ist das Land, von dem wir träumen“ Der Generalstreik in Kolumbien
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noch untersucht. Hunderte Menschen gelten als vermisst. Human Rights Watch konnte bis Anfang Juni 34 Tötungsdelikte im Rahmen der Proteste bestätigen und fordert eine grundlegende Reform der kolumbianischen Polizei.
ach vier Wochen ist die Situation total eskaliert,“ erzählt die junge Medizinstudentin aus Cali. „Es gab eine riesige Demonstration. Wir von der Gesundheitsbrigade waren auf alles vorbereitet. Wir warteten in der Universität, als die ersten Opfer eintrafen. Junge Leute, so alt wie wir, mit Schusswunden. Auf einmal riefen sie draußen nach Hilfe. Wir liefen schnell los und als wir ankamen, parce (kolumbianisch: Kumpel), es sah aus wie im Krieg.“
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atsächlich ist es das erste Mal in der Geschichte Kolumbiens, dass sich ein so breiter Teil der Gesellschaft gemeinschaftlich mobilisiert. Vor allem Jugendliche ohne Zukunftsperspektive gehen in großer Zahl auf die Straße und formen die Primera Línea (Erste Reihe). Ein junger Familienvater erzählt uns: „Am Anfang sind die Jugendlichen nur gekommen, weil es cool war. Aber mit der Zeit verstehen sie immer mehr Hintergründe und engagieren sich immer mehr im Streik.“ Die Proteste werden rund um große
Foto: 5.Mai.2021, Oxi.Ap/CC BY 2.0
Seit dem 28. April 2021 protestieren die Menschen in Kolumbien landesweit. Auslöser der Proteste war ein neoliberales Reformpaket der rechtskonservativen Regierung aus Steuer-, Gesundheits-, Arbeits- und Rentenreform. Die Steuererhöhungen hätten vor allem die ohnehin von der Pandemie schwer betroffene Unter- und Mittelschicht getroffen. „Wir sind friedlich raus auf die Straße gegangen – für unsere Würde“, erzählt uns eine junge Mutter aus dem Osten Calis. Aguablanca ist einer der seit langem vernachlässigten Stadtteile der Metropole. Der Großteil der Bewohner*innen, die rund die Hälfte der Einwohner*innen Calis ausmachen, hat afrokolumbianische und indigene Wurzeln, fast alle arbeiten im informellen Sektor. 42 Prozent der Kolumbianer*innen gelten jetzt nach anderthalb Jahren Pandemie als arm. „Wir wurden nie ernstgenommen von der Regierung“, führt unsere Gesprächspartnerin weiter aus, „und die Steuerreform war letztendlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“
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urch den Paro Nacional, den Generalstreik, in dem sich das Land seitdem befindet, konnten bisher sowohl die Steuer- als auch die Gesundheitsreform gekippt werden. Doch die Proteste gehen weiter, denn die Gründe für die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung sind vielfältig und tiefgreifender. Die Protestierenden fordern unter anderem Maßnahmen gegen die weitverbreitete Korruption und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie einen gerechteren Zugang zu Bildung. Die Antwort der Polizei auf die zumeist friedlichen Proteste ist äußerst gewaltvoll. Die NGO Temblores registrierte zwischen dem 28. April und dem 31. Mai über 3.000 Fälle von Polizeigewalt, darunter über 1.500 willkürliche Verhaftungen, 65 Augenverletzungen, 25 Fälle von sexualisierter Gewalt durch Polizeikräfte und 45 mutmaßlich durch die Polizei getötete Zivilist*innen. Weitere 29 Fälle werden
„GESUNDHEIT IST EIN RECHT, KEIN PRIVILEG!“ Demonstrationen sowie um die sogenannten puntos de resistencia, die Widerstandspunkte, organisiert. Dabei handelt es sich um Blockaden wichtiger Plätze, wo die Bewohner*innen der anliegenden Stadtteile Versammlungen und kulturelle Veranstaltungen abhalten und ollas comunitarias (solidarische Suppenküchen) eingerichtet haben. Die Nachbarschaft unterstützt tatkräftig – allen voran die Mütter der Jugendlichen. Zur Unterstützung des Streiks rufen ebenso afrokolumbianische und indigene Gruppierungen auf, die schon seit Jahrzehnten in Kolumbien ungehört für ihre Rechte kämpfen. Auch Frauenrechtler*innen und die LGBTQCommunity sind bei den Protesten aktiv. Viele Beschäftigte aus 12
FÜR EINE BESSERE ZUKUNFT: DER PROTEST IN KOLUMBIEN HAT VIELE GESICHTER, WIE HIER IM DISTRITO DE AGUABLANCA IM OSTEN CALIS. beiden Studentinnen. Es wirkt, als würde sich der Klassenhass verstärken. Ein Beispiel dafür sind die Aggressionen von bewaffneten Zivilisten gegen die Demonstrant*innen, in denen sie Randalierer und Guerilla-Kämpfer sehen. „Was macht das mit dir, wenn du so abgestempelt wirst, nur weil du ein besseres Land willst?“, fragen sich beide, „das bessere Land wollen wir für alle. Wie können sie das nicht verstehen?“ Die Regierung versucht währenddessen, die Protestbewegung zu diskreditieren und verweigert den Dialog. Die einstigen Hoffnungen, die durch den Friedensvertrag mit der FARC freigesetzt wurden, wurden unter dem aktuellen Präsidenten begraben. Seit der Unterzeichnung 2016 sind nach Untersuchungen der kolumbianischen „Sonderjustiz für den Frieden“ über 900 soziale und Umweltaktivist*innen und über 270 ehemalige Guerillakämpfer*innen ermordet worden, die die Waffen niedergelegt hatten. Auch dagegen richten sich die Proteste.
dem Gesundheitswesen haben ebenso gegen die geplante Gesundheitsreform und die weitere Privatisierung protestiert und demonstrierten mit Sprüchen wie „Wofür retten wir auf der Intensivstation Leben, wenn die Regierung auf der Straße tötet?“ „Ich bin zwar von einer Privatuniversität, aber das heißt nicht, dass ich nicht für eine bessere Zukunft für alle bin“, erzählt uns die junge Medizinstudentin aus Cali weiter. Die öffentlichen Universitäten waren schon immer ein wichtiger Akteur in der kolumbianischen Politik, so auch diesmal. Sie demonstrieren und organisieren sich in Gruppen wie der Brigada estudiantil de Salud (Studentische Medizinische Brigade) oder die Primera Línea Jurídica (Juristische Erste Reihe). „Jeder wichtige Widerstandspunkt hat so eine Brigade. Es waren vor allem Brand- und Schusswunden, die wir versorgen mussten.“ Anfangs fehlte es noch an allem, doch in der ganzen Stadt wurden Spendenaktionen gestartet. „Wir haben so eine Sammelstelle eingerichtet mit allen möglichen Sachen, die wir von den Menschen bekommen haben. Es war beeindruckend“, erzählt uns die Studentin. „Mit der Zeit haben wir Studierenden begonnen, Fortbildungen anzubieten, wie man zum Beispiel einen Kompressionsverband macht oder wie man eine Schusswunde behandelt. So hat sich in der Stadt ein ganzes Netzwerk gebildet. Die Leute haben wirklich alles gegeben.“ Ihre Kommilitonin teilt dieses Gefühl: „Viele Leute wollten einfach nur helfen, ohne Hintergedanken. Das war wunderschön, weil wir alle das Gemeinwohl im Sinn hatten.“
Oberflächlich scheint sich die Situation seit Anfang Juli beruhigt zu haben. Viele Widerstandspunkte wurden unter dem militärischen Druck aufgegeben. Die Aktivitäten wurden auf Versammlungen verlegt, es werden Konzerte auf der Straße gespielt, ehemalige Polizeistationen zu Bibliotheken umgestaltet, Wandgemälde angefertigt, Tanzworkshops und öffentliche Uniseminare abgehalten. Doch es gibt keinen Weg zurück – zu viel ist passiert. Gerade für die junge Generation haben sich die Dinge grundlegend verändert. „Das ist ein Exempel für eine neue Generation an Politiker*innen“, meint ein junger Vater. Im nächsten Jahr finden wieder Präsidentschaftswahlen statt und „bei dem, was hier passiert, können sie Punkt für Punkt mitschreiben, wie man mit dem Volk gemeinsam regiert. Die Jugendlichen aus den marginalisierten Vierteln haben die Kraft, aus ihrem Viertel heraus Politik zu machen und dabei alle Vorurteile zu beseitigen,“ so der Aktivist stolz. Der Paro Nacional ist auf jeden Fall ein großer Schritt in Richtung Wandel.
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inen Monat später setzten sich landesweit erneut riesige Menschenmassen in Bewegung. Die Regierung versuchte dem entgegenzutreten und verhängte einen De-facto-Ausnahmezustand. In mehreren Städten, darunter Cali, wurde das Militär gegen Streikende eingesetzt. Zahlreiche Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren, dokumentieren, wie die Polizei gemeinsam mit bewaffneten Zivilisten Demonstrant*innen festnimmt oder auf sie schießt. Die Bilanz: 14 Todesopfer und nahezu 100 Verletzte.
Anna Jael Esser ist Medizinstudentin in Freiburg, IPPNW- und Health-for-FutureMitglied. Sebastian Es scheint fast so, als würde der bewaffnete Konflikt der vergan- Palasser ist Kultur- und Politikwissenschaftler. Er genen Jahrzehnte samt paramilitärischer Gewalt wiederaufleben. hat u.a. in Linz, Bogotá und Cali studiert. „Die Ungleichheit ist in der ganzen Stadt vertreten“, betonen die 13
FRIEDEN
20 Jahre „Krieg gegen den Terror“ Opferzahlen der Kriege nach „9/11“ ‒ ein Überblick
Nach den verheerenden Anschlägen am 11. September 2001 in New York und Washington entfesselten die USA mit dem Angriff auf Afghanistan den sogenannten „Krieg gegen Terror“.
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ie IPPNW untersuchte in ihrer „Body Count“-Studie, von der 2015 eine internationale, aktualisierte Fassung erschien, die Zahl der Opfer nach den ersten zehn Jahren. Sie beschränkte sich dabei auf die hauptsächlich betroffenen Länder, Afghanistan, Pakistan sowie den Irak. Der Angriff der US-geführten „Koalition der Willigen“ auf dieses Land stand allerdings nicht in Verbindung mit Terrorismusbekämpfung. Sie folgte der nach dem 11.9. eingeleiteten Agenda der von Neokonservativen dominierten Regierung von George Bush junior, mit der sie die US-Dominanz im „größerer Mittleren Osten“ ausweiten und das „Neue Amerikanische Jahrhundert“ einleiten wollte. In die Studie nicht eingeschlossen, war eine Reihe weiterer Länder, in denen die USA ab 2001 ihren „Krieg gegen Terror“ mit Hilfe von Spezialeinheiten und Drohnen führten, etwa Jemen und Somalia. Nun, nach weiteren zehn Jahren, ist eine Eingrenzung der Untersuchung der humanitären Kosten komplexer geworden. Mit Libyen und Syrien kamen weitere Länder hinzu, in denen die NATO-Staaten militärisch intervenierten. Der Syrienkrieg begann zwar mit einem vom Westen geförderten Bürgerkrieg, seine Eskalation
wurzelte aber nicht zuletzt in der Zerstörung des Irak. Sie schuf die Grundlage für die Entstehung der Vorgängerorganisation der beiden stärksten und für Syrien verheerendsten dschihadistischen Milizen, des „Islamischen Staates“ (IS) und der „Al-Nusra-Front“, die wiederum den entscheidenden Vorwand für die westliche Intervention dort lieferten. Die Besatzung des Irak endete zwar formell 2011, der Krieg jedoch nicht. Nach der Wiederausbreitung des IS im Norden und Westen des Iraks, eskalierte der Krieg erneut auch hier. Eine von den USA angeführte Allianz, an der sich auch Deutschland beteiligte, bekämpfte ihn ab September 2014 grenzüberschreitend auch in Syrien – parallel zu syrischen und später auch russischen Streitkräften. Es erscheint daher durchaus gerechtfertigt, die Opfer all dieser nach dem 11. September 2001 entfesselten „Post 9/11-Kriege“, wie sie in den USA genannt werden, zusammen zu betrachten, auch wenn sie jeweils weit mehr Facetten haben.
Die ignorierten Opfer Offiziell wurde die Fortsetzung der Besatzung Afghanistans und des Irak bald vorwiegend mit demokratischem und hu14
manitärem Wiederaufbau legitimiert. Die Frage nach ihren humanitären Kosten wurde aber ignoriert. Die in Medien veröffentlichen Opferzahlen, etwa von UN-Missionen, beruhen fast alle auf gemeldeten und registrierten Fällen. Sie können daher, wie der Body Count eingehend erläutert, unter Kriegsbedingungen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Opfer umfassen. Problematisch ist auch die Beschränkung auf Tote, die als Zivilist*innen eingeordnet werden können. Dies lässt sich zum einen ohne unabhängige Untersuchungen vor Ort selten feststellen und wird zum anderen der Sache nicht gerecht. Auch getötete Kombattanten wurden Opfer des Krieges, unabhängig davon, ob sie in den Reihen der Regierungstruppen, der Taliban oder anderer Widerstandsgruppen kämpften. Viele, wenn nicht die meisten, wurden mit Gewalt oder ökonomischem Druck zum Kämpfen gezwungen. Unberücksichtigt bleiben dabei auch die indirekten Opfer, die aufgrund des Zusammenbrechens der Versorgung mit Nahrung, Wasser und Strom, blockiertem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen oder dem kriegsbedingten Ausbruch von Seuchen sterben.
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ine realistische Schätzung der Gesamtzahl der Opfer eines militärischen Konflikts ist nur mit Hilfe repräsentativer Mortalitätsstudien möglich. Doch bei den „Post 9/11-Kriegen“ fühlten sich weder die WHO, noch die UNO oder gar die NATO dazu bemüßigt. Es ist der persönlichen Initiative von Wissenschaftler*innen und
Foto: © Julien Harneis/CC BY-SA 2.0
KRIEG IM JEMEN: MÜTTER SUCHEN EINE MOBILE GESUNDHEITSAMBULANZ VON UNICEF AUF. VIELE KINDER LEIDEN UNTER MANGELERNÄHRUNG UND KRANKHEITEN (SADAH /JEMEN 2016).
deren Universitäten zu verdanken, dass es wenigsten für die ersten zehn Jahre des Irakkriegs realistische Schätzungen durch solche Studien gibt. Der Vergleich ihrer Ergebnisse mit den passiv beobachteten Opferzahlen im Irak liefert auch ein Maß für realistischere Schätzungen für Zeiträume und Länder, für die es bisher keine Mortalitätsstudien gibt.
Zahl der Opfer in den letzten 20 Jahren Nach den vorsichtigen, auf sorgfältiger Auswertung der verfügbaren Daten beruhenden Schätzung des Body Count, forderten die Kriege in Afghanistan, Pakistan und Irak bereits im ersten Jahrzehnt mindestens 1,3 Millionen Todesopfer. Für das zweite Jahrzehnt der „Post-9/11-Kriege steht eine ähnlich sorgfältige Analyse noch aus. Neta C. Crawford und Catherine Lutz vom Projekt „Costs of War“ an der Boston University haben jedoch verdienstvollerweise immer wieder Fallzahlen für Afghanistan, Pakistan und Irak, später auch Syrien und Jemen veröffentlicht, wenn auch nur auf Basis passiv beobachteter Fälle. In Afghanistan summiert sich ihrer aktuellsten Studie zufolge die Zahl aller von Oktober 2001 bis April 2021 im Krieg getöteten Afghan*innen auf ca. 165.000, davon werden 47.000 als zivil eingestuft. Die Zahl der Opfer in Pakistan schätzen sie auf 67.000. Da nach der Analyse des IPPNW-Body Count die gesamte Zahl der tatsächlichen
Opfer in der Regel fünf- bis achtmal so hoch ist wie die der beobachteten zivilen Opfer, müssen wir mittlerweile von über 800.000 Toten in Afghanistan ausgehen, das sind 40.000 Menschen pro Jahr. Für den Irak ermittelten Crawford und Lutz zu den bis Oktober 2019 von vom britischen „Iraq Body Count“-Projekt (IBC) erfassten rund 200.000 Ziviltoten noch ungefähr 90.000 getötete irakische Kombattanten und 8.000 ausländische – überwiegend US-amerikanische – Soldat*innen und Söldner*innen und errechneten so eine Gesamtzahl von rund 300.000 im Irak Getöteten. Für die ersten acht Jahre bis 2011 hatte Crawford insgesamt 165.000 direkte Opfer des Krieges geschätzt, in den Jahren nach dem Ende der US-Besatzung starben demnach noch einmal fast genauso viele Iraker*innen. Der Body Count der IPPNW schätzte auf Basis der Mortalitätsstudien im Irak die Zahl der Opfer im Zeitraum bis 2011 auf mindestens eine Million. Rechnet man diese Zahl entsprechend dem Zuwachs bei Crawford und Lutz hoch, ist die Gesamtzahl aller Opfer im Irak mittlerweile auf über 1,8 Millionen gestiegen. Diese Hochrechnung wird durch eine repräsentative Studie über die Opfer der Rückeroberung der Millionenstadt Mossul gestützt, die im Mai 2018 in der Fachzeitschrift PLOS Medicine erschien. Demnach waren allein dabei wahrscheinlich ca. 90.000 Menschen getötet worden, 33.000 davon Frauen und Mädchen, die meisten durch Luftangriffe. 15
Insgesamt hatten Crawford und Lutz für Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien und Jemen bis Oktober 2019 insgesamt etwa 800.000 direkte Kriegstote ermittelt, 335.000 davon zivile. Die beiden Wissenschaftlerinnen halten diese Zahl aber selbst für viel zu niedrig und gehen von einem Vielfachen an indirekten Opfern aus. Generell müsse man, so David Vine, ein weiterer Mitarbeiter von „Costs of War“, von viermal so viel ausgehen. Daher könne – so Vine Ende 2019 – die Gesamtzahl der durch die Kriege getöteten Menschen 3,1 Millionen schon übersteigen. Vine verwies dabei auf die Studie „Global Burden of Armed Violence” der „Geneva Declaration“-Initiative von September 2008. Diese kam zum Schluss, dass in den meisten Konflikten die Zahl der indirekten Todesfälle 3- bis 15-mal so hoch war wie die Zahl der direkten Todesfälle. Dies stimmt gut mit den vom Body Count ermittelten Faktoren überein. Die Langversion mit Quellenangaben finden Sie unter: ippnw.de/bit/bodycount
Joachim Guilliard ist Friedensaktivist und freiberuflicher Autor. Christoph Krämer ist IPPNWMitglied und Mitautor des Bodycount.
EXIT Wie rational ist nukleare Abschreckung? Kognitive Verzerrungen beeinflussen die Grundannahmen zu nuklearer Abschreckung
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as Konzept der nuklearen Abschreckung beruht auf Annahmen über die Bedrohungswahrnehmung von Staaten und über ihre daraus resultierenden Handlungen. Das Verständnis der emotionalen, kognitiven und sozial-psychologischen Prozesse, die menschlichem Handeln zu Grunde liegen, ist in den letzten Jahren durch Forschung in den Humanwissenschaften stark gewachsen. Bisher findet dieses Wissen jedoch kaum Eingang in die Debatte zur nuklearen Abschreckung und bei den entscheidenden politischen Akteur*innen. Die nukleare Abschreckung wird häufig nach wie vor als „rational“ bezeichnet. Hinter dieser Auffassung stehen die Grundannahmen, dass nukleare Abschreckung Kriege verhindert hat und internationale Beziehungen stabilisiert – Annahmen, die von den Kritiker*innen der Abschreckung in der Regel nicht geteilt werden. Diese gegensätzlichen und meist unausgesprochenen Grundannahmen bilden den Kern des Konflikts über nukleare Abschreckung und ihre Analyse kann zu seiner Lösung beitragen. Dazu gehört neben einer realistischen Bewertung der Funktion nuklearer Abschreckung auch die Einschätzung des Einflusses kognitiver Fehler auf die Debatte. Der Psychologe Daniel Kahneman hat 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Er hat nachgewiesen, dass es bei bestimmten
Fragestellungen zu einem starken Einfluss unseres intuitiven Denksystems und zum Auftreten kognitiver Fehler kommt. Das passiert vor allem, wenn zu wenige Informationen vorliegen, oder wenn die zu beurteilende Situation sehr unübersichtlich ist. Beides trifft auf die Grundannahmen zur nuklearen Abschreckung zu:
Zu wenige Informationen Für eine adäquate Antwort auf die Frage, ob Atomwaffen einen Weltkrieg verhindert haben, haben wir zu wenig Informationen, weil sie sich auf ein Nicht-Ereignis bezieht (das Ausbleiben eines Weltkrieges seit 1945). Es gibt viele alternative Erklärungen für das Ausbleiben eines weiteren Weltkrieges, sodass keine einfache kausale Verknüpfung hergestellt werden kann. Eine adäquate Antwort auf die Frage würde eine statistische Studie mit einer ausreichenden Anzahl „Kontroll-Welten“ erfordern.
Unübersichtliche Situation Die Frage, ob Atomwaffen eine stabilisierende Wirkung auf internationale Beziehungen haben, bezieht sich auf komplexe zwischenstaatliche Dynamiken, die neben militärischen Faktoren auch wirtschaftlichen, innenpolitischen, geografischen, sozial- und individualpsychologischen Einflüssen unterliegen und somit sehr unübersichtlich sind. 16
Philip E. Tetlock hat 284 Politikwissenschaftler*innen und politische Expert*innen befragt: Die Genauigkeit von Prognosen zur Eintrittswahrscheinlichkeit von bestimmten politischen Ereignissen war schlechter, als wenn das Auftreten aller möglichen Ereignisse als gleich wahrscheinlich bewertet worden wäre. Ähnlich entmutigende Ergebnisse hat Kahneman für die Prognosesicherheit professioneller Aktienhändler erhoben und daraus geschlossen, dass echte Expertise nur möglich ist, wenn die zu beurteilende Situation ausreichend regelmäßig ist. Es ist anzunehmen, dass diese Nicht-Vorhersagbarkeit auch für die Frage nach einem stabilisierenden Effekt von Atomwaffen auf internationale Beziehungen gilt. Darüber hinaus bezieht sich diese Frage vor allem auf Nicht- Ereignisse (auf das Ausbleiben von Krisen und Konflikten) und ist deshalb grundsätzlich schwierig zu beantworten. Für eine destabilisierende Wirkung von Atomwaffen gibt es hingegen konkrete Beispiele wie den Konflikt mit Nordkorea oder die Kubakrise. Wenn unser rationales Denksystem keine Antwort auf eine Frage findet – weil zu wenige Informationen vorliegen oder weil die Situation zu unübersichtlich ist – übernimmt das intuitive Denksystem die Führung und kognitive Verzerrungen können auftreten.
ATOMWAFFEN
Im Folgenden sind vier häufige Ursachen kognitiver Verzerrungen beschrieben:
Dieser Text stammt aus der Broschüre „Impulse für ein atomwaffenfreies Deutschland“, zu finden unter: ippnw.de/bit/ impulse oder shop.ippnw.de
1. Neigung zur Konstruktion von Kausalzusammenhängen Das intuitive Denksystem kann nicht gut statistisch denken und ist schlecht im Abschätzen von Wahrscheinlichkeiten. Stattdessen neigt es zur Konstruktion von Kausalzusammenhängen aus einzelnen Ereignissen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Frage nach dem Risiko des Einsatzes von Atomwaffen häufig nicht mit einer realistischen Risikobewertung beantwortet wird, sondern mit der Aussage, die Geschichte habe gezeigt, dass Atomwaffen den Frieden sichern. Evolutionär betrachtet, macht die intuitive Neigung zur Konstruktion von Kausalzusammenhängen Sinn. Nach einem Unglück ist es nützlich zu prüfen, ob es eine behebbare Ursache gibt. Wenn jemand plötzlich krank wird, macht es Sinn nachzusehen, ob die Lebensmittelvorräte verdorben sind. Wenn keine Ursache gefunden werden kann, ist die Neigung zur Suche nach Kausalzusammenhängen jedoch nicht mehr sinnvoll und führt gelegentlich zu „magischem Denken“: Eine Erkrankung wird dann als Strafe für eine begangene Sünde bewertet, die überraschende Genesung wird einem mächtigen Talisman zugeschrieben und der lange Frieden muss an den außergewöhnlichen Waffen liegen. Je kohärenter einer Geschichte ist, desto stärker ist der Eindruck von Wahrheit, die sie erzeugt, auch wenn die zugrundeliegenden Daten spärlich oder von schlechter Qualität sind.
2. Framing Kahnemann und sein Kollege Amos Tversky haben in einer empirischen Studie schon 1981 gezeigt, dass die Risikofreudigkeit von Menschen davon abhängt, wie eine Frage formuliert ist. Der Begriff des „Framings“ von Botschaften spielt seither eine wichtige Rolle in der Debatte über das Zusammenspiel von Politik und öffentlicher Meinung und wird viel beforscht. So
konnte z. B. 2007 in einer Studie gezeigt werden, dass Menschen ihre Einstellung zum Thema Abtreibung ändern, je nachdem ob der Begriff „Baby“ oder „Fötus“ verwendet wird. Wird über „Babys“ gesprochen, so steigt die Zustimmung zu einem Verbot von Abtreibungen, während die Verwendung des Begriffs „Fötus“ zu einer liberaleren Haltung zu dem Thema führt. Es wäre interessant zu untersuchen, wie sich unterschiedliche Beschreibungen für nukleare Abschreckung beispielsweise als „rationale Sicherheitsstrategie“ im Gegensatz zu „Drohung mit Massenvernichtung“ auf Einstellungen auswirken.
3. Emotionen und persönliche Einstellungen Nukleare Abschreckung ist ein emotional besetztes Konzept, da es auf der Erzeugung von Angst durch Drohung mit Massenvernichtung beruht. Sobald Emotionen und persönliche Einstellungen im Spiel sind, ist der Einfluss des intuitiven Denksystems von Individuen besonders stark. Es tritt ein emotionaler „Halo-Effekt“ auf. Damit ist gemeint, dass eine Vorliebe beispielsweise für eine bestimmte Person dazu führen kann, dass ihr positive Eigenschaften zugesprochen werden, ohne dass Informationen darüber vorliegen. Weil jemand z. B. freundlich ist, muss er nicht auch automatisch zuverlässig und pünktlich sein. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass Aufklärung über ein niedriges Risiko einer Technologie dazu führt, dass der Nutzen der Technologie höher bewertet wird (ob17
wohl über den Nutzen keine Aussage gemacht wurde). Umgekehrt könnte man annehmen, dass der Glaube an einen Nutzen nuklearer Abschreckung durch einen HaloEffekt zu einer niedrigeren Bewertung des mit ihr verbundenen Risikos führt.
4. Konformität Eine andere Studie hat ergeben, dass das Wecken von Assoziationen an die eigene Sterblichkeit die Tendenz zur Konformität – das heißt, der Orientierung an Mitgliedern der eigenen Glaubensgemeinschaft – verstärkt. Möglicherweise spielt dieser Effekt auch bei Diskussionen über das angstbesetzte Thema der atomaren Abschreckung eine Rolle. Konformität spielt aber auch unabhängig von der emotionalen Besetzung eine Rolle. So wird die Frage „Hat Abschreckung funktioniert?“ häufig damit beantwortet, dass führende Expert*innen dieser Meinung seien. Dabei wird zu wenig hinterfragt, in welchen Umgebungen diese Experten geprägt wurden und welche wirtschaftliche Interessen und professionelle Abhängigkeiten die Konformität zum Thema nukleare Abschreckung verstärken. Natürlich stehen nicht nur die Befürworter*innen atomarer Abschreckung unter dem Einfluss von kognitiven Verzerrungen, sondern gleichermaßen auch ihre Kritiker*innen (mit der Ausnahme, dass eine Kritik der nuklearen Abschreckung in der Regel keine wirtschaftlichen oder professionellen Interessenkonflikte mit sich bringt). Entscheidend ist, dass angenommen werden muss, dass kognitive Fehler und intuitives Denken generell Einfluss auf die Grundannahmen zu nuklearer Abschreckung haben, wodurch das Narrativ der „rationalen“ Abschreckung entkräftet wird. Dr. Inga Blum und Ralph Urban sind aktiv in der IPPNW / ICAN-Gruppe Hamburg.
ATOMENERGIE
Argumente gegen Atompropaganda Neue IPPNW-Information: „Nuklearia“ verdreht Fakten zur Wirkung niedriger Strahlendosen
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etarnt als unabhängige Bürgerinitiative ,macht „Nuklearia“ mit vorgeschobenen KlimaschutzArgumenten Propaganda für die Atomindustrie. Mehrere Behauptungen in ihrem Flyer: „Strahlung – Ein Blick auf die Fakten“ zur angeblichen Harmlosigkeit niedrig-dosierter ionisierender Strahlen sind nachweislich falsch, irreführend und damit unseriös: „Strahlung vermeidet krebserregende Luftverschmutzung.“ Kohlekraftwerke durch Atomkraftwerke zu ersetzen hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Luftverschmutzung würde dann durch Millionen Jahre strahlenden radioaktiven Atommüll ersetzt, der die Gesundheit unserer Nachkommen vielfältig gefährdet (s.u.). Es gibt auch eine „ungefährliche Strahlung.“ Das Ausmaß vielfältiger, wissenschaftlich gesicherter gesundheitlicher Risiken radioaktiver Strahlung ist durch die damit befassten internationalen Gremien bisher immer nur nach unten korrigiert worden, zuletzt durch die Internationale Strahlenschutzkommission im Jahr 2008. Selbst eine erhöhte, natürliche Strahlung in hohen Berglagen oder Flugzeugen, vergrößert das Risiko, Chromosomen-Aberrationen zu erleiden. Diese sind ursächlich für eine erhöhte Rate tot geborener oder fehlgebildeter Kinder, diverse Leukämien und eine Vielzahl verschiedener Krebse. Dies belegen beispielhaft 12 in der Langfassung dieses Artikels zitierte, seriöse Studien. „Dass Strahlung `zu Erbschäden führe´, ist eine falsche Vorstellung.“ Ionisierende Strahlung verursacht selbst in niedrigster Dosierung Änderungen der
Basensequenz der DNA mit der Folge von Mutationen von Genen und Chromosomen-Defekten (chromosomale Aneuploidie). Diese wiederum sind für eine Vielzahl verschiedenster angeborener Krankheiten, Missbildungen und Totgeburten sowie eine große Bandbreite bösartiger Tumoren verantwortlich. Dies belegende wissenschaftliche(n) Publikationen füllen Bibliotheken. Wir nennen bespielhaft 13 davon mit eindeutigen Ergebnissen von Experimenten an Tieren sowie epidemiologische Beobachtungen der exponierten Bevölkerungen nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. „Über eine lange Zeit gestreckt“ sei „eine Dosis von 5000 mSv harmlos“. Zwar können menschliche Zellen manchen Effekt einer erhaltenen Strahlendosis durch Reparatur des beschädigten DNAStranges oder Selbstmord (Apoptose) reparieren bzw. eliminieren. Sie haben aber auch ein „Gedächtnis“ für einmal erhaltene Strahlendosen. Daher ist vor allem die kumulierte Strahlendosis medizinisch relevant. Für den behaupteten Schwellenwert einer noch harmlosen Strahlendosis gibt es keinerlei wissenschaftlichen Beweise.
gegenüber kosmischer Strahlung. Für alle Krebse fand sich das Risiko pro mSv zusätzlicher Höhenstrahlung um 3% erhöht, für Leukämien und Hirntumoren um 4%. „Die Linear-No-Threshold-Theorie (LNT), nach `die Krebswahrscheinlichkeit proportional zur Dosis ist´, sei „falsch“. Eine Fülle von Studien an Strahlung ausgesetzten Kulturen menschlicher Zellen und Labortieren sowie epidemiologische Studien beweisen die Richtigkeit dieser auch von der Internationalen StrahlenschutzKommission angenommenen Beziehung. Sie besagt, dass es keine untere Schwellendosis für gesundheitlich ungefährliche Strahlung gibt und dass die Wahrscheinlichkeit an Leukämie oder Krebs zu erkranken proportional zur Strahlendosis steigt.
„Unterhalb von 100 mSv/Jahr konnten niemals zusätzliche Krebsfälle nachgewiesen werden“. Selbst leicht erhöhte Dosen natürlicher Strahlung (ca. 2,1 mSv pro Jahr), z.B. aus dem Kosmos oder von Radon ausgasenden Gesteinen, erhöhen das Risiko an Leukämien und verschiedenen Krebsen zu erkranken.
„Die Linear-No-Threshold-Theorie berücksichtigt die Reparaturmechanismen des Körpers nicht.“ Ein klinisch relevanter Trainingseffekt von Reparatur-Mechanismen Strahlen-bedingter Zell-, Chromosomen- und DNA-Schäden ist wissenschaftlich nicht belegt. Sofern in vielen epidemiologischen Studien über die Korrelation zwischen Strahlendosis und der Häufigkeit von Krankheiten berichtet wird, sind eventuell statt gehabte Reparaturen sehr wohl berücksichtigt, haben aber allem Anschein nach nicht hinreichend funktioniert. Mutations-bedingte Erbkrankheiten, angeborene Hemmungsmissbildungen, Krebse und Leukämien zu riskieren, um Reparaturmechanismen zu deren vermeintlicher Verhinderung zu trainieren, ist zynisch.
Die sogenannte „Schweizer KinderkrebsStudie“ belegt für 2.093.660 Kinder unter 16 Jahren eine Erhöhung des Krebsrisikos in Abhängigkeit von der Höhe ihres Wohnortes und der Dauer der Exposition
„Es gibt Hinweise darauf, dass Niedrigstrahlung die Abwehr des Körpers gegen höhere Strahlung stärkt“. Die schon von Paracelsus formulierte „Hormesis“-Hypothese besagt, dass
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Foto: Antonio Batinic / Pexels
Grafik: © TerraPower, LLC and GE Hitachi Nuclear Energy Americas, LLC (von Youtube)
geringe Dosen schädlicher oder giftiger Substanzen eine positive Wirkung auf den Organismus haben können. Sie trifft zwar vielfach auf die deterministischen (nicht Zufalls-abhängigen), nicht aber auf die klinisch relevanteren stochastischen (Zufalls-abhängigen) Strahlenschäden zu. Zu deren Natur gehört es, dass die Häufigkeit ihres Auftretens, nicht aber die Schwere der Erkrankung, Dosis-abhängig sind. Dies bedeutet, dass auch geringste Dosen ionisierender Strahlung Krebs und Leukämien verursachen können.
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s ist unzulässig, aus dem vermeintlich heilenden Effekt von radioaktivem Radon bei Erwachsenen mit rheumatischen Erkrankungen auf einen allgemeinen, gesundenden Effekt radioaktiver Strahlung zu schließen. Lindernde Effekte auf entzündliche Erkrankungen (z.B. Rheumatismus) durch von Radon ausgehende Strahlen sind durch die vorübergehende Hemmung der Vermehrung von Entzündungszellen zu erklären. Seröse wissenschaftliche Publikationen zu einem „Hormesis“-Effekt bei Strahlungsverursachten Leukämien und Krebsen gibt es nicht. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen berichtet vielmehr über den Anstieg der Häufigkeit von Leukämien und Lungenkrebs bei Personen, die in radonbelasteten Häusern wohnen. „Bei Personen, die Dosen von unter 100 mSv erhielten, ist es jedoch umgekehrt: Hier ist die Krebssterblichkeit vermindert.“ Wissenschaftliche Studien, die das belegen, sind nicht bekannt. Die Langfassung dieses Textes erwähnt zwei Studien, die an hunderttausenden von Arbeitern in AKWs durchgeführt wurden, und die ein deutlich erhöhtes Risiko nachwiesen, an Leukämie zu erkranken. In Dänemark wurde ein linearer Zusammenhang zwischen der
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ie neuen Tarnorganisationen der Pro-Atom-Propaganda agieren international. Sie nennen sich: Nuclear Pride Coalition, Stand up for nuclear, Mothers for Nuclear, Nuklearia, Critical Climate Action oder Energy for Humanity (Schweiz, Großbritannien) oder Environmental Progress (USA). Sie betreiben „Greenscamming“, eine PRTechnik, bei der umweltfreundlich klingende Namen und Bezeichnungen für Organisationen oder Produkte verwendet werden, die nicht ökologisch sind. Dadurch wird ein Interesse am Umweltschutz suggeriert, um die Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten und Motive zu täuschen. Das Interesse solcher Organisationen steht im Zusammenhang mit den finanzstarken Akteuren wie Bill Gates und Warren Buffet, beide Milliardäre. Ihre Firmen sollen einen neuen, natriumgekühlten Miniatomreaktor (345 MW), bauen – unterstützt durch die Regierung Biden. Es handelt sich dabei um
häuslichen Exposition von Kindern gegenüber natürlichem Radon und dem späteren Auftreten einer akuten lymphatischen Leukämie berichtet. „Nach Tschernobyl war nach dem Auftreten von 6.000 Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern kein Anstieg zu beobachten.“ Ionisierende Strahlung gilt als einzige gesicherte Ursache von Schilddrüsenkrebs. Die bisher beobachtete Häufigkeit dieses Krebses bei Kindern in den vom Fallout nach Tschernobyl belasteten Regionen Europas liegt deutlich darüber. „Niedrigstrahlung ist unbedenklich.“ Die sogenannte natürliche Strahlenexposition (effektive Dosis) beträgt in Deutschland derzeit 2,1 MSv pro Jahr (mSv/a). Davon ent19
TERRAPOWER BEWIRBT ANGEBLICH „GRÜNE“ MINI-AKWS. QUELLE: YOUTUBE
einen „Brutreaktor“, der aus Uran ständig neuen Brennstoff erzeugt. Er erbrütet beim Betrieb Plutonium, verbraucht es auch wieder, wodurch auf eine Wiederaufarbeitung des Atommülls verzichtet werden könne. Gleichzeitig erscheint die Plutonium-Erbrütung bei kommerziellem Betrieb und dem geplanten Export der Technologie als hohes Proliferationsrisiko. Dieser Laufwellenreaktor muss zudem mit flüssigem Natrium gekühlt werden, einem chemischen Element, das bei Kontakt mit Luft oder Wasser sehr heftig reagiert – ein Sicherheitsproblem. Wie bei herkömmlichen Reaktoren ist eine – wenn auch langsamer ablaufende – Kernschmelze nicht ausgeschlossen, falls die Kühlung ausfällt. Bisher ist geplant, für den Reaktor HALEU, einen auf 19,75 % angereicherter Uranbrennstoff, einzusetzen. Ein Brennstoff, der auch für atomgetriebene U-Boote genutzt werden soll. Dr. Angelika Claußen
fallen 1,1 mSv/a auf natürliches Radon, 0,7 mSv/a auf kosmische Strahlung und 0,3 mSv/a auf die Nahrung. Hinzu kommt eine „Zivilisatorische Belastung“ von 1,7 mSv/a (Bundesamt für Strahlenschutz, 2021). Diese ist bereits für eine Vielzahl der spontan vorkommenden Tot- und Fehlgeburten, angeborenen Fehlbildungen, Leukämien und Krebse verantwortlich. Das Papier finden Sie hier: ippnw.de/bit/strahlenfakten
Prof. Dr. Alfred Böcking ist Mitglied der Berliner Regionalgruppe.
Foto: © Uli Reinhardt / Zeitenspiegel Reportagen
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nterwegs im bergigen Kabul: Auf dem Weg zu ihrer Schulklasse im Stadtteil Schindowal müssen die Mädchen viele Treppen bewältigen.
Weitere Infos und Neuigkeiten von Ofarin e.V. finden Sie hier: www.ofarin.org
Bildung als Friedensprojekt Die Arbeit von Ofarin verbessert die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan
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eit 1996 bietet der Verein OFARIN in Afghanistan elementaren Schulunterricht für tausende Schüler*innen in Kabul, Logar, Pandschir und Parvan an. Dabei arbeitet Ofarin mit den Moscheen zusammen. Kinder, Jugendliche und Frauen erhalten täglich jeweils 90 Minuten Unterricht in Moscheen oder Privatwohnungen. 30 Minuten davon sind Religionsunterricht, für den das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten verantwortlich ist. In der übrigen Zeit werden den Schüler*innen nach einem Alphabetisierungskurs Schrift- und Mathekenntnisse vermittelt. „Wir sind uns sicher, dass unser Unterrichtsprogramm, so wie es ist, vielen Menschen hilft“, schreibt OFARIN. „Schreiben, mit Verständnis lesen und gut rechnen können, das gibt allen Menschen etwas. Diejenigen, die das können, gewinnen an Selbstbewusstsein und Urteilskraft. Manchen hat unser Unterricht ganz wesentliche Anstöße für ihr Leben gegeben.“ Der Verein hat in der Vergangenarbeit gut mit den Taliban zusammengearbeitet – das Programm ist auf ihren Wunsch entstanden. Dennoch ist momentan ungewiss, wie der Unterricht von OFARIN in Zukunft aussehen wird. Die Fotos stammen aus der Reportage „Die fliegenden Klassenzimmer“ von Uli Reinhardt und sind im Juni 2021 entstanden. Mehr unter: www.zeitenspiegel.de
UNTERRICHT IN DER MOSCHEE OMAR BIN-E-KHTAB IN KALATSCHA ( KABUL). JADE BEGAY,USA 21
Fotos: © Uli Reinhardt / Zeitenspiegel Reportagen
OFARIN-SCHÜLER MAHDI REZAIE (RE.) HAT ARBEIT BEI DER CHINESISCHEN FIRMA PAMIKITRADE IN KABUL GEFUNDEN.
SICHERHEIT NEU DENKEN
Die Wirksamkeit von Militäreinsätzen in Frage stellen Die IPPNW in der Initiative „Sicherheit neu denken“
Von Beginn an arbeitet die IPPNW im Trägerkreis der Initiative „Sicherheit neu denken“ mit. Das Konzept ziviler Sicherheitspolitik beschreibt das Ziel einer zivilen Außen- und Sicherheitspolitik ohne Militär. Es skizziert Schritte und Etappen dorthin und zeigt in fünf Politikfeldern den möglichen Weg zu einer Gesellschaft auf, die auf Gewaltprävention und Kooperation setzt.
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on Anfang an war es uns als IPPNW wichtig, vor allem die Verbindung von Klima und Krieg in dem Bündnis stark zu machen. Das ist uns auch gelungen. Auf einem Rollup der Initiative heißt es: „Die Basis nachhaltiger Sicherheit ist ein fairer Lebens- und Wirtschaftsstil. In einer vernetzten Welt wirkt unser unverantwortlicher CO2-Verbrauch wie ein Bumerang. Wenn wir klimaneutral und weltweit gerecht wirtschaften, sorgen wir verantwortlich für unsere eigene Sicherheit. Wirksame Fluchtursachen-Bekämpfung beginnt bei uns selbst“. Zur Klima-Demonstration im September 2020 verfasste das Bündnis den Aufruf „Wir brauchen einen friedensfähigen, klimagerechten Lebensstil und Welthandel“, der bei den Demonstrationen von Fridays for Future verteilt wurde.
Aufrüstung und Militär verschlingen schon jetzt Unsummen. 45,6 Milliarden Euro standen im Haushalt 2020 für das Verteidigungsministerium bereit. Für 2022 sind mehr als 50 Milliarden Euro geplant. Geld, welches an anderer Stelle fehlt. Das Klimaschutzpaket von 2019 kommt jährlich bisher auf weniger als ein Drittel dieser Mittel – bis 2023 stehen gerade mal 54 Milliarden Euro insgesamt zur Verfügung. Effektiv entgegenwirken können wir der Klimakrise damit nicht! Diese aber verstärkt Konfliktfaktoren wie Nahrungsmittelknappheit, Armut und Naturkatastrophen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen. Diese Zunahme gewaltsamer Konflikte dient dann vielen deutschen Entscheidungsträger*innen erneut als Argument, weiter aufzurüsten und Waffenexporte in Krisengebiete zu forcieren oder nach Auslandseinsätzen zu rufen.
Auch im Rahmen unserer IPPNW-Kampagne zur Bundestagswahl haben wir das Thema in den Fokus gerückt. Insbesondere durch die Ausrüstung und die Auslandseinsätze der Bundeswehr entstehen enorme Mengen an Treibhausgasemissionen – eine umfassende Erhebung und Veröffentlichung dieser gibt es bisher nicht. Auch im Klimaschutzgesetz bleiben sie ausgespart. Aus der dort formulierten Selbstverpflichtung zu einer „klimaneutralen Bundesverwaltung“ bis 2030 sind die Streitkräfte insgesamt ausgenommen. Lediglich der CO2-Ausstoß in den Liegenschaften sowie der militärischen und zivilen Fahrzeuge im Inland werden bisher überhaupt erfasst und in den nationalen Klimainventaren angegeben. Das führt dazu, dass die Kosten von Kriegen und Militäreinsätzen für Klima und Umwelt nicht angemessen beziffert werden. Gleichzeitig ist klar, dass ein Umbau der Bundeswehr hin zu klimaneutraler militärischer Mobilität keine Lösung ist.
Im Vorfeld der Bundestagswahl fordern wir daher, die Transparenz der Klimaschäden durch Ausrüstung und Einsätze der Bundeswehr und eine echte, längst überfällige Evaluation von Militäreinsätzen. Das ist im Sinne der Initiative „Sicherheit neu denken“, die die Wirksamkeit von Militäreinsätzen in öffentlichen Diskussionen und Veranstaltungen immer wieder in Frage stellt. Nach Darstellung der Initiative offenbart das Scheitern der langwierigen Militärinterventionen in Afghanistan und Libyen sowie im Irak, dass der Glaube an die Wirksamkeit militärischer Gewalt ein Mythos und die Fokussierung der deutschen Außenund Sicherheitspolitik auf Militär unvernünftig sei. „Gemessen an ihrem Beitrag zur Erreichung politischer Ziele ist die starke Fokussierung unserer Außen- und Sicherheitspolitik auf Militär dysfunktional, wie immer mehr kritische Stimmen aus Wissen22
schaft und Praxis zeigen“, heißt es dazu auf der Homepage von „Sicherheit neu denken“. Ralf Becker, der Koordinator der Initiative, weist auf öffentlichen Veranstaltungen und in Gesprächen mit Politiker*innen zudem darauf hin, dass gewaltfreie Aufstände fast doppelt so wirksam wie gewaltsame Aufstände sind. Die 2011 veröffentlichte Studie „Warum ziviler Widerstand funktioniert“ der US-Amerikanerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan illustriert, dass gewaltfreie Aufstände in insgesamt 323 betrachteten Konflikten im Zeitraum 1900 bis 2005 weltweit fast doppelt so wirksam waren wie gewaltsame Aufstände.
sätze insgesamt gefordert. Alle aktuellen Auslandseinsätze sind völkerrechtlich und verfassungsrechtlich problematisch. Das Völkerrecht bietet Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung: Deutschland muss im Rahmen der UN agieren und nicht im Rahmen von NATO oder Koalitionen der Willigen. Armut in den Städten und Dörfern sowie in den Flüchtlingslagern und das Fehlen ökonomischer Grundlagen erleichtern Terrorgruppen die Rekrutierung. Laut der Deutschen Welthungerhilfe nahm Afghanistan 2017 im Ranking des Human Development Index Platz 168 von 189 Ländern ein. Menschen leiden an den Folgen der Dürren, 47 Prozent aller Landbewohner*innen haben laut Bericht des afghanischen Ministeriums für ländliche Entwicklung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Die globale Studie „Wie Frieden gewonnen wird – von zivilem Widerstand zu dauerhafter Demokratie“ weist zivilen Widerstand als Schlüsselfaktor bei 50 von 67 Transformationen autoritärer Staaten zwischen 1972 und 2005 nach. Gewaltfrei erreichte Übergänge führen zu einem größeren Maß an politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten.
Ökonomische Grundlagen für ein auskömmliches Leben sind die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich langfristig von Krieg und Terror abwenden.
Die Homepage von „Sicherheit neu denken“ verweist auf erfolgreiche rein zivile Interventionen in von bis zu 60 verschiedenen bewaffneten Akteuren kontrollierten Gebieten in Indien, Kenia und in Somalia, die die nachhaltige Wirksamkeit ziviler Sicherheitspolitik selbst in extrem gewaltvollen und anscheinend unkontrollierbaren Situationen belegen.
Eine Zusammenarbeit mit Warlords wie in Afghanistan führt dagegen zur Verstetigung von Kampfhandlungen. Die Bundesregierung sollte stattdessen mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und ziviles Peacekeeping unterstützen – Forderungen ganz im Sinne der Initiative „Sicherheit neu denken“.
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ie aktuellen Entwicklungen in Afghanistan mit der Übernahme Kabuls durch die Taliban verdeutlichen erneut das Scheitern des Militäreinsatzes. Der 20 Jahre dauernde Krieg hat laut dem „Costs of War Project“ in Afghanistan und Pakistan mindestens 238.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen das Leben gekostet. Die IPPNW geht in ihrer Studie „Body Count“ davon aus, dass die Zahl der Opfer vermutlich fünf- bis achtmal so hoch liegt. Auch 3.600 Soldat*innen der westlichen Allianz haben in Afghanistan ihr Leben gelassen, darunter knapp 60 Bundeswehrsoldat*innen. Die IPPNW hat anlässlich des Abzuges der NATO aus Afghanistan eine kritische Reflexion über Militärein-
Angelika Claußen ist Covorsitzende, Angelika Wilmen Referentin für Frieden der deutschen IPPNW. 23
Foto: © Uli Reinhardt / Zeitenspiegel Reportagen
DIE LEHRERIN UND KRANKENSCHWESTER URIA ZAID ISAAC DERWISCHI UNTERRICHTET IM KABULER STADTTEIL SCHINDOWAL.
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Deutschland ohne Militär – ist das möglich? Die Initiative „Sicherheit neu denken“
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ls die Kampagne „Erlassjahr“ 1992 in Deutschland für die Entschuldung überschuldeter Entwicklungsländer eintrat, wurden die Initiator*innen als naiv bezeichnet. Wegen damaliger Jahreszinsen von bis zu 20 Prozent mussten viele ärmste Länder ihre Bildungs-, Gesundheits- und Armutsbekämpfungsprogramme stark kürzen. 1999 erreichte die Kampagne auf dem G8-Gipfel in Köln die Entschuldung von schließlich 20 der ärmsten Länder der Erde. Ein Beispiel, wie wirksam kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen sein können, wenn sie sich für ein positives Ziel zusammenschließen. Die Vision einer zivilen statt militärischen Sicherheitspolitik ist nicht minder herausfordernd. Seit 2019 formiert sich auf der Basis des badischen Szenarios die bundesweite Initiative „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“. Sie zeigt auf, wie Deutschland jährlich statt 70 bis 80 Milliarden Euro in die Bundeswehr, wie von der NATO gefordert, in nachhaltig wirksame Sicherheit investieren könnte. 35 deutsche und drei europäische Organisationen tragen die Initiative, darunter die IPPNW, der DFG-VK, das Friedenspfarramt der württembergischen sowie die AG Frieden der rheinischen Landeskirche, pax christi und viele andere mehr. Das von der Evangelischen Landeskirche in Baden veröffentlichte Szenario beschreibt, wie die vielfältigen bereits bestehenden Ansätze für eine zivile Sicherheitspolitik zukünftig in fünf Bereichen konsequent weiter ausgebaut werden könnten: 1. Gerechter Wirtschafts- und Lebensstil 2. Nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten 3. Entwicklung einer globalen zivilen Sicherheitsarchitektur 4. Resiliente Demokratie
5. Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie
nen ausbildet und ein Bildungsangebot im digitalen Raum entfaltet.
Das Szenario empfiehlt u.a. die Aushandlung und Umsetzung einer Wirtschaftsund Sicherheitspartnerschaft mit Russland bzw. der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie Entwicklungspartnerschaften mit den Staaten und Zivilgesellschaften der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union.
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ur wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Entwicklung der Staaten, die die von der Afrikanischen Union vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele 2063 konsequent und glaubwürdig umsetzen, könnten bei einer Reduzierung unserer militärischen Sicherheitspolitik jährlich 17 Milliarden Euro beigetragen werden. Die UNO sowie die OSZE könnten jährlich Beiträge in Höhe von 33 Milliarden Euro aus Deutschland erhalten – und damit im Vergleich zu heute wesentlich gestärkt und handlungsfähiger werden. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO leidet an mangelnder Finanzausstattung, wie die Covid19-Pandemie gezeigt hat. Zudem sieht das Szenario den Auf- und Ausbau eines Internationalen Technischen Hilfswerks vor – eine Investition, die unsere Sicherheit angesichts zunehmender Flutkatastrophen spürbar erhöhen würde. Bisher wurden im Rahmen der Initiative 140 Multiplikator*innen ausgebildet. Die nächsten Fortbildungen sind im Dezember 2021 und im März 2022 geplant. Insgesamt erreichte die Initiative bis Juli 2021 in 220 öffentlichen Veranstaltungen über 9.000 Interessierte. 2020 konnten wir zudem ein eigenes Jugendprojekt starten. Zwei engagierte jüngere Friedens- und Konfliktforscher*innen entwickeln mit einem inzwischen dreiköpfigen ehrenamtlichen Team unser Projekt „Peace4future“, das für die Mobilisierung der jungen Generation Friedensmentor*in24
ie Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) führt einen öffentlichen Dialog mit uns. Dort konnten wir unsere Vorstellungen einer kooperativen Sicherheitspolitik durch die EU vorstellen, die vom stellvertretenden Vorsitzenden der MSC, Botschafter Boris Ruge, hinsichtlich des Vorrangs ziviler Instrumente auch geteilt wurden. Anschließend twitterte er: „Lebhafte Diskussion über Europas Verantwortung in der Welt und Perspektiven kooperativer Sicherheit. Dank an Ralf Becker und an das Publikum für viele gute Beiträge!“ Auch bei Veranstaltungen mit inzwischen über 50 Verteidigungspolitiker*innen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages konnten wir das Szenario vorstellen. Mit dem Ehrenpräsidenten des Club of Rome, Ernst U. von Weizsäcker, dem badischen Landesbischof, Franz Alt sowie mehreren bekannten Künstlern unterstützen inzwischen auch zahlreiche Prominente unsere Initiative. „Mich begeistern die konkreten Schritte und die positive Vision von ›Sicherheit neu denken‹. Deshalb unterstütze ich den Aufruf zur gleichnamigen Bildungskampagne. Friedenspolitik ist weitaus realistischer als die herkömmliche „Realpolitik“, erklärt z.B. die Theologin Margot Käßmann.
Internationale Vernetzung und Militärkritik In den Niederlanden wird inzwischen nach dem badischen Vorbild ein ähnliches Szenario für die Niederlande entwickelt. In Großbritannien wirkt „Rethinking Security“ vergleichbar aufklärend wie unsere deutsche Initiative, auch in den USA gibt es ähnliche Aufbrüche. 2022 ist eine internationale Tagung geplant, zu der neben diesen auch österreichische, schweizerische und italienische Netzwerke eingeladen werden sollen.
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1. Eine Verdoppelung der finanziellen und personellen Ausstattung der Instrumente zur Zivilen Krisenprävention und – intervention bis 2025, 2. eine transparente Evaluierung bisheriger militärischer Einsätze inklusive vergleichender Bewertung entsprechender Investitionen in Instrumente ziviler Sicherheitspolitik, 3. fundierte öffentliche Diskussionen vor zukünftigen sicherheitspolitischen Entscheidungen durch die Beschreibung der Ausgangslage, politischen Ziele, möglicher ziviler, polizeilicher und militärischer Interventionsinstrumente und Handlungsoptionen sowie der Kriterien zur Auswahl der Instrumente, 4. die Finanzierung von 100 hauptamtlichen Bildungs-Promotor*innen für Zivile Krisenprävention und -intervention u.a. zum Einsatz an Schulen.
Die Initiative hat inzwischen auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zusammengetragen, die die Ineffizienz und Kontraproduktivität militärischer Instrumente nachweisen – was ja auch jeder Laie in Afghanistan, Libyen und im Irak beobachten kann. Auf der anderen Seite beweisen internationale Studien inzwischen die doppelte Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands im Vergleich zu gewaltvollen Aufständen und Aktionen.
Politische Ziele der Initiative Inzwischen sind wir zahlreichen sicherheitspolitischen Akteuren gut bekannt. Durch intensive Vernetzung konnten wir u. a. dazu beitragen, dass Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Wahlprogramm das NATO-Zwei-Prozent-Ziel ablehnen und explizit einen starken Ausbau der zivilen Sicherheitsinstrumente fordern.
Auch im 2021 vom Deutschen Bundestag beauftragten Bürgerrat zur Rolle Deutschlands in der Welt war unser Expertenrat gefragt. Mit Erfolg: Der Bürgerrat empfiehlt die Stärkung ziviler, krisenpräventiver Sicherheitspolitik, einen nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsstil, die nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten und ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland. Auslandseinsätze der Bundeswehr sollen zudem an strikte Zielvorgaben und Evaluationen gebunden sein. Durch unsere Mitwirkung im Sprecher*innenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung wirken wir über die europäische Lobbyplattform EPLO auch in Brüssel in Richtung ziviler Sicherheitspolitik. Im Koalitionsvertrag Ende 2021 hoffen wir durch Lobbyarbeit folgende Zwischenziele zu erreichen:
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urch eine mehrjährige politische Kampagne inklusive eigener Medien- und Pressearbeit werden wir die wachsende kritische öffentliche Reflektion militärischer Einsätze in Afghanistan und Mali sowie das zunehmende Bewusstsein für die Notwendigkeit weltweiter gemeinsamer Kooperation weiter fördern und so einen allgemeinen Paradigmenwechsel zu einer zivilen Sicherheitspolitik um das Jahr 2025 ermöglichen. Weitere Infos, Aktionen und eine Möglichkeit, unseren Newsletter zu abonnieren, unter: www.sicherheitneudenken.de
Ralf Becker koordiniert im Auftrag der Ev. Landeskirche in Baden die bundesweite Initiative „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“.
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Peace for Future Ein Projekt von „Sicherheit neu denken“ für die junge Generation ellen Interessen ab. Das persönliche Friedens- und Sicherheitsgefühl ist wiederum abhängig davon und wirkt sich als Voraussetzung aus, um sich gesellschaftlich zu engagieren. Aufgrund der gewachsenen Strukturen der bisherigen Friedensbewegung sind fast ausschließlich weiße, deutsche, junge, aber vor allem ältere Menschen aktiv. Häufig ist ihr Friedensengagement aus einer ethischen Perspektive motiviert. Im Gegensatz dazu sind z.B. Menschen aus prekären Verhältnissen oder mit Migrationsbiographie in Deutschland selbst stärker vom gesellschaftlichen Unfrieden betroffen, der sich für sie in fehlender Chancengleichheit, Alltagsrassismus, Racial Profiling und No-Go-Areas widerspiegelt. Viele von ihnen haben aufgrund ihres eigenen Hintergrunds ein ganz unmittelbares Interesse an der lokalen und globalen Friedensförderung. Wenn sie sich dafür einsetzen möchten, kann sie einerseits das geringe Wissen, wie und wo sie sich engagieren können, daran hindern. Andererseits können die bisherigen Strukturen der Friedensbewegung an sich als Hemmnis wirken.
Wie können sich junge Menschen für Sicherheit und Frieden einbringen? Ein Großteil der Menschen zwischen 15 und 25 Jahren interessiert sich für diese Themen, ergab eine Umfrage.
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nsbesondere seit der Gründung von „Fridays for Future“ gehen Jugendliche und junge Erwachsene vermehrt auf die Straße. Sie streiken und demonstrieren für Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und setzen sich für notwendige Veränderungen zur Erreichung des Pariser Klimaabkommens ein. Die junge Generation macht mobil und weckt auf, insbesondere bezüglich der Klimakrise. Doch wie sieht ihr Interesse und Engagement für die Themen Frieden und Sicherheit aus? Im Rahmen der „Initiative Sicherheit neu denken“ entwickeln wir – zwei junge Friedensforscherinnen – seit Anfang 2021 das Projekt „Peace for Future“. Gemeinsam mit einem Team von jungen Engagierten möchten wir Jugendliche und junge Erwachsene erreichen. Sie sollen zu einer vielfältigen Friedenskultur, einer zivilen und feministischen Friedens- und Sicherheitspolitik und dadurch zu einer resilienten Demokratie beitragen. Das Ziel ist die junge Generation zu mobilisieren, Friedensfähigkeit lernbar zu machen, sicherheitspolitische Zusammenhänge zu verstehen und Friedensmentor*innen auszubilden.
Was interessiert junge Menschen am Thema Frieden? „Peace for Future“ setzt an den Lebenswelten und Interessen junger Menschen an. Um genauer herauszufinden, was junge Menschen im Bereich Frieden und Sicherheit interessiert und ob sie sich grundsätzlich dafür engagieren würden, haben wir im Frühjahr 2021 eine quantitative Umfrage durchgeführt. 450 Menschen nahmen an dieser Umfrage teil und 43 Prozent von ihnen waren zwischen 15-25 Jahre alt. Unter anderem gaben 93 Prozent der Befragten an, dass sie die Welt nicht als einen sicheren Ort erleben und 99 Prozent gaben an, dass ihnen Frieden wichtig ist. 95 Prozent der Befragten können sich grundsätzlich vorstellen, sich für Frieden und Sicherheit zu engagieren. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass ein sehr großes Interesse an den genannten Themen besteht.
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n der Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, dass für viele junge Menschen Kriege und menschliche Not häufig schon fast zur Normalität geworden sind. Die politischen Themen, Krisen und Konflikte sind mittlerweile so zahlreich und so komplex, dass dies oft zu Überforderung, Enttäuschung und gar zu Handlungsunfähigkeit und Perspektivlosigkeit führt. Zwar besteht oft eine große Sorge im Hinblick auf die Zukunft und entsprechend haben junge Menschen häufig innovative Ideen, doch sehen sie sich den multiplen Krisen oftmals auch ohnmächtig gegenüber.
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ie meisten der Befragten gaben an, sich thematisch am stärksten für den Zusammenhang zwischen der Klimakrise und Frieden zu interessieren und ebenso dafür, wie Frieden und Sicherheit persönlich, gesellschaftlich und politisch gefördert werden kann. Bezüglich der konkreten Art und Weise des
Ob sich die junge Generation gesellschaftlich oder politisch engagiert, hängt nach wie vor stark von den jeweiligen Biographien, den Startbedingungen ins Leben sowie den Kapazitäten und individu26
Initialzündung für Engagement: Die entstehende Atmosphäre soll dazu anregen, gemeinsam innovative Lösungen für gesellschaftliche und politische Konflikte und Krisen zu entwickeln.
Engagements gaben sie an, dass die Teilnahme an Workshops und Seminaren für sie von größtem Interesse ist, dicht gefolgt von der Beteiligung an politischen und künstlerischen Aktionen. Basierend auf den Erkenntnissen und konkreten Ergebnissen der Umfrage hat „Peace for Future“ Maßnahmen und Angebote für eine zivile und feministische Friedens- und Sicherheitspolitik entwickelt. Diese sollen junge Menschen befähigen, das eigene Potential zu entfalten, mit dem persönlich erlebten Unfrieden, der Überforderung und Sorge um die Zukunft sowie der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung umzugehen. Wir setzen an den Lebenswelten und Lebensorten Jugendlicher und junger Erwachsener an.
Angebote im digitalen Raum: Zusätzlich zu der Ausbildung soll eine informative und ansprechende, digitale Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit über das Spektrum von Frieden und Sicherheit sowie einer resilienten Demokratie und Friedens- und Konflikttransformation informieren. Dies geschieht in Form von Social-MediaKampagnen, Posts, Bildern, Videos, Interviews und Webinaren. Die Kooperationen mit den bereits bundesweit tätigen Trägerorganisationen der Initiative „Sicherheit neu denken“ unterstützen dieses Vorhaben. So wird das Angebot eingebettet in ein Netzwerk von lokalen, wie auch bundesweit tätigen Akteure und Organisationen, die gesellschaftlich und (friedens-)politisch aktiv sind.
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uf diese Weise sollen junge Menschen darin unterstützt werden, sich mit ihren eigenen Themen lokal für Frieden und Sicherheit einzubringen. Aktuell befindet sich das Projekt in der Konzeptions- und Aufbauphase. Finanziert wird es bisher durch Spendengelder und die Trägerorganisationen der Initiative „Sicherheit neu denken“, zu denen auch die IPPNW zählt, sowie viel ehrenamtlichem Engagement. Langfristig soll ein friedens- und sicherheitspolitisches Bildungsangebot entstehen, für das derzeit Förderanträge für eine dauerhafte Finanzierung laufen.
Mit diesen Maßnahmen, die mit der Zeit weiter ausgebaut werden, wollen wir junge Menschen dazu befähigen, konstruktiv mit Unsicherheiten und Konflikten umzugehen. Sie sollen ein friedensund sicherheitspolitisches Verständnis entwickeln und lernen, sich praktisch in gesellschaftliche Veränderungsprozesse einzubringen. Das persönliche Sicherheitsempfinden kann gestärkt und somit zu einer Kultur und Gesellschaft beigetragen werden, in der Sicherheit durch ein Miteinander – statt Gegeneinander – gelebt und Frieden möglich wird.
Ausbildung startet im Herbst Unter anderem soll z. B. im November diesen Jahres ein Pilot-Angebot einer Ausbildung zum/zur Friedensmentor*in durchgeführt werden. Parallel werden weitere Inhalte, Informationen etc. über Social Media Kanäle verbreitet. Unter Vorbehalt der Finanzierung sind ab 2022 folgende Maßnahmen für Menschen zwischen 18 und 28 Jahren mit unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft, sozialem, ökonomischem wie auch Bildungshintergrund sowie mit und ohne Migrationserfahrung geplant:
Mehr Informationen unter: www.peace4future.de
Theresa Hirn und Mirka Hurter sind Koordinatorinnen des Projekts „Peace for Future“ bei „Sicherheit neu denken“.
Zertifizierte Ausbildung zur/zum Friedensmentor*in: In dieser erhalten die Teilnehmenden ein breites Erfahrungsspektrum zu den Themen Frieden und Sicherheit sowie zu politischen Zusammenhängen in diesem Feld und erlernen konkrete Methoden zur Friedens- und Konfliktfähigkeit. 27
Foto: Alice Donovan Rouse / unsplash
FRIEDENS- UND KLIMABEWEGUNG GEHÖREN ZUSAMMEN: XR PEACE BLOCKIERT DIE ATOMWAFFEN IN FARSLANE, SCHOTTLAND (05/2021).
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Polizei statt Militär Ein Element einer zivilen Sicherheitspolitik?
Eine aktuelle Bevölkerungsumfrage der Bundeswehr konstatiert, die Bundesbürger seien „[h]insichtlich ihrer außenpolitischen Grundhaltungen […] als eher anti-militaristisch, anti-atlantizistisch und klar multilateralistisch zu charakterisieren, das heißt, sie halten militärische Gewalt nicht für ein effektives oder moralisch angemessenes Mittel der Außenpolitik, wünschen sich eine außenpolitische Emanzipation von den USA und sprechen sich eindeutig für eine Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und Bündnispartnern aus.“
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rotzdem sei die positive Einstellung zur Bundeswehr im Vergleich zum Vorjahr 2019 um sechs Punkte auf 82 Prozent gestiegen ( ippnw.de/ bit/bundeswehrumfrage). Dieser offenkundige Widerspruch zwischen Kriegsablehnung einerseits und Bundeswehrbejahung andererseits lässt sich meines Erachtens nur dadurch erklären, dass es eine Schutzlosigkeitsangst gibt, die trotz aller Kriegskritik mangels Alternativen doch am Militär festhält. Getreu der von Helmut Schmidt zu Nachrüstungszeiten zitierten alten Hamburger Kaufmannsregel, wonach man das schmutzige Wasser nicht auskippt, bevor man kein Frisches hat. Der dringend gebrauchte frische Wind in der Außen- und Sicherheitspolitik könnte der von der Initiative „Sicherheit neu denken“ (SND) vertretene Ansatz einer friedenslogischen zivilen Sicherheitspolitik sein. Anhand von fünf Säulen zeigt das Szenario auf, wie eine zukunftsfähige, bei den Konfliktursachen ansetzende, nachhaltige Sicherheitspolitik aussehen kann. So wird neben dem Bemühen um eine nachhaltige Lebensweise, um eine partnerschaftliche, gemeinsame internationale Sicherheitsarchitektur und zivile Konfliktbearbeitung u.a. auch der Aufbau internationaler Polizeistrukturen auf weltregionaler und auf UN-Ebene vorgeschlagen.
Nach zwanzig Jahren kontraproduktivem Afghanistankrieg sollte anstelle der von der Verteidigungsministerin proklamierten stolzen Rückkehr der Bundeswehr besser Selbstkritik geübt und nach Alternativen zum „Krieg gegen Terror“ gefragt werden: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die USA hätten nach dem Anschlag am 11. September 2001 bei den Vereinten Nationen die ad hoc-Aufstellung einer Internationalen Polizei zur Suche und Festnahme der Attentäter von New York beantragt, anstelle Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien mit hundertausenden von Toten zu führen? Auch wenn das Militär eines Tages aufgelöst bzw. in ein internationales Technisches Hilfswerk transformiert sein sollte, wird es zur Bekämpfung von größerer, internationaler und terroristischer Gewalt eines Restgewaltsystems bedürfen. Dieses muss jedoch polizeilicher Natur sein. Eine globalisierte Welt kann nicht mehr durch nationale Außenpolitiken bestimmt sein, sondern bedarf einer Weltinnenpolitik, wie sie schon vor 60 Jahren von CarlFriedrich von Weizsäcker vorausschauend gefordert worden ist. In diesem Rahmen haben nationale oder Bündnisarmeen keinen Platz. Im Unterschied zur Energiepolitik, in der erst nach langer Bekämpfung des Widerstands gegen die atomare und fossile Energieerzeugung die Erforschung und Entwicklung von Alternativen staat28
lich gefördert wurde, gibt es dergleichen im Bereich der Sicherheitspolitik bislang leider nicht. Deshalb entstand innerhalb der Initiative „Sicherheit neu denken“ die Fachgruppe „Internationale Polizei“. Diese entwickelte in Kooperation mit Vertreter*innen aus Wissenschaft, Friedensbewegung, Polizei, Militär und Politik eine „Zukunftsperspektive für eine Internationale Polizei“ (ippnw.de/bit/akademie-baden).
Einige Aspekte daraus: Aus Gründen der kulturellen, sprachlichen und religiösen Verbundenheit ist die Bildung von Internationalen Polizeistrukturen vorrangig innerhalb von Weltregionen (z.B. Lateinamerika, Afrika südlich der Sahelzone, arabische Welt, Europa) als Bezugsrahmen zu favorisieren. Organisationen, die alle Staaten einer Weltregion einbeziehen (in Europa: Europarat oder OSZE), kommen als Träger in Betracht bzw. sind zu schaffen. Eine spezielle UN-Polizei könnte die Sicherung der internationalen Kommunikations- und Verkehrsstrukturen übernehmen bzw. in Konflikten, die weltregional schwer lösbar sind (wie z.B. in Israel-Palästina), dort vereinbarte Friedensregelungen absichern. Ebenso wäre eine UN-polizeiliche Sicherung des Weltraums sinnvoller als die nunmehr auch durch die Bundeswehr betriebene Militarisierung des Alls.
Der Einsatz in einem Konfliktgebiet ist nur auf Einladung oder mit Billigung der dort herrschenden Macht möglich. Aufgabenbereiche könnten sein: » Kontaktaufnahme zu allen Konfliktparteien » (In Kooperation mit Friedensfachkräften) Vermittlungsbemühungen » Schutzgewährung für bedrohte Menschen/Gruppen » Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen, Abrüstungsvereinbarungen, freien Wahlen bzw. Volksentscheiden
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ie Realisierung dürfte gegenwärtig nicht top down durch einen UN-Beschluss zu erwarten sein, sondern eher bottom-up durch Initiativen auf weltregionaler Ebene. Zur Lösung des OstukraineKonfliktes könnte die OSZE internationale Polizeieinheiten aus ihren Mitgliedsländern bilden, die den Waffenstillstand in einer entmilitarisierten Zone überwachen und, falls auf politischer Ebene der Klärungswille stärker wird, die Sicherheit bei der Durchführung freier und geheimer Wahlen in den umstrittenen Gebieten gemeinsam mit internationalen Beamt*innen gewährleisten. Dasselbe gilt z.B. für den Israel-PalästinaKonflikt. Sobald eine Lösung (z.B. Zweistaaten-Regelung oder ein Staat mit zwei „Kantonen“) vereinbart worden ist, könnte eine starke Präsenz Internationaler Polizei die Realisierung überwachen.
» Waffenrückkauf in Bürgerkriegsländern » Bekämpfung organisierter internationaler Kriminalität und von Terrorismus
Gewiss sind solche Einsätze mit Kosten und Risiken verbunden. Diese müssen jedoch mit den Kosten und Risiken mili29
tärischer Sicherheitspolitik verglichen werden. Möglicherweise kann diese reale Betrachtung vielen Mitbürger*innen, die keinen Krieg wollen, helfen, ihr Schutzbedürfnis durch eine zivile, andere Staaten nicht bedrohende Sicherheitspolitik besser gewahrt zu sehen.
Die „Zukunftsperspektive für eine Internationale Polizei“ wird auf einer Akademietagung am 22.-24. September 2021 in Bad Herrenhalb präsentiert und zur Diskussion gestellt. Weitere Informationen dazu: ippnw.de/bit/akademie-baden
Dr. phil. Theodor Ziegler ist Religionspädagoge und Mitglied im Koordinationskreis von „Sicherheit neu denken“.
Graffiti: Banksy / via Amos Trust
Für den Aufbau sind die bisherigen Erfahrungen internationaler Polizeieinsätze nationaler Polizeibeamt*innen, aber auch ziviler Nichtregierungsorganisationen in Konfliktregionen zu berücksichtigen. So ist beispielsweise die jeweilige conflict ownership zu respektieren: Nachhaltige Lösungen können nur von den Beteiligten selbst, eventuell mit externer Beratung, gefunden werden. Auch muss die Internationale Polizei-Arbeit vorrangig präventiv und deshalb auf langzeitigen Beziehungsaufbau angelegt sein. Die dabei zum Einsatz kommenden Beamt*innen bedürfen insbesondere deeskalativer und mediativer Qualifikationen. Auch darf sich die internationale Verwendung nicht nachteilig für den Berufsweg im Heimatland auswirken, sondern sollte ein besonderes Qualifizierungsmerkmal sein. Bei der Rekrutierung sind alle ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten in einer Weltregion proportional zu berücksichtigen.
WELT
Fahrplan zur Beendigung der nuklearen Teilhabe Im Gespräch mit EU-Parlamentarier*innen im niederländischen Parlament eine Resolution eingebracht, die allerdings von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt worden sei. Er hält die parlamentarische Zusammenarbeit zu diesem Thema für sehr wichtig.
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ie IPPNW hat im Rahmen des Bündnisses „Nukefree Europe“ am 28. Juni 2021 eine OnlineVeranstaltung mit EU-Parlamentarier*innen organisiert. Karl-Heinz Brunner, SPD Deutschland, Jasper van Dyke, Sozialistische Partei Niederlande, Vooruit Belgien, Flämische Sozialistische Partei und Kathrin Vogler von der Linke Deutschland, diskutierten über einen Fahrplan zur Beendigung der nuklearen Teilhabe. Karl-Heinz Brunner von der SPD sieht die Notwendigkeit, ein Umfeld zu schaffen, in dem Schritte zur Beendigung der nuklearen Teilhabe möglich werden. Für die deutschen Sozialdemokraten sei die NATO und ihre Integrität wesentlich, ebenso wie das Prinzip des Multilateralismus. Deutschland sollte als Bindeglied zwischen den politischen Gegnern fungieren. Einseitige Schritte Deutschlands würden die Abrüstung erschweren. Er appellierte, eine Spaltung der NATO zu verhindern. Bei einer einseitigen Abrüstung der deutschen Atomwaffen, könnten sie in einem anderen NATO-Land wie Polen stationiert werden, warnte er. Außerdem müsse man in Verhandlungen der anderen Seite etwas anbieten, so zum Beispiel, wenn Deutschland zum Ziel habe, dass Russland die substrategischen Atomwaffen in Europa abbaut. Karl-Heinz Brunner forderte eine offene und transparente Debatte im Parlament, in Europa,
in der NATO und auch der breiten Öffentlichkeit über die Nukleare Teilhabe. Der Abbau der Atomwaffen in Deutschland müsse in eine allgemeine nukleare Abrüstungsstrategie eingebettet sein, die auch nukleare Abrüstungsgespräche zwischen den USA und Russland beinhalten müsse. Im Bezug auf den Atomwaffenverbotsvertrag sieht der Abgeordnete Deutschland als NATO-Staat derzeit nicht in der Lage, dem Abkommen beizutreten, da Deutschland die US-Atomwaffen dann sofort abziehen müsste. Die SPD schlage aber vor, dass die Bundesregierung als Beobachter an der Staatenkonferenz teilnehmen solle. „Abschließend möchte ich sagen, dass Schritte in Richtung Atomwaffenverbotsvertrag und nukleare Abrüstung gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, mit der NATO und im gegenseitigen Einvernehmen mit unserem Nachbarn Russland unternommen werden müssen“, so Karl-Heinz Brunner. Jasper van Dyke, Sozialistische Partei der Niederlande, stimmte Karl-Heinz Brunner in weiten Teilen zu. Das Konzept der nuklearen Teilhabe der NATO sei veraltet. Das Thema müsse gemeinsam mit Deutschland, den Niederlanden, Italien, der Türkei und Belgien weiter auf die Tagesordnung gesetzt werden. Er sprach sich zudem dafür aus, dass die Niederlanden 2022 bei der Staatenkonferenz in Wien als Beobachter teilnehmen sollten. Er habe dazu 30
hris Verduyckt von der Flämischen Sozialistischen Partei setzt sich für die Abrüstung der Atomwaffen in Belgien ein. Die belgische Regierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung erklärt: „Der Atomwaffensperrvertrag ist der Eckpfeiler für das globale Nichtverbreitungsregime“. Belgien werde gemeinsam mit anderen europäischen NATO-Verbündeten untersuchen, wie der multilaterale Nichtverbreitungsrahmen gestärkt werden kann und wie der Atomwaffenverbotsvertrag der multilateralen nuklearen Abrüstung neue Impulse geben könne. Gemeinsam mit den belgischen Grünen hat die Sozialistische Partei einen Forschungsauftrag an das Egmund Institut und an das Clingendael Institut erteilt, um entsprechende Schritte auszuarbeiten. Belgien könne Partner in der Stockholmer Initiative werden und sich verpflichten, als Beobachter an der Staaten-Konferenz in Wien teilzunehmen. Er hält eine neue Diskussion innerhalb der NATOLänder über Atomwafefn für notwendig. Belgien könnte hierfür Anstöße geben. Nach einer anschließenden Debatte wurde ein gemeinsamer Artikel von europäischen Parlamentariern verabredet, um das Ende der nuklearen Teilhabe zu fordern, der in europäischen Zeitungen veröffentlicht werden könnte. Link zur Aufzeichnung der Veranstaltung: www.youtube.com/watch? v=GLCoogGm1cE
Dr. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW.
AKTION
Kreativ in Büchel Aktionstage am Atomwaffenstützpunkt in der Eifel
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n Büchel haben ca. 140 Aktivist*innen von IPPNW und ICAN vom 6. bis zum 11. Juli 2021 für den Abzug der US-Atomwaffen und einen Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbot protestiert. Ein vielfältiges Programm aus Workshops, Theater und gut vorbereiteten Aktionen an den Toren des Fliegerhorsts prägte die Woche. Studierende der UdK Berlin bauten ein Bühnenbild, das zum Ort gemeinsamer Proben und Aufführungen wurde. Auch ein Spaziergang mit lokalen Aktivist*innen rund um den Fliegerhorst fand statt. Für die Infrastruktur sorgten zwei Vereine: Der COMM e.V., der ein solides Camp direkt am Fliegerhorst organisierte, und der Solibus e.V., der die Mobilität der Teilnehmer*innen gewährleistete. Kraft, dem oft feuchten Wetter zu widerstehen, gab das köstliche Essen des Küchenkollektivs MobKit formidable aus Osnabrück.
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G ELESEN
Vergessene Briefe
Datenkraken im öffentlichen Dienst
Jahrelang lagen die Briefe vergessen in einer flachen Schachtel zwischen verstaubten Büchern. Sie stammten von seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter, der 1942 in Russland gefallen war...
Dr. Rolf Gössner beschreibt in seinem Buch, wie sich die Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und Militär im „Kampf gegen den Terror“ zunehmend ausgeweitet, vermischt und demokratischer Kontrolle entzogen haben.
U
D
nsere Kollegin Marlene Pfaffenzeller ist Psychoanalytikerin und hat viele Jahre mit geflüchteten und traumatisierten Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet. Nun hat Marlene ihren zweiten Roman geschrieben. Auch dieses Buch beschäftigt sich mit dem Krieg, diesmal mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nazi-Ideologie eines verblendeten Nationalismus.
er Jurist und Publizist, der selbst 40 Jahre lang rechtswidrig durch den Verfassungsschutz überwacht wurde, hat in seinem Buch die Laudatios des jährlichen BigBrother-Awards versammelt, die er in den letzten 20 Jahren verliehen hat. Beim Lesen fällt erschreckend auf: Regelungen und Prozeduren – z.B. ein „Lauschangriff“, der im Jahr 2000 einen gesellschaftlichen Aufschrei auslöste – sind 2020 breit akzeptierte Normalität. Im zweiten Teil des Buches analysiert Gössner die dieser „neuen Normalität“ zugrundeliegende Sicherheits- und Antiterrorpolitik als Verunsicherungspolitik auf Kosten der Freiheit. Abschließend zeigt er kurz auf, wie die Corona-Pandemie diese Entwicklung weiter befördert hat. Ängste und gesellschaftliche Feindbilder haben auf politischer Ebene eher zu einem reflexhaften Aktionismus mit struktureller Aufrüstung der Sicherheitsorgane geführt. Eine Militarisierung fokussiert auf (potentielle) Kampferfolge und vernachlässigt die bürgerrechtlichen und gesamtgesellschaftlichen Kollateralschäden. Die umfassende Datenerfassung, Vernetzung und der Datenaustausch mit in- und ausländischen Geheimdiensten auch autoritärer Regime haben unter Ausschaltung von rechtsstaatlichen Grundsätzen unschuldige Existenzen zerstört. Die präventive Telekommunikationsüberwachung nutzt zudem IT-Sicherheitslücken, die deshalb nicht beseitigt werden und damit die Infrastruktur der Allgemeinheit für Cyberkriminalität offenhält – der wirtschaftliche Schaden für Deutschland wurde allein 2020 mit 220 Milliarden Euro beziffert! Noch problematischer wird es, wenn rechtsextreme Einzelpersonen oder Gruppen innerhalb von Sicherheitsbehörden die Überwachungsbefugnisse zum Ausspähen und zur Einschüchterung von politischer Gegner missbrauchen und so mit der „Sicherheitsarchitektur“ demokratisches und zivilgesellschaftliches Engagement angreifen, das diese ja eigentlich sichern sollte. Die derzeitigen Pegasus-Enthüllungen der Ausspähung von Politikern, Dissidenten und Journalisten in globaler Dimension hat das sachlich geschriebene Buch noch aktueller gemacht.
Auf der Grundlage von Feldpostbriefen eines Onkels lässt sie den Romanhelden Frieder und sein von der Zeit geprägtes Weltbild entstehen, das ihn voll Überzeugung in den Krieg nach Russland führt, wo er alle Grausamkeiten mit der nationalen Notwendigkeit erklärt und mitträgt. Ohne etwas zu beschönigen, entwirft sie das Bild eines liebenswerten, feinfühligen Mannes, der pflichtbewusst für Volk und Vaterland in den Tod geht. Mich hat die Lektüre gefesselt und beeindruckt, weil Marlene Pfaffenzeller ihren Protagonisten selbst zu Wort kommen lässt, weil sie, ohne zu werten, seine Gedanken und Überzeugungen lebendig werden lässt. Dadurch schafft sie einen anderen Zugang zur Geschichte unserer Eltern und Großeltern, ohne die Schrecken des Krieges und der Ideologie zu relativieren. „Scharlatane, scheinbar allmächtige Führer und Heilsversprecher, die einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen versprechen und die auf jede Frage eine unumstößliche Antwort geben, sind eine Gefahr für den Planeten mit all seinen Lebewesen,“ schreibt der Täter und Protagonist Karl am Ende der Rahmenhandlung. Marlene Pfaffenzeller: Schatten aus vergilbten Briefen. Kulturmaschinen Verlag, Hamburg 2021, 272 S., Paperback, 16,00 € ISBN-13: 9783967631746 Gisela Penteker
Rolf Gössner: Datenkraken im öffentlichen Dienst. Laudatio auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Mit Gastbeiträgen von Gerhart Baum, Sabine LeutheusserSchnarrenberger und Heribert Prantl, Papyrossa, Köln 366 S., 19,90 €, ISBN 978-3-89438-753-2 Dr. Herbert Kappauf 32
G EDRUCKT
TERMINE
Akzente Türkei/Kurdistan „Ziviler Widerstand in Krisenzeiten“ Bericht der Online-Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei im März/April 2021. 12 Seiten A4, Preis: 2,- Euro zzgl. Versand. Lesen unter: issuu.com/ippnw Bestellen unter: shop.ippnw.de
SEPTEMBER 8.9. Vernichtung durch Hunger: 872 Tage Belagerung Leningrads, Gedenkveranstaltung in Hamburg 18.9. Atommüllkonferenz, online: www.atommuellkonferenz.de 18.9. #HandinHand-Rettungskette für Menschenrechte, Ulm
Impulse für ein atomwaffenfreies Deutschland
OKTOBER 6.-10.10. Symposium: Atomkraft ist kein Klimaretter. Der strahlende Schatten über der Zukunft, Sulzberg
Nukleare Teilhabe beenden, nukleare Abschreckung delegitimieren! Die Gastbeiträge in dieser Broschüre argumentieren fundiert: Die nukleare Abschreckung muss überwunden werden – die wahrscheinlichen humanitären Folgen der nuklearen Abschreckung darf die Politik nicht länger in Kauf nehmen. 44 Seiten A4, Preis: 5,- Euro zzgl. Versand. Bestellen unter: shop.ippnw.de
9.10. Protesttag gegen das Atomkriegsmanöver „Steadfast Noon“ am Fliegerhorst Nörvenich 14.10. „Zivilgesellschaftliches Engagement in der Türkei“ (s. S. 11)
IPPNW-T-Shirt Zwei T-Shirt-Motive: „Atomwaffen sind verboten“ und „Abrüsten fürs Klima“ – aus fair gehandelter Biobaumwolle, verfügbar in den Unisex-Größen S, M, L, XL. Das Shirt ist hinten mit einem großen und vorne mit kleinen Brustaufdruck versehen. Stückpreis: 15,- Euro zzgl. Versand. Bestellen unter: shop.ippnw.de
G EPLANT
16.-17.10. We shall overcome! Gewaltfrei aktiv für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht – drei biographische Zugänge, Gammertingen 20. 10. Die Versorgung Geflüchteter in der ärztlichen/psychotherapeutischen Praxis, Stuttgart
NOVEMBER 30.11. Vortrag: Medizin im Nationalsozialismus, mit Dr. Till Bastian, Landsberg/Lech Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
Das nächste Heft erscheint im Dezember 2021. Das Schwerpunktthema ist:
Klima und Menschenrechte Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 168 / Dezember 2021 ist der 31. Oktober 2021. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die
enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete
Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer
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der Redaktion oder des Herausgebers. Nach-
Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika
drucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
Wilmen, Regine Ratke
Redaktionsschluss für das nächste Heft:
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31. Oktober 2021
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Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,
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ausprobieren!
atomwaffenabwaehlen.de Neue Aktionsseite: Fordern Sie Ihre Bundestagskandidat*in auf, das Atomwaffenverbot zu unterzeichnen.
G EFRAGT
6 Fragen an … Anya Göpfert
… Ärztin und Public-Health-Ausbilderin, Mitbegründerin des Netzwerks Health Declares Climate & Ecological Emergency
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Warum ist das Gesundheitssystem Teil des Klimaproblems? Das Gesundheitswesen trägt erheblich zum Klimawandel und zu Umweltschäden bei. Das Gesundheitswesen hat weltweit einen beträchtlichen CO2-Fußabdruck von rund zwei Gigatonnen, auch wenn dieser von Land zu Land unterschiedlich ist. In Ländern mit hohem Einkommen ist der CO2-Ausstoß im Gesundheitswesen tendenziell höher. Der größte Beitrag zum CO2-Ausstoß des Gesundheitswesens stammt häufig aus dem Beschaffungswesen, das heißt, dem Kauf von Waren und Dienstleistungen für die Gesundheitsversorgung. Auch Medikamente tragen in hohem Maße dazu bei, ebenso wie Reisen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung – zum Beispiel die Teilnahme an Terminen, Fahrten zur Arbeit usw.
Wie weit sind die Bemühungen um ein klimagerechtes Gesundheitssystem im Vereinigten Königreich gediehen? In Großbritannien tut sich derzeit eine Menge. Zum ersten Mal haben wir 2008 eine „Abteilung für nachhaltige Entwicklung eingerichtet“, die als kleines Team versucht, die Nachhaltigkeit des NHS (National Health System) zu verbessern. Seit 2019 ist die Sustainable Development Unit in „Greener NHS“ umbenannt worden – und jetzt gibt es das Ziel, bis 2045 das erste Netto-Null-Gesundheitssystem der Welt zu haben. Das ist eine riesige Agenda.
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Können Sie uns ein Beispiel für ein erfolgreiches Projekt im Gesundheitsystem nennen? Ein Beispiel ist das Projekt „Saving Lives with Solar“ am Uniklinikum North Midlands: Auf Initiative von Beschäftigten wurden inzwischen mehr als 1.000 Solarpaneele auf den Dächern von zwei Krankenhäusern in Betrieb genommen. Mit dem Geld, das das Krankenhaus bei der Stromrechnung spart, werden im Winter Haushalte aus der Kommune unterstützt, die kein Geld zum Heizen haben. Das Projekt im Wert von 335.600 Pfund wurde vollständig von Bürger*innen finanziert, die das Geld über einen Zeitraum von 20 Jahre zurückgezahlt bekommen.
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Und natürlich produziert das Gesundheitssystem viele Chemikalien und Stoffe, die die Umwelt belasten... Ja, zum Beispiel der enorme Plastikbedarf des Gesundheitswesens: Zwei Prozent der globalen Plastikproduktion entfallen derzeit auf Medizinplastik – dieser Anteil der steigt von Jahr zu Jahr. Oder die Verschmutzung durch Antibiotika: Bei einer britischen Studie, die weltweit 711 Flüsse untersucht hat, waren 65 Prozent der Flüsse mit Antbiotika kontaminiert (2019). Die UN warnt davor, dass Resistenzen gegen Medikamente in den kommenden 30 Jahren 10 Millionen von Menschenleben kosten könnten.
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Was können wir tun, damit sich etwas ändert? Wir müssen mehr nachfragen. Je öfter wir Menschen darauf ansprechen, warum sie etwas tun oder nicht tun, desto mehr werden sie darüber nachdenken. Als Student*in oder Berufseinsteiger*in ist vor allem das Stellen von Fragen eine der besten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen!
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Was sind die Grundsätze einer nachhaltigen Gesundheitsversorgung? Die Grundsätze der nachhaltigen Gesundheitsfürsorge bestehen darin, dass wir die Gesundheitsfürsorge in einer Weise erbringen, die die Ressourcen für künftige Generationen bewahrt. Im Wesentlichen wollen wir dafür sorgen, dass künftige Generationen ein gesundes Leben führen können und dennoch eine Gesundheitsversorgung erhalten.
Anya Göpfert gab im Juli 2021 ein Seminar bei der Global Health Summer School – den Bericht finden Sie auf S. 10f. im internen Teil.
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ANZEIGEN
Begegnungsfahrt Palästina / Israel 29. Mai – 9. Juni 2022
Information & Anmeldung: www.ippnw.de/bit/ begegnungsfahrt
jetzt neu!
Ronneburger
Strahlentelex Das Strahlentelex ist ein unabhängiges Informationsblatt des Kirchlichen Umweltkreises Ronneburg zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit.
Online-Version unter: ippnw.de/bit/telex
40 Jahre IPPNW Ärztliche Verantwortung für eine Welt in Frieden Kongress der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
17. – 19. Juni 2022 Stadttheater, Schlossergasse 381, 86899 Landsberg am Lech
Programm und Anmeldung: ippnw.de / bit / 40-jahre In Memoriam Karl Bonhoeffer | Horst-Eberhard Richter | Hans Peter Dürr
Die IPPNW soll größer werden... Deshalb haben wir eine Imagekampagne zur Bundestagswahl 2021 gestartet, um unsere Arbeit bekannter zu machen und unsere Forderungen zur Bundestagswahl in Öffentlichkeit und Politik zu tragen. Wir wollen wachsen und suchen Unterstützer*innen. Ziel ist es, neue Mitglieder, Förderer und Spender*innen zu gewinnen.
Dafür brauchen wir Ihre Hilfe: Werben Sie in Ihrem Kolleg*innen-, Freundes- und Bekanntenkreis für die IPPNW!
Nutzen Sie unsere Materialien: Faltblatt: Machen Sie mit! Informationen rund um die Themen der IPPNW, Möglichkeiten zu eigenem Engagement – kostenlos und praktisch zum Verteilen. Einfach gratis bestellen unter 030 6980740 oder shop.ippnw.de
Poster: Machen Sie uns sichtbar! Plakat (DIN A3) in Praxis, Krankenhaus oder zuhause aufhängen und damit für die IPPNW werben. Bei uns zu bestellen – oder selbst auszudrucken.
Mitgliederwerbung: Gewinnen Sie ein IPPNW-T-Shirt! Neue Mitglieder werben und an der Verlosung für ein IPPNW-T-Shirt mit dem Slogan „Abrüsten fürs Klima“ teilnehmen. Senden Sie einfach den Namen des neuen Mitgliedes per Mail an: demirkan@ippnw.de
Kontakt: IPPNW-Geschäftsstelle Tel.: 030 698074-0 kontakt@ippnw.de Körtestraße 10, 10967 Berlin
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