FRIEDEN
Ziviler Widerstand in Krisenzeiten IPPNW-Mitglieder „reisten“ online in die Türkei, um sich mit zivilgesellschaftlichen Initiativen auszutauschen
U
nsere diesjährige Türkeireise musste virtuell stattfinden. Im März und April konnten wir mit vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen sprechen, die wir sonst besucht hätten – unterstützt durch unsere Dolmetscherin Serra in Diyarbakir. Die Gespräche waren sehr intensiv. Die Gesprächspartner*innen hatten einen großen Mitteilungsbedarf. Sie ersticken unter staatlichen Repressionen, die sie mehr belasten als die Pandemiebeschränkungen. Es gibt nur wenig Kontakte ins europäische Ausland. Delegationen kommen nicht. Die Haltung der europäischen Regierungen, besonders der deutschen, enttäuscht sie sehr. Sie fühlen sich isoliert und im Stich gelassen. Trotzdem vermitteln sie ungebrochenen Mut und Resilienz, die uns immer wieder beeindrucken.
Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder werden syrische Menschen und Geschäfte vom nationalistischen Mob angegriffen. Die Nachricht von dem kurdischen Jungen in einer Großstadt in der WestTürkei, der von Nachbarn erschlagen wurde, weil er auf dem Balkon kurdische Musik gespielt hatte, schaffte es auch in die deutschen Medien.
V
iele Menschen fliehen vor Repression und existenzieller Bedrohung nach Europa, oft nach Deutschland, wo sie Verwandte haben. Nach der Asylgeschäftsstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom März 2021 ist die Türkei nach Syrien, Afghanistan und Iran auf Platz vier der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote von Januar bis März lag bei 31,3 Prozent. Aus der Statistik geht nicht hervor, wie viele der Asylsuchenden Kurd*innen aus dem Südosten sind. Wenn man Anhörungsprotokolle liest, hat man den Eindruck, dass viele Anhörer*innen und Richter*innen in Deutschland Kurd*innen unter den Generalverdacht des Terrorismus stellen und ihre Asylanträge ablehnen.
Neben der Pandemie, die ähnliche Probleme verursacht wie bei uns, steht vor allem die zunehmende Armut im Vordergrund. Der informelle Arbeitssektor ist fast völlig zum Erliegen gekommen, worunter besonders Frauen und Kinder zu leiden haben. Die Schulen waren ein Jahr lang nahezu vollständig geschlossen, Online-Unterricht ist für die meisten Kinder in den beengten Wohnverhältnissen und ohne technische Ausrüstung nicht möglich. Zunächst wurde in der Türkei mit dem chinesischen Impfstoff Sinuvac geimpft. Die Impfbereitschaft war gering, auch weil die Bevölkerung im Südosten der Regierung nicht traut. Insbesondere unsere ärztlichen Kolleg*innen hatten Zweifel an den von der Regierung veröffentlichten Corona-Zahlen: Fast in jeder Familie gab es Erkrankte oder sogar Tote. Das Gesundheitspersonal war besonders stark betroffen. Wenn Ärztinnen und Ärzte eigene Zahlen veröffentlicht oder Informationsmaterial verteilt haben, wurden sie strafrechtlich verfolgt.
Als Gegengewicht zu den innenpolitischen Problemen, versucht die Regierung Erdogan, eine Vormachtstellung in der Region zu erkämpfen – mit völkerrechtswidrigen militärischen Einmärschen in Syrien und im Nordirak und jetzt auch mit Versuchen, sich in Afghanistan zu etablieren. Die Bundesregierung steht „in Treue fest“ zum Verbündeten Türkei. Mehr als gelegentliche Betroffenheit ist nicht zu vernehmen. Zu groß ist die Angst vor neuen Flüchtlingsströmen nach Europa. Man scheint zu glauben, dass man den rechten Strömungen hier nur so Paroli bieten könne. Ein Irrglaube, wie ich meine. Nur eine konsequente Menschenrechtspolitik und ein klares Bekenntnis zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen können hier zum Erfolg führen. Die ständige Beschwörung der westlichen Wertegemeinschaft ohne entsprechendes Handeln ist unerträglich.
D
ie Wirtschaftskrise und die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungsteile haben dazu geführt, dass die Regierung Erdogan ihren Rückhalt verliert. Das führt zu immer absurderen Verfolgungsmaßnahmen jeglicher Opposition. Vor einigen Wochen konnte man in der Zeitung lesen, dass selbst für die verheerenden Brände am Mittelmeer die PKK verantwortlich gemacht wurde. Die Wirtschaftskrise führt auch zu einer zunehmenden 10