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3. St.Galler Blaulichtkonferenz 2024
from Blaulicht 6/2025
by IV Group
Führen und Entscheiden in Extremsituationen
Am 7. November fand die 3. St.Galler Blaulichtkonferenz statt. In der Keynote beleuchtete Egmont Roozenbeek, Experte für Führung und zwölf Jahre Offizier bei der Militärpolizei mit Auslandsaufenthalten in Afghanistan, wie Führung in Extremlagen funktioniert und was dafür nötig ist.
«Führen ist ein Privileg – und etwas, das man lernen muss.» Mit diesen Worten beginnt KeynoteSpeaker Egmont Roozenbeek seinen Vortrag vor den rund 80 Angehörigen diverser Blaulichtorganisationen aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Luxemburg, welche am 7. November 2024 zur 3. St.Galler Blaulichtkonferenz angereist sind. Danach nimmt er sie mit auf eine Reise. Unterwegs im Auto. Begleitet von Freunden, im eigenen Fahrzeug und in vier weiteren. Auf eine Fahrt durch eine sonnendurchflutete, malerische Landschaft. Im Blick: schneebedeckte Berge, auf denen man jetzt gerne Ski fahren würde. In den Fahrzeugen: entspannte Stimmung, Musik, hier und da ein bisschen Träumerei.
Doch plötzlich: BUMM! Eine verheerende Explosion durchbricht und zerstört in Sekundenbruchteilen die trügerische Idylle. Das erste von fünf Fahrzeugen des Konvois, deren Insassen nicht zum Skifahren unterwegs sind, sondern sich auf Patrouille in Afghanistan befinden, ist auf eine Mine gefahren. Es ist stark zerstört, zwei der Insassen sind schwer verletzt. Die Frontscheibe des eigenen Fahrzeugs wird im Sekundentakt von einschlagenden Projektilen getroffen – peng, peng, peng, peng!
«Wir haben jetzt zwei Alternativen», ruft Roozenbeek. «Absitzen, den Feind bekämpfen und versuchen, die beiden verletzten Kameraden zu retten. Oder sitzen bleiben, hoffen, dass die Panzerung des Fahrzeugs dem Beschuss standhält, und auf Verstärkung warten.» Dann fordert er die Zuhörer auf: «Entscheiden Sie sich – jetzt, innerhalb der nächsten drei Sekunden!»
Auf die Frage, wer wie entschieden hat, strecken nur wenige Zuhörer einen Arm empor. Der Rest: schockiert, gedanklich wie gelähmt, unfähig, eine Entscheidung zu fällen.
Führen heisst entscheiden!
«Das ist sehr typisch», sagt Roozenbeek. «In Extremsituationen zu erstarren, zu lange nachzudenken, ist natürlich und verständlich. Aber in einer Extremlage falsch und fatal. Führen heisst entscheiden! Schnell, unter hohem psychischen Druck, in einer hochkomplexen Situation und ohne Kenntnis zahlreicher wichtiger Details. «Dann geht es nur um Sinnstiftung für den Augenblick», doziert Roozenbeek. «Ob ein getroffener Entscheid richtig oder falsch ist, entscheiden Schicksal, Glück und später meist Menschen, die nicht dabei waren und sich noch nie ein einer vergleichbaren Situation befunden haben.»
Damit ein sinnstiftender Entscheid möglich werde, brauche es eine hochqualitative Ausbildung – und die richtigen Strukturen, sagt Roozenbeek: «Man muss bereit dafür sein, zu entscheiden. Man muss dafür ausgebildet worden sein. Und man muss entscheiden dürfen!» Das aber sei oft ein Problem, sagt er und verweist auf die «Pyramide der Inkompetenz». Diese besagt: Die Mitarbeiter einer Organisation kennen 100 Prozent der bestehenden Probleme. Aber sie dürfen nicht entscheiden. Das Topmanagement kennt nur 4 Prozent der Probleme – fällt aber die wegweisenden Entscheidungen. «Diese Diskrepanz ist fatal», sagt Roozenbeek. Daher sei es gerade auch für Blaulichtorganisationen eminent, dass die Chefs und die Kommandanten das Tagesgeschäft kennen, mit den Mitarbeitenden reden. Nur so erhalten sie Kenntnis davon, wo der Schuh drückt, und können fundierte Entscheide treffen, um Missstände zu ändern und Herausforderungen zu meistern.
Führen benötigt Wissen, Mut – und Ausbildung
«Der grösste Fehler ist, Angst zu haben, Fehler zu machen!», erklärt Roozenbeek im Anschluss. Dafür seien zwei Dinge wichtig: eine gute Ausbildung und Mut. «Man muss entscheiden, in verschiedensten Situationen, üben, reflektieren und die passenden Lehren ziehen. So gelangt man zu Problemlösungskompetenz.» Zudem sei eine gute Teamkultur entscheidend – und für diese wiederum brauche es offene und gute Kommunikation. «Man muss das schwächste Glied in der Kette stärken und die Starken in ihren Stärken bestätigen. Zudem sollte man niemals etwas verlangen, das man selbst nicht zu tun bereit oder in der Lage wäre», so Roozenbeek.
Dazu unabdingbar sei die Fähigkeit, nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst führen zu können – wozu vier Dinge wichtig seien: erstens, so zu trainieren, wie man kämpft (train as you fight). Denn je realistischer eine Vorbereitung sei, umso besser könne man das Erlernte in der Realität umsetzen. Zweitens, der Mut, durch die Angst zu gehen, um sie zu besiegen. «Wer immer in der Komfortzone bleibt, sich nicht getraut, Neues zu wagen, aus Angst, es könnte nicht klappen, wird sich niemals weiterentwickeln», ist Roozenbeek überzeugt. Wer das englische Wort für Angst «Fear» mit «Forget everything and run» gleichsetzt, wird scheitern. Wer aber sagt «Fear» steht für «Face everything and rise», wird mit jeder neuen Herausforderung, mit jeder Entscheidung, die er trifft, wachsen – und entwickelt sich letztlich zu einer guten Führungskraft», so Roozenbeek.
Keine Angst und klare Ziele
Der dritte wichtige Punkt sei es, stets ein klares Ziel vor Augen zu haben. So habe der erste Mensch mit DownSyndrom, der den Iron Man of Hawaii bewältigt habe, nur ein einziges Ziel gehabt: bei jedem Training ein Prozent mehr Leistung zu bringen als beim letzten Mal. «Es dauerte fünf Jahre – aber er hat es geschafft», erklärt Roozenbeek.
Und wie endete die zu Anfang geschilderte Geschichte in Afghanistan? «Glücklich», bestätigt Roozenbeek. «Der Führer entschied sich dazu, seine Leute von den Fahrzeugen absitzen zu lassen und den Kampf mit den Angreifern aufzunehmen – auch auf die Gefahr hin, dass dabei weitere Soldaten verletzt oder gar getötet werden. Unterstützung erhielten sie durch ein in Kampfhelikoptern herbeieilendes US Team, welches ihnen Feuerunterstützung gab und auch die beiden Schwerverletzten rettete. Am Ende kamen alle mit dem Leben davon.»
Ein Ende, das bestätigt, was Roozenbeek, der zu den Top 100 Trainern in Deutschland gehört, ganz zu Anfang sagte. «Führen in schwierigen Lagen bedingt den Mut, zu entscheiden – und das Glück, dass die getroffene Entscheidung zu einem guten Ende führt.
Trainieren, im Terrorfall richtig zu handeln
Im Rahmen der 3. St.Galler Blaulichtkonferenz berichteten Patrick Stauch und Yves Massard von der Police Grand-Ducale, wie in Luxemburg die riesige Terroreinsatzübung «Vigilnat» geplant und durchgeführt wurde und welche Lehren sich daraus ergaben.
Die am 19. Januar 2019 auf Initiative der luxemburgischen Regierung abgehaltene Terroreinsatzübung «Vigilnat» (Vigilance nationale) war ein Mammutprojekt. Mit mehr als 1’800 Teilnehmern, darunter 1’200 Statisten und 600 Angehörige von Polizei und Rettung, wurde nach neunmonatiger Planung simuliert, was geschieht, wenn fünf bewaffnete Terroristen die Besucher eines Konzerts attackieren, Dutzende töten und verletzen – und letztlich 25 Geiseln nehmen.
Als Referenten waren Patrick Strauch, Commisaire en chef bei der Police GandDucale und seit 2023 Stv. Abteilungsleiter bei Unité de Garde et d’Appui Opérationnel – Service Opération et Administration, und Yves Massard, einst Einsatzbeamter bei der Spezialeinheit der Polizei Luxemburg und seit 2017 Einsatztrainer an der Polizeischule sowie Einsatztrainer für die Fort und Ausbildung der Luxemburger Polizei, nach St.Gallen gereist. Was sie in zwei Stunden zeigten, illustrierten und analysierten, war bemerkenswert.
Übungsort
Als Übungsort wurde – in Anlehnung an die Terrorattacken vom November 2015 in Paris, als Terroristen an mehreren Orten der französischen Hauptstadt 130 Menschen töteten, darunter 90 in der Konzerthalle Bataclan – die «Rockhal» in Esch/Alzette auserkoren. Diese Konzerthalle, direkt am Bahnhof gelegen, ist hoch frequentiert und Ort zahlreicher Veranstaltungen. Sie bietet Platz für bis zu 6’500 Gäste, hat einen grossen Saal mit rund 2’600 Quadratmetern sowie zahlreiche kleinere Säle, Probenräume, ein Café, eine VIPLounge samt Galerie sowie ein Labyrinth von quasi nicht kontrollierbaren Gängen, Fluren, Neben und Kellerräumen.
Das Gebäude befindet sich auf dem Areal eines ehemaligen Industriekomplexes, neben einem alten Stahlwerk. Hinten grenzt es an die Bahngeleise, Hochspannungsleitungen inklusive, weshalb es von dort nicht betreten werden kann. Vor dem Eingang auf der gegenüberliegenden Seite erstreckt sich ein riesiger freier Platz, der keinerlei Deckung bietet. Rund um die Rockhal befinden sich die Universität, Wohngebäude, Einkaufszentren, der Bahnhof, eine Grossbank –und in etwa fünf Kilometer Entfernung das Centre Hospitalier Emile Mayrisch. Dieses testete im Rahmen der Übung seine Notfallpläne, wobei eine Besonderheit ist, dass in Luxemburg im Hospital keine Festangestellten, sondern nur Belegärzte arbeiten. Und diese haben an einem Samstag, an dem die Übung abgehalten wurde, normalerweise dienstfrei.
Planung
Die Grossübung verfolgte diverse Ziele. So sollte die Kooperation von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten ebenso geprüft werden wie das digitale RENITAFunknetz, welches an diesem Tag unter Volllast laufen musste. Die TriagePläne im Fall eines Massenanfalls von verletzten (MANV) sollten überprüft und zentrale Handlungen wie Notversorgung, Einrichten einer Verletztensammelstelle, Abtransport der Opfer und Absicherung der Verkehrsknotenpunkte durchgespielt werden. Des Weiteren sollten die Befehlsketten innerhalb der Luxemburger BORS, aber auch deren Zusammenarbeit mit Organisationen der Nachbarländer Frankreich und Belgien evaluiert und die Leistungsfähigkeit der Einsatzleitzentrale sollte getestet werden.
Die Vorbereitungen für die Übung dauerten neun Monate, wobei drei Gruppen (Szenario, Logistik und Medien) zunächst individuell agierten und erst am Ende der Vorbereitungen zu zwei gemeinsamen Meetings zusammenfanden.
Einen Hauptteil der Vorbereitungen für die Statisten erledigten die Berufsfeuerwehr und die Sanität. Sie erstellten für jede der rund 1’200 Personen, die als «Konzertgäste» agierten, eine «Verletzungskarte» sowie eine detaillierte Rolle. «Diese beinhaltete unter anderem, ob und wie schwer eine Person verletzt wird, ob sie selbstständig fliehen kann, ob sie sich in oder ausserhalb des Gebäudes versteckt oder auch ob sie mithilfe privater Dritter ins Spital gelangen kann. Zudem war klar definiert, wie sich ihr Zustand verändert –abhängig davon, ob respektive wann sie gefunden wird und ab wann und wie sie medizinisch behandelt wird», erklärte Patrick Strauch.
Szenario
Am Tag der Übung legte ein echter DJ in der Rockhal Musik für die 1’200 Statisten auf. Diese feierten, wie es an Samstagen üblich ist – und kamen dabei so in Wallung, dass fast alle ihre Jacken an der Garderobe abgaben, was sich später noch als Problem herausstellen sollte.
Mitten in die Party stürmten dann fünf von Angehörigen der Spezialeinheit der Luxemburger Polizei gespielte «Terroristen». Einer von ihnen sprengte sich auf dem Vorplatz in die Luft. Dabei riss er zahlreiche Personen mit in den Tod, während andere mehr oder minder schwer verletzt zurückblieben. Die anderen vier Angreifer stürmten die Rockhal, feuerten im Konzertsaal um sich, eroberten deren Galerie, erlangten damit die Hoheit über den darunter befindlichen Saal und richteten ein Massaker unter den Konzertbesuchern an. Zudem eröffneten sie auch das Feuer auf die anrückenden Sicherheits und Rettungskräfte und nahmen letztlich noch 25 Menschen als Geiseln.
Resultate
Die Übung offenbarte sowohl bestehende Stärken als auch bedenkliche Schwächen. So wurden gleich zu Beginn acht von zehn Polizisten, welche auf den ungedeckten Vorplatz der Rockhal fuhren, innert Sekunden «getötet», weil sie sich dem Feuer der Terroristen ungeschützt entgegenstellten. Wenig später stellte das erste Team der herbeigerufenen Spezialeinheiten seinen gepanzerten BMW X5 kurzerhand quer in einer der wenigen Zufahrtsstrassen ab, verriegelte das Fahrzeug und nahm die Schlüssel mit. Da just jener der Männer, der die Schlüssel mit sich führte, später als Geisel genommen wurde, versperrte der quer gestellte SUV stundenlang einen wichtigen Rettungsweg.
Ein weiteres Hindernis waren Türen im Gebäude, die von aussen nur mit Magnetkarten geöffnet werden können – auf welche niemand der BORS Zugriff hatte. Zudem übten sich einige Polizisten im «Ordnungsdienst» – aus Furcht, das Gebäude zu betreten. So konnten die «Terroristen» dieses wesentlich länger halten, was den Einsatz der Rettungsdienstkräfte massiv verzögerte. «Es gab zu keiner Zeit einen Funkspruch, der bestätigt hätte, dass das Gebäude gesichert ist», bemängelt Patrick Strauch.
So warteten die Rettungskräfte, die in Windeseile vier aufblasbare Zelte errichtet und getrennte Sammelplätze für Unverletzte und Verletzte eingerichtet hatten, viel zu lange darauf, endlich zu den Verletzten ins Gebäude vordringen zu können.
Zwei unplanmässige Probleme erschwerten die Situation zusätzlich. Erstens platzierten Einsatzkräfte der Sondereinheit auf eigene Faust eine «Bombe» bei einem Patienten. Die Folge: Es konnte keine sichere Rettungsgasse etabliert werden. Stattdessen mussten Verletzte einzeln gerettet werden – mithilfe eines gepanzerten Fahrzeugs, das wiederholt in die Halle hinein und wieder herausfahren musste. Das zweite Problem war ein «verletzter» Angehöriger der Sondereinheit, der inklusive all seiner Waffen ins Spital eingeliefert wurde. Weil dort niemand wusste, wohin mit der sensiblen Ausrüstung, wurde diese einfach in ein Zimmer verfrachtet, welches danach abgeschlossen wurde. «Zwischenzeitlich gibt es auch für diesen Fall klare Handlungsanweisungen im Notfallplan des Krankenhauses», sagt Patrick Strauch.
Positiv zu werten war, dass das RENITASystem wie gewünscht funktionierte, die Kommunikation zwischen Polizei und Rettung rasch und koordiniert funktionierte und 110 Belegärzte und Krankenhausmitarbeitende trotz ihres freien Tags einrückten. «Innert 15 Minuten war die Garage des Spitals in ein Notlazarett umgewandelt, alle zehn OP Säle waren betriebsbereit und rund eine Stunde nach Eingang des ersten Notrufs war das Spital operationell voll einsatzfähig», erklärt Patrick Strauch. Allerdings dauerte es dann rund zwei Stunden, ehe die ersten Verletzten tatsächlich ins Spital gelangten. «Das war einerseits der Tatsache geschuldet, dass die Polizei sehr lange brauchte, um die Herrschaft in der Rockhal übernehmen zu können. Andererseits standen die Rettungswagen anfänglich in Reih und Glied in einer engen Seitenstrasse und konnten so nur schlecht wieder wegfahren», sagt Patrick Strauch.
Lehren für die Zukunft
Basierend auf den Resultaten der Übung wurden diverse Lehren gezogen: Die Sicherheitsposten müssen drei statt nur zwei Mann umfassen. Fahrzeuge müssen im Ernstfall intelligenter eingewiesen werden – in einer sicheren Zone und so, dass keine Zu und Abfahrtswege blockiert werden können. Die Einsatzkräfte benötigen Schlüssel respektive Magnetkarten für sämtliche Türen eines Gebäudes und es muss gelingen, schnell und effizient eine zentrale Einsatzleitzentrale zu errichten, für welche allerdings zunächst eine neue, leistungsstärkere Software für Krisenmanagement beschafft werden muss (was zwischenzeitlich geschehen ist). Zudem, so Strauch, müsse sichergestellt werden, dass die Mitarbeitenden der Callcenter unnötig lange Telefonate, die keine neuen Erkenntnisse zur Lage bringen, abbrechen können. Und auch die Kommunikation innerhalb der BORSKräfte müsse optimiert werden. «Die Funksprüche der Täter waren knapp, kurz und sehr präzise. Jene der Einsatzkräfte länger, bisweilen unklar und missverständlich. Daher müssen wir daran arbeiten, die Kommunikation und die Koordination unserer Kräfte nachhaltig zu verbessern», sagt Patrick Strauch.
Darüber hinaus will er sich für drei Dinge einsetzen: dafür, dass die Sicherheitstüren der Rockhal, die sich nach dem Alarm automatisch öffneten, wodurch die Statisten, die zuvor beim Tanzen geschwitzt hatten, der Januarkälte über Stunden schutzlos ausgeliefert waren, manuell geschlossen werden können. Dafür, dass es keinen 45 minütigen Unterbruch mehr geben wird, nur damit Minister und VIPs die Szenerie begutachten können. Und dass die Polizisten endlich neue, bessere Helme erhalten werden (worauf sie weiterhin warten).
Auch wurde klar, dass selbst im Fall einer Übung stets genügend psychologisch geschulte Fachkräfte vor Ort sein müssen. «Nicht wenige der Statisten benötigten am Ende der Übung psychologischen Beistand», sagt Patrick Strauch. «Einige, weil sie aufgrund der Tatsache, dass ihnen niemand zu Hilfe kam respektive sie in ihrem Versteck zu spät aufgefunden wurden, wären. Andere, weil sie sich so in die Übungssituation hineinlebten, dass sie während der Übung oder effektive Panik und Angstzustände beklagten.»
So schlimm dies natürlich für die Betroffenen war, so zeigt es doch auch: Die in Luxemburg auf die Beine gestellte Grossübung war extrem realitätsnah und bildete die bei einem Terrorakt ablaufenden Prozesse und Geschehnisse mit schonungsloser Akkuratesse ab. Was wiederum für den gewollten «train as you fight»Ansatz unabdingbar ist.
Der «Green Manikin» als Sparingspartner
Im Rahmen der 3. St.Galler Blaulichtkonferenz wurde «MED1stMR» vorgestellt, ein mit EU-Geldern finanziertes Forschungsprojekt zur Entwicklung eines Mixed-Reality-Trainingssystems für medizinische Ersthelfer. Zudem lag der Prototyp des «Green Manikin», einer neuartigen MR-VR-Übungspuppe, vor Ort zum Anschauen parat.
Jakob Carl Uhl ist Psychologe mit Spezialisierung auf Arbeits und Organisationspsychologie und Forscher für neue Technologien wie beispielsweise Tangible Extended Reality (XR) für Trainingszwecke in herausfordernden Berufen. Am Center for Technology Experience beschäftigt er sich mit der Entwicklung und Erforschung neuer Technologien – und war auch am «Med1stMR» Pr ojekt beteiligt, bei dem es darum geht, neue Trainingssysteme für medizinische Ersthelfer zu entwickeln, basierend auf virtuellen und MixedReality Umgebungen.
«Rettungskräfte brauchen künftig neue, bessere Trainingsmöglichkeiten. Denn die Zahl der Einsätze steigt, während die Verfügbarkeit der Fachpersonen schwindet», erklärte Uhl in St.Gallen. Zu diesem Zweck erforschte er im «MED1stMR» Pr ojekt während der vergangenen drei Jahre, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen sich virtuelle Umgebungen (VR) respektive Umgebungen mit Kombinationen aus reellem und virtuellem Erleben (Mixed Reality, MR) für die Aus und Weiterbildung von medizinischen Ersthelfern eignen. Dabei fokussierte sein Team insbesondere auf ein möglichst effizientes Training der Triage im Fall eines Massenanfalls von Verletzten (MANV).
«Wir setzten dabei auf eine Kombination einer Trainingspuppe, dem Manekin, und am Körper getragenen Wearables sowie einer VRBr ille, welche die Trainingspersonen in eine möglichst reale Einsatzsituation hineinversetzt», schildert Uhl. Zusätzlich wurden die Probanden mit Biosignalsensoren ausgerüstet, welche die Herzschlagrate und die Schweissbildung am Rücken messen, woraus sich der aktuelle Stresslevel der Trainierenden bestimmen lässt. «Dies war wichtig, damit der Trainingsleiter das Training respektive das Szenario gezielt steuern kann», erklärt Uhl.
Seiner Ansicht nach hat das bis heute praktizierte rein reelle Training zwei wesentliche Schwachpunkte: Es ist nicht besonders realistisch und Grossübungen (MANV) sind extrem ressourcenintensiv und teuer. «Entsprechend finden nur wenige Trainings statt, bei denen zudem nur ein eng gestecktes Portfolio potenzieller Verletzungsvariationen abgebildet werden kann. Der Stress der Probanden wird nicht berücksichtigt und meist ist das Debriefing eher schlecht», kritisiert der Experte.
VR-Trainings indes sind kostengünstiger möglich, lassen mehr Spielraum bei der Wahl des Szenarios und erlauben dank der Aufzeichnung des gesamten Trainings ein wesentlich intensiveres Debriefing. Dennoch sind sie für Uhl nicht das Mittel der Wahl. «Für die Ausbildung von LkwFahrern sind VRTr ainings im Übungscockpit auf virtuellen Strassen als Ergänzungstraining sicher nicht schlecht. Doch reines VRTr aining vernachlässigt komplett die Haptik – und diese ist gerade für medizinische Ersthelfer enorm wichtig. Weil deren Hände für diese mit die wichtigsten und sensibelsten Instrumenten im Einsatz darstellen.»
Daher kombinierten Uhl und sein Team die ManikinTr ainingspuppe ADAMX mit einem VRSystem der Schweizer Spezialistin Refense sowie mit Biosignalsensoren zur Stresserfassung, einer externen Szenario Steuerung und banden alles in ein Multi-User-System ein.
«Wir entwickelten zwei Szenarien, darunter ein Unfall in einem Tunnel mit rund 20 Verletzten. Die Aufgabe der vier trainierenden Rettungskräfte war es, die Situation zu beurteilen und eine sinnvolle Triage vorzunehmen», erläutert Uhl. Dabei konnte das Szenario stressbasiert gesteuert werden – und es fand jeweils ein detailliertes Debriefing statt, in welches unter anderem die Bewegungsdaten und alle auf Video gebannten Aktionen der Trainierenden eingebunden wurden.
Dabei hat sich gezeigt: Mixed Re ality Tr ainings haben grosses Potenzial, sind aber auch mit Herausforderungen verbunden, insbesondere hinsichtlich Kommunikation, einer realistischen Interaktion der Trainierenden sowie bezüglich der Integration in die Trainingspläne und auch der Akzeptanz seitens der Trainierenden. Diese bemängelten vor allem, dass sie ihre Hände beim Training nicht sehen und aufgrund der Wearables auch nicht wie gewohnt einsetzen können.
Aus diesem Grund entwickelte Uhls Team den Manikin weiter. «Wir haben die Puppe grün eingefärbt und platzieren diese auf einer Bahre vor einer Green Wall», erklärt er. So können wir die Puppe mit virtuellen Bildern überblenden, beispielsweise Aufnahmen einer echten Patientin in einem GrossraumRT W einspielen. Parallel filmen wir mithilfe von zwei Kameras die Hände der Trainierenden – und überlagern diese Bilder ebenfalls in Echtzeit in die Projektion der VRBrille. So arbeiten die Trainierenden mit einer Puppe, die zugleich ein haptischer als auch ein virtueller Patient ist. Die Trainierenden sehen ihre Hände, können mit diesen ganz normal fühlen und entsprechend fast wie gewohnt agieren.»
Zusätzlich können auch echte (mit einem QR Code markierte) Geräte wie beispielsweise ein Stethoskop im Training verwendet werden – und die Puppe kann dank Chat GPT 3.5 Fragen beantworten. Etwa, ob sie sich erinnern kann, was passiert ist, wie sie sich fühlt, wie gross ihre Schmerzen sind. «Kombiniert wird das Ganze künftig mit einer KILösung, welche anhand der erfassten Biosignale zur Stressmessung das Übungsszenario anpassen soll», erklärt Uhl.
Im Anschluss an seinen Vortrag konnten die Kongressgäste den aktuell noch im Prototypenstatus befindlichen «Green Manikin» live bestaunen – und wer wollte, konnte sich die VRBrille überstülpen und sich ein höchst reales Bild davon machen, wie ein künftiges MRTr aining für medizinische Ersthelfer aussehen könnte.
In absehbarer Zukunft soll das «Green Manikin» System zur Serientauglichkeit reifen und zudem leichter transportabel werden – womit für Rettungsorganisationen die Möglichkeit geschaffen werden soll, zu vertretbaren Kosten Vor Or tMRTrainings für medizinische Ersthelfer zu absolvieren.
Vertiefte Informationen zum MED1stMRPr ojekt finden Interessierte auf: www.med1stmr.eu