INHALT
KUNST FÜR
KINDER
PANORAMA
Margaret Raspé
Das Haus am Waldsee feiert eine Nachbarin 10
Blickfang
Tipp, tipp: Ruth Wolf-Rehfeldts Schreibmaschinenbilder hängen im Minsk
Geh doch nach …
Britz – auf dem Gutshof lässt sich auch gut essen
11
Momentaufnahme
12
Portale, Preise, Personalien
Neues aus den Institutionen
14
Kolumne
Was das Lieferkettengesetz für die Kultur bedeutet
Neue Bücher
Von Sitte bis Vermeer
16
Tagesreise nach Dresden
Womit das Hygiene-Museum glücklich macht
BENINBRONZEN 20
DISKURS Benin-Bronzen
20
Rückgabe hat begonnen Status Quo nach der Restitution an Nigeria
22 Blutbronzen aus dem Sklavenhandel Ein Meinungsbeitrag von Deadria Farmer-Paellmann
ACHIM BONTE 26
COVER HUGO VAN
DER GOES S. 44
FOKUS Bibliotheken
26
Kontakthof
Wie Achim Bonte Deutschlands größte Bibliothek in die Zukunft führt
29
Stabi Kulturwerk
Viel mehr als ein Bibliotheksmuseum
30
Wink des Himmels
In der Kunstbibliothek wurden Ufos gesichtet
32
Mehr als die Summe ihrer Bücher
Neues aus den Berliner Bibliotheken
Stabi-Direktor Achim Bonte im Kulturwerk Der Thronhocker des Oba Eresoyen wird für die Reise verpackt Hugo van der Goes oder Umkreis, »Bildnis eines Mannes«, um 1475/80AUSSTELLUNGEN
58
Schatzkammer
Zentralasiens
Im Neuen Museum sind usbekische Kostbarkeiten zu bewundern
60
Krisenstimmung
36 Secessionen
Die Alte Nationalgalerie präsentiert ein Trio der Moderne 40 Bauwesen
Über Architektur und Stadtplanung im Nationalsozialismus klärt die Akademie der Künste auf
42
Natürlich unnatürlich
Die Berlinische Galerie lockt in Julius von Bismarcks trügerisches Idyll
43
Großbauten
in der Berlinischen Galerie
Paul Jaray
im Kunsthaus Dahlem
Thomas Brummett
in der Alfred Ehrhardt Stiftung
44 Gespür für Monumentalität
Der Altniederländer Hugo van der Goes erobert die Gemäldegalerie
48
Ikone der Moderne
Warum Tilla Durieux nicht nur auf der Bühne begeisterte, sondern auch das Georg-Kolbe-Museum
51 Holocaust
Das Museum für Fotografie dokumentiert die Tragödie des jüdischen Volkes
52
Porträtfotografie
Wie June Newton Alice Springs wurde, kann man in der Helmut Newton Stiftung erfahren 54
Slowenische Kulturtage
Honig naschen im Museum Europäischer Kulturen
55
Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie
Liebermann-Fotografien in seiner Villa am Wannsee Ukrainische Gegenwartskunst im Bode-Museum
56 Gut gezupft
Das Musikinstrumenten-Museum spielt die Mandoline
Wie sich Isaac Julien der Zeitgeschichte nähert, zeigt das PalaisPopulaire
62
Indische Musik in Bildern
Das Pergamonmuseum bietet eine synästhetische Erfahrung
64
Australien
Daniel Boyd erzählt die Geschichten seines Landes im Gropius Bau
TILLA DURIEUX 48
76 Monogramm AD Wie eine Dürer-Sammlung herausragend wurde, zeigt das Kupferstichkabinett
79 Wider das Vergessen Über einen Gedenkort für NS-Zwangsarbeit
80
Wie sich der Hamburger Bahnhof jetzt in Berlin verortet
82
Jak R. Maier
Das Bauhaus-Archiv freut sich über eine Schenkung
84 Düppel
Im Museumsdorf lebt die Teilhabe
86 Galvanoplastik
Warum das Schloss Köpenick unter Strom steht
88 Chinareise
Das Gustav Seitz Museum blättert im Reisetagebuch
Die Tchoban-Foundation zeigt seit zehn Jahren Architekturzeichnungen 92 Grafiksammlung
Im Stadtmuseum kann man Berlin jetzt neu erleben
Alles nur ein Spiel?
Das Kapital dringt in jede noch so kleine Nische des Planeten. Selbst die Finanzkrise von 2008 änderte daran wenig. ISAAC JULIEN
New York City, 2008: Wenn wir uns an die Banken- und Finanzkrise erinnern, denken wir auch in Bildern. Wir haben etwa Banker vor Augen, die aus den Bürotürmen Manhattans Umzugskartons auf die Gehwege tragen. Diese Bilder gingen um die Welt und haben Einzug in unser kollektives Bildgedächtnis gehalten. Sie illustrieren den dramaturgischen Höhepunkt einer Krise – den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers –, ohne jedoch Rückschlüsse auf Ursachen, Verlauf oder Auswirkungen zuzulassen.
Sechs Jahre nach dieser globalen Krise beleuchtete der britische Künstler und Filmemacher Isaac Julien mit »Playtime« das von der Finanzindustrie maßgeblich beeinflusste kapitalistische System. Julien widmete sich in diesem Film einer grundlegenden Frage: Wie kann Kapital visualisiert werden? Es hat zwar Auswirkungen auf nahezu alle Menschen und den Planeten selbst, doch scheint es sich jeder Möglichkeit einer expliziten Darstellung zu entziehen. Mit »Playtime« unternahm Isaac Julien den Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen und Bilder zu erzeugen, die sich maßgeblich von jenen unterscheiden, die wir aus Zeitungen, Magazinen und dem Internet kennen.
In fünf Szenenkomplexen begegnen wir sieben Protagonisten, deren berufliche oder private Existenz von den Wirkmächten des Kapitals beeinflusst wird oder die diese für ihre Zwecke geschickt einzusetzen verstehen. Sämtliche Charaktere im Film beruhen auf realen Personen, die Isaac Julien persönlich bekannt sind. Nach dreijähriger Ausarbeitung der Dialoge und intensiver Recherchearbeit entwickelte der Künstler aus ihren Geschichten repräsentative Figuren für seine Erzählstränge.
Es sind – in der Reihenfolge ihres Auftretens – zwei Hedgefonds-Manager, ein Künstler, ein Kunsthändler, eine Journalistin, ein Auktionator und eine Hausangestellte.
Die Figuren verdeutlichen, dass Julien auch seine eigene Branche, den Kunstbetrieb, in die Betrachtung einbezieht. Während der Künstler filmisch die ästhetischen Dimensionen von Kunst auslotet, thematisieren der Auktionator Simon de Pury, der sich selbst spielt, und der von James Franco verkörperte Kunsthändler die wirtschaftlichen Aspekte der Kunstwelt. In einem lebhaften ironischen Monolog berichtet der Händler über die unglaublichen Wertzuwächse der zeitgenössischen Kunst in den vergangenen Jahren und gesteht, dass sich Finanz- und Kunstmarkt immer mehr anglichen. Ähnlich leidenschaftlich enthüllt de Pury in einem Interview die psychologischen Aspekte des Auktionswesens und die Mechanismen seines Geschäfts. Seine Gesprächspartnerin, eine chinesische Journalistin, gespielt von Maggie Cheung, lauscht gespannt seinen Ausführungen. Mit ihrem Videobeitrag möchte sie wohl das stetig wachsende Interesse ihres heimischen Publikums an der Gegenwartskunst bedienen.
Der tragische Held in »Playtime« ist der Künstler, dargestellt von Ingvar Eggert Sigurðsson. Sein Auftritt ist jedoch vordergründig eher mit der Finanzkrise als mit der Kunstwelt verknüpft.
Sein Traum, ein großzügiges, modernes Haus zu bewohnen, platzte, nachdem er seine Kredite nicht mehr bedienen konnte. Letztmals durch den Rohbau schreitend, reflektiert er die prekäre politische und soziale Situation während des Crashs.
Diese Zeiten scheinen die beiden Hedgefonds-Manager, gespielt von Colin Salmon und Craig Daniel Adams, unbeschadet
hat das zu einem Film inspiriert
Isaac Julien: Playtime. Werke aus der Sammlung Wemhöner bis 10. Juli 2023 PalaisPopulaire palaispopulaire.com
überstanden zu haben. Sie sind dabei, einen neuen Fond aufzulegen. Repräsentative Räumlichkeiten in London haben sie bereits. In der noch leeren, weitläufigen Büroetage tauschen sie sich über Zahlen, Gier und eine neue Generation von bestausgebildeten, motivierten Mitarbeitern aus. Dies sind Themen, die der Lebenswirklichkeit der philippinischen Hausangestellten, verkörpert durch Mercedes Cabral, nicht fremder sein könnten. Um für den Unterhalt ihrer Familie zu sorgen, verließ sie ihre Heimat, um sich daraufhin vereinsamt in einem nahezu rechtlosen Arbeitsverhältnis in Dubai wiederzufinden. Letztlich gelingt ihr jedoch die Flucht.
Von zentraler Bedeutung sind die symbolischen bzw. symbiotischen Beziehungen zwischen den Protagonisten und ihrer Umgebung. Die (Stadt-)Landschaften und Interieurs sind nicht Kulisse, sondern versinnbildlichen einerseits das Innenleben und die Gefühlswelten der Protagonisten, andererseits repräsentieren sie deren gesellschaftliche und ökonomische Stellung. Und sie verdeutlichen anhand der Drehorte London, Island und Dubai, wie das Kapital das Terrain nach seinem eigenen Bild und seinen Bedürfnissen formt.
Isaac Julien gelingt eine dialektische Reflexion funktionaler und emotionaler Zusammenhänge, mit der nicht nur die reale Existenz von Kapital erfahrbar gemacht, sondern auch das Bewusstsein für die individuellen, sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen des Kapitalismus geschärft wird.
Die Erkenntnis im Opaken
Indigener Widerstand gegen das Erbe des europäischen Aufklärungsgedankens: Die vielschichtige Malerei von DANIEL BOYD weitet die Perspektiven
Daniel Boyd vereint Öl- und Acrylfarben, Holzkohle und Archivkleber auf Polyester: ohne Titel »(CPC)« von 2015Seit etwa zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Daniel Boyd mit den komplexen kulturellen Praktiken der First Nations, der indigenen Gruppen in Australien. Mit seiner Arbeit setzt er diese Praktiken den aus Europa stammenden Methoden des Erzählens, der Geschichtsschreibung und der Malerei entgegen. Seine Gemälde und Installationen stellen das dominante Narrativ der australischen Geschichte infrage, das auch über das Medium der Malerei verbreitet wurde und aus der europäischen Perspektive der Kolonisten erzählt, in der die Zivilisation mit der Kolonisation beginnt. Die Geschichte der First Nations spielt darin keine Rolle.
Im Titel seiner Ausstellung im Gropius Bau bezieht sich Boyd auf den Begriff »Rainbow Serpent«, der die Ignoranz gegenüber der Pluralität indigener Gemeinschaften ausdrückt. Von Menschen, die nicht den First Nations angehören, wird er häufig fälschlicherweise für eine Reihe von Schöpfungsgeschichten verschiedener indigener Gemeinschaften in Australien verwendet, ohne die Besonderheiten ihrer Kosmologien anzuerkennen. Dabei sind die Mythen der First Nations so vielfältig wie ihre Gemeinschaften selbst. Es gibt mehr als eine australische Geschichte. Boyd weist mit dem Zusatz »Version« sowohl auf die Vielfalt der unterschiedlichen Kosmologien und Kulturen der First Nations hin, als auch auf die Geschichte der Gewalt und der kulturellen Vereinheitlichung hinzuweisen, denen sie im Zuge der Kolonialisierung ausgesetzt waren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte ist ein wichtiger Teil von Boyds Arbeit. Er gehört zu den indigenen Gemeinschaften Kudjala, Ghungalu, Wangerriburra, Wakka Wakka, Gubbi Gubbi, Kuku Yalanji, Budjalung und Yuggera und hat Ni-Vanuatu-Vorfahren. Er lebt und arbeitet in Gadigal und Wangal
Country, Sydney. Seine Arbeiten zeichnen sich durch eine einzigartige Technik aus, beziehen sich auf Historienmalerei sowie Themen der klassischen Antike, der wissenschaftlichen und anthropologischen Ikonografie und der jüngeren visuellen Kultur. Sie thematisieren gleichzeitig das Erbe der Kolonialisierung und des damit verwobenen kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus.
In einer frühen Serie deutete Boyd Bildnisse von zentralen Figuren der Kolonisierung Australiens um und deckte damit die romantischen Vorstellungen von der australischen Nationenbildung und das künstlerische Erbe des Kolonialismus auf. In dem Gemälde »Sir No Beard« (2009) porträtierte er Joseph Banks, der James Cooks Reise mit der HMS Endeavour von 1768 bis 1771 von London nach Ozeanien und Australien finanzierte und begleitete. Boyds Version des Gemäldes verweist auf den Widerstandskämpfer Pemulwuy, einen Anführer der Bidjigal, der enthauptet und dessen Kopf an Banks in London geschickt wurde. Aktivist*innen der First Nations setzen sich für die Auffindung und Rückgabe an Australien ein. Seit den frühen 2010er-Jahren verwendet Boyd in seinen Gemälden Punkte aus Archivkleber, die er »Linsen« nennt. Zwischen den Punkten ist schwarze Farbe aufgebracht, die im Wechselspiel mit den Linsen die Bildoberfläche in Bewegung bringt. Diese Technik erzielt eine Darstellung, die sich auf Opazität konzentriert statt auf westlich geprägte Idealvorstellungen von Transparenz und Licht. Damit stellt er Resonanzen zum Werk des Dichters und Philosophen Édouard Glissant (1928–2011) her, von dem auch ein Porträt in der Ausstellung zu sehen ist. Glissant entwickelte die Vorstellung eines »Rechts auf Opazität«, das beinhaltet, nicht durch eine westliche Erkenntnistheorie der Transparenz definiert zu werden, die alle
Unterschiede einebne und auslösche. Opazität interessiert Boyd als Mittel des indigenen Widerstands gegen das Erbe des europäischen Aufklärungsgedankens und dessen Beharren auf Erleuchtung, Transparenz und Offenlegung. Zwei eigens für den Gropius Bau konzipierte Installationen bedecken die Fenster des ersten Obergeschosses sowie den Boden des Lichthofs und tauchen den Ausstellungsraum in ein Wechselspiel aus Licht und Dunkel.
Den gezeigten Gemälden in Öl, Kohle und Archivkleber liegen verschiedene visuelle Quellen zugrunde. Auf einem Bild sehen wir einen Mangrovensumpf – die üppigen Verflechtungen von freiliegendem Wurzelwerk in einer Wasserlandschaft. Mangrovenwälder werden für eins der wichtigsten Ökosysteme der Erde gehalten, da sie die Küsten vor Erosion und Wirbelstürmen schützen und die ökologische Vielfalt fördern. Das Bild bezieht sich auch auf ein Foto, das Boyd von einem Cousin aus Gimuy/Cairns im Norden Queenslands erhielt, wo der Künstler aufgewachsen ist. Viele Bilder haben mit der Geschichte von Boyds Familie und der von dieser erlebten Gewalt zu tun. Einige seiner Familienmitglieder gehören zu den sogenannten gestohlenen Generationen, Kinder der First Nations, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden. Im Rahmen einer kolonialen Politik, die darauf abzielte, kulturelle Traditionen und Identitäten zu unterdrücken, wuchsen sie ohne Bezug zu ihrer Kultur auf.
Für andere Werke verwendete Boyd Fotografien als Quellenmaterial, die in kolonialen Kontexten aufgenommen wurden. Darunter befinden sich Bilder von einer Reise der London Missionary Society und der anglikanischen Kirche zur Pfingstinsel in Vanuatu, wo Boyds Ururgroßvater lebte, bevor er gewaltsam nach Queensland gebracht
wurde. Australiens wirtschaftliches Kapital basiert historisch gesehen auf der unbezahlten Zwangsarbeit der unterdrückten First Nations und pazifischen Inselvölker. Die daraus resultierenden Ungleichheiten bestehen bis heute.
Andere Werke der Ausstellung, die in engem Austausch mit Daniel Boyd entstanden ist, beziehen sich auf das National Black Theatre of Gadigal und Wangal Country, Sydney, die Philosophin und Aktivistin Angela Davis oder Neokolonialismen, wie die Geschichte von Marlon Brandos Frau Tarita Teri’ipaia, die 1962 neben ihm die Rolle der exotischen Südseeschönheit in »Meuterei auf der Bounty« spielte, sowie auf Verbindungen zwischen den Landrechtsbewegungen in Australien und den amerikanischen Bürgerbewegungen für die Rechte von Schwarzen und Indigenen.
Daniel Boyd: Rainbow Serpent (Version) bis 9. Juli 2023
Gropius Bau gropiusbau.de
Daniel Boyd, ohne Titel »(TDHFTC)«, 2021AUTONOME LANDWIRTSCHAFT in der Domäne Dahlem
Die Sozialwissenschaftlerin, Food-Aktivistin und Fotografin Carla Ulrich porträtiert Menschen und Betriebe, die alternative Ansätze in der Landwirtschaft verwirklichen. Die Ausstellung gibt Einblicke in die Arbeit von drei Höfen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, denen Mut und Kompromisslosigkeit in der Arbeits- und Lebensweise gemein sind. Mit Direktvermarktung, solidarischen Strukturen und Nachhaltigkeit bilden sie einen Gegenentwurf zu industriellen Großbetrieben. Die Fotografien zeigen die ambivalente Arbeitsrealität von Menschen, die täglich gegen den Strom einer wachstumsorientierten und ausbeuterischen Agrarstruktur agieren. Wir sehen Idealismus und Hoffnung, aber auch Herausforderungen und harte Arbeit.
»Autonome Felder«, bis 14. Mai 2023, domaene-dahlem.de
DER INDISCHE OZEAN im Gropius Bau
Hybridität, Vertreibung und Diaspora prägen seit jeher den Indischen Ozean. Seine Geschichten und Narrative sind der Ausgangspunkt der Ausstellung. Sie bringt das Schaffen verschiedener zeitgenössischer Künstler, Musiker, Schriftsteller und Denker zusammen, um historische, kulturelle und sprachliche Verbindungen zwischen den Kontinenten Afrika und Asien zu beleuchten. In mehreren Kapiteln nähert sich die Ausstellung dem Indik als gemeinsamem Horizont an und führt von den alten Routen der transregionalen Erkundung, des Handels und der Migration hin zum zeitgenössischen afroasiatischen geopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch von Sprachen, Nahrungsmitteln, Klängen, Volkswirtschaften, Philosophien und mehr.
POTSDAMER PLATZ im Mitte Museum
1990 erwarb das Mitte Museum über 150 Glasnegative aus dem Nachlass des Berliner Verlags Walter Meyerheim. Deren Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte ist noch nicht gänzlich erschlossen, die Ausstellung stellt eine Auswahl vor. Die Fotografien zeigen Szenen des Straßenlebens am Potsdamer Platz zwischen 1928 bis 1934. Der Potsdamer Bahnhof, Hotels und Geschäftshäuser spiegeln den Glanz der kaiserlichen Hauptstadt; der Verkehrsturm und das Columbushaus setzen Akzente der Moderne. Der anonyme Fotograf hieltmit der eigenen Kamera auch Passanten fest, die sich gelegentlich in Szene setzten. Sie bezeugen, dass die Gesellschaft im Umbruch begriffen war.
»Stadt auf Glas. Der Potsdamer Platz in Fotografien aus den Jahren 1928 bis 1934«, bis 30. Juli 2023, mittemuseum.de
»Indigo Waves and Other Stories. Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora«, 6. April bis 13. August 2023, gropiusbau.de
Carla Ulrich, Hof Basta, 2022 Potsdamer Platz, 1933 Adama Delphine Fawundu, »Sopdet Illuminates«, 2017Flüchtiger Moment
Vier junge Architekturstudenten gründen 1905 die Künstlergruppe Brücke. Während seine Kollegen zu Weltruhm
gelangen, schlägt FRITZ BLEYL einen anderen Weg ein
Fritz Bleyl, »Obstgarten«, 1907Der 7. Juni 1905 gilt als eines der wichtigsten Daten in der Kunstgeschichte der europäischen Moderne. An diesem Tag gründeten vier junge Männer in Dresden die Künstlergruppe Brücke, der sich in den folgenden acht Jahren ihres Bestehens eine Reihe weiterer Künstler anschloss. Die Gründungsmitglieder Fritz Bleyl, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff verband das Architekturstudium, doch sie verfolgten andere Ziele: Gemeinsam wollten sie neue künstlerische Wege beschreiten und sich aus dem starren Korsett des konservativen Kunstbetriebs befreien. Die Umsetzung ihrer Vorstellungen erschien in der wilhelminischen Ära geradezu revolutionär, und so waren die Werke rund um das Gründungsjahr von einer besonderen Aufbruchstimmung geprägt.
Mit »1905: Fritz Bleyl und der Beginn der Brücke« widmet sich das Brücke-Museum diesem historischen Moment. Die anfänglichen Aktivitäten der Gruppe und ihr Drang nach Veränderung werden in acht Ausstellungskapiteln begreifbar. Von gemeinsamen Atelierabenden über die ersten Ausstellungen bis hin zum Anwerben neuer Mitglieder, die mitunter als Sponsor*innen wirkten, verfolgte die Brücke von der ersten Stunde an innovative Ansätze. Die Geldgeber*innen erhielten Mitgliedskarten und Jahresgaben, was an institutionelle Fördervereine von heute denken lässt. Und auch die Werke selbst basierten auf neuartigen Ideen: Mit den »Viertelstundenakten« beispielsweise hielten die Künstler den flüchtigen Eindruck eines Aktmodells in einer kurzen Zeitspanne fest – ein Kontrast zu den akribisch ausgeführten Zeichnungen des akademischen Studiums.
Das Brücke-Museum präsentiert frühe Werke und Dokumente aus der eigenen Sammlung, von denen etliche seit Jahrzehnten nicht gezeigt wurden. Einige der über 140 Exponate lassen sich mitnichten dem deutschen Expressionismus zuordnen, für den die Brücke gewissermaßen synonym steht. Denn zu Beginn ihres Schaffens experimentierten die Künstler mit unterschiedlichen Stilen. So lehnen sich Tuschezeichnungen und Holzschnitte an den damals im Trend liegenden Japonismus und dessen dekorative und reduzierte Bild- und Formensprache an. Als Inspiration deutlich erkennbar ist auch der Jugendstil, den die vier Gründer beispielsweise während ihres Studiums in Ornamentkursen kennenlernten. Auch das Schaffen anderer Künstler übte Einfluss auf die Brücke aus. Besonders beeindruckt waren sie von der dynamischen Malweise Vincent van Goghs, dessen Werk sie in der Dresdener Galerie Arnold, einer der führenden Galerien moderner Kunst, 1905 erstmals zu Gesicht bekamen. Die Adaption des pastosen und unvermischten Farbauftrags mithilfe kraftvoller Pinselstriche ließ Emil Nolde, der 1906 der Gruppe beitrat, spotten: »Ihr solltet euch nicht Brücke, sondern van Goghiana nennen.«
Noldes Zeit in der Gruppe war von kurzer Dauer: Nach rund zwei Jahren verließ er die Brücke wieder aufgrund persönlicher Differenzen. Von ebenso kurzer Dauer war Fritz Bleyls Mitgliedschaft. Er trat aus der Gemeinschaft aus, um einen bürgerlichen Lebensweg mit Familie einzuschlagen. Als einziger unter den Gründungskünstlern verfolgte er eine Laufbahn als Architekt und fand nur noch wenig Zeit für die eigene künstlerische Praxis. Dabei zeigt sich in seinem Œuvre ein großes Talent. Besonders eindrucksvoll sind etwa seine pointillistischen Aquarelle von 1907, die sommerliche Temperaturen auf dem Land spürbar machen. Für die Brücke setzte er entscheidende Impulse. Sein Interesse an der Druckgrafik gab den entscheidenden Ausschlag für die ersten Geschäftsgrafiken. Die große Anerkennung, die die anderen später erhielten, erlangte Bleyl
nie – nicht nur weil er die Gruppe früh verließ, sondern auch weil er an seinen künstlerischen Vorbildern festhielt.
Ein eigenes Kapitel widmet sich der ersten Brücke-Ausstellung. Sie fand 1906 an einem unkonventionellen Ort statt – im Showroom einer Lampenfabrik in Dresden. Mit dem Konzept folgte die Brücke einem Ansatz, den bereits die Impressionisten in Paris etabliert hatten: eine von Künstler*innen selbst initiierte und organisierte Werkpräsentation. Sie führte – vorerst nur in Dresden – zu weiteren Ausstellungsbeteiligungen und gilt aufgrund ihres außergewöhnlichen Charakters und des innovativen kollektiven Ansatzes als wegweisend für das 20. Jahrhundert. Werke dieser historischen Schau stehen neben einer großflächigen Installationsansicht, die einen Eindruck der ursprünglichen Präsentation vermittelt.
»1905: Fritz Bleyl und der Beginn der Brücke« schließt eine Trilogie ab, die markante Jahre der Brücke in den Fokus rückt. Zuvor widmete sich das Brücke-Museum bereits dem Jahr 1913, in dem sich die Künstlergruppe auflöste, sowie 1910, der Hochphase der künstlerischen Zusammenarbeit. Einen Einblick in das Geschehen dieser Jahre bieten darüber hinaus die ausstellungsbegleitenden Zeitungen, wobei die neue Publikation dieser Reihe erstmals gemeinsam mit einem weiteren Haus herausgegeben wird: den Kunstsammlungen Zwickau. Die Stadt in Sachsen ist der Geburtsort von Fritz Bleyl, und das Museum besitzt einen besonders umfangreichen Bestand zu seinem Werk. Die Ausstellung, die dort vom 18. Februar bis zum 29. Mai 2023 läuft, lohnt einen Ausflug nach Zwickau.
1905: Fritz Bleyl und der Beginn der Brücke bis 4. Juni 2023 Brücke-Museum bruecke-museum.de
Text PHILIPP LANGE, wissenschaftlicher VolontärEINBLICKE
Sammlergeschick und glückliche Umstände
Kein anderer deutscher Künstler der Renaissance ist weltweit so bekannt wie ALBRECHT DÜRER.
Berliner Museen haben daran entscheidenden Anteil
Albrecht Dürers »Die Drahtziehmühle« zeigt einen Mühlenkomplex an der Pregnitz westlich von Nürnberg, 1489–94 »Irische Kriegsleute und Bauern« entstand im Jahr 1521 (vorherige Doppelseite)Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen von Handzeichnungen und Druckgrafiken Albrecht Dürers. Die Ausstellung »Dürer für Berlin« stellt erstmals deren wechselvolle Entstehungsgeschichte mit zahlreichen wertvollen Arbeiten und historischen Dokumenten zur Berliner Dürer-Rezeption vor.
Albrecht Dürer, geboren am 12. Mai 1471, steht biografisch an der Zeitgrenze vom sogenannten Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Beide Epochen prägte er maßgeblich mit: die Spätgotik als innovativer Vollender, die Renaissance im Norden als neugieriger und kreativer Gestalter sowie als Leitbild für nachfolgende Generationen. Im Laufe seines Lebens – er starb 1528 – schuf Dürer zahlreiche Hauptwerke der deutschen Malerei wie das Münchener Selbstbildnis von 1500. Vor allem aber unter seinen grafischen Arbeiten – Druckgrafiken und Handzeichnungen – finden sich zahlreiche ikonische Blätter: frühe Landschaftsdarstellungen wie die berühmte Drahtziehmühle, das Bildnis seiner todgeweihten Mutter Barbara von 1514 (beide im Berliner Kupferstichkabinett) und mit der »Ehrenpforte« für Kaiser Maximilian I. der größte Holzschnitt der Geschichte. Einzelblätter und Bilderfolgen wie die »Apokalypse« von 1498, »Adam und Eva« von 1504 sowie die sogenannten Meisterstiche »Ritter, Tod und Teufel«, »Hieronymus im Gehäus« und vor allem »Melencolia I« – für manche Autoren das »Bild der Bilder« – prägen bis heute unsere visuelle Vorstellungswelt.
Neben dem künstlerischen Werk interessierte und begeisterte auch die Person Albrecht Dürer viele Kunstinteressierte über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Seine Selbstäußerungen in Briefen, Notizen, Familienaufzeichnungen und Entwürfen zu theoretischen Arbeiten, sein sorgsam geführtes Tage- beziehungsweise Rechnungsbuch über seine niederländische Reise 1520/21 sowie zahlreiche Selbstbildnisse in Gemälden und Zeichnungen brachten Dürer seinem Publikum nahe wie keinen zweiten Künstler seiner Zeit.
Dürer, der als bedeutendster Künstler im deutschen Sprachraum gilt, ließ sich bereits aus preußischer Sicht für wichtige integrative Aspekte der Gesellschaft heranziehen. Als Sohn eines aus Ungarn eingewanderten Goldschmieds entzog er sich einer plumpen chauvinistischen Vereinnahmung durch einzelne Gruppen. Sein Andenken gehörte allen. Daher war es nicht verwunderlich, dass Dürers Werk auch in Berlin besonders geschätzt und gesammelt wurde. Bedeutende Künstler wie Adolph Menzel und Karl Friedrich Schinkel studierten seine Grafiken, und für das 1831 gegründete Kupferstichkabinett der Königlichen Museen war Dürer ein zentrales Sammlungsziel mit nationaler Dimension. Die auf kurfürstlichen, später königlichen Beständen gründende Sammlung wurde kontinuierlich weiter ausgebaut. Dies
geschah allerdings nicht ohne Komplikationen. Ausgerechnet anlässlich eines bedeutenden historischen Doppelereignisses, der Gründung des deutschen Kaiserreiches im Jahr 1871 und des 400. Geburtstags Dürers, kam es zu einem folgenreichen Skandal: Fast alle dem Meister zugeschriebenen Zeichnungen, die in einem dem Kaiser gewidmeten Prachtband publiziert worden waren, wurden umgehend – und zu Recht –von einem Wiener Kunstwissenschaftler aus Dürers Œuvre aussortiert. Der nachfolgende »Dürer-Streit« erstreckte sich über das ganze Jahr 1871. Gemeinsam mit dem Dresdener »Holbein-Streit« desselben Jahres markiert dieser Konflikt die Entstehung einer kritischen Kunstgeschichte in Deutschland. Für die Dürer-Sammlung des Kupferstichkabinetts war das Ergebnis jedoch fatal, denn die bis dahin stolze
Sammlung wurde mit einem Schlag ihrer vermeintlichen Spitzenwerke der deutschen Kunst entledigt. Der Konflikt endete schließlich in der schmerzlichen Einsicht, dass die Berliner Dürer-Sammlung zu diesem Zeitpunkt dem internationalen Vergleich keineswegs gewachsen und daher dringend Abhilfe geboten war.
In einem historisch nahezu beispiellosen Aufholvorgang gelang es recht bald, die markanten Lücken zu schließen. Der neu berufene Direktor Friedrich Lippmann (1838–1903) konnte durch Ankaufsgeschick und glückliche Umstände binnen weniger Jahrzehnte auf dem Kunstmarkt eine neue, nun tatsächlich herausragende Dürer-Sammlung aufbauen. Unterstützt wurde er vom Kulturrat und nachmaligen Generaldirektor Richard Schöne (1840–1922), von dem jungen Wilhelm Bode (1845–1929) sowie vom Kronprinzen- und späteren Kaiserpaar Friedrich III. (1831–88) und Victoria (1866–1929).
Darüber hinaus trug Lippmann die Kenntnis der Werke Albrecht Dürers mit hervorragend illustrierten Publikationen in die Welt und verankerte damit den Künstler über die Kultur und Forschung in der Hauptstadt. Auch Lippmanns Nachfolger führten dessen Sammlungspolitik in den 1920er- und 1930er-Jahren kontinuierlich fort. Nach 1947 ergab sich jedoch mit der Teilung Berlins und der Aufspaltung der Sammlung in die Kupferstichkabinette Ost und West eine neue Situation. Beide Häuser verfügten nun lediglich über einen Teil der einstigen Bestände. Da Dürer jedoch nach wie vor als Nationalkünstler der Deutschen fest im kunsthistorischen Kanon verankert war, bemühten sich beide Häuser erfolgreich darum, zentrale Bestandslücken zu schließen. Diese während der Teilung erworbenen Werke sind in der wiedervereinigten Dürer-Sammlung im Kupferstichkabinett des Kulturforums neue Glanzpunkte.
Dürer für Berlin. Eine Spurensuche im Kupferstichkabinett
12. Mai bis 27. August 2023
Kulturforum smb.museum
Text MICHAEL ROTH, Kurator der AusstellungWider das Vergessen
Warum in Lichterfelde ein neuer Gedenkort für die NS-ZWANGSARBEIT entstehen sollte
Vor einigen Jahren entdeckten engagierte Bürger*innen in Lichterfelde-Süd Baracken aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dass sich an dieser Stelle ein Kriegsgefangenenlager befunden hatte, war bekannt; dass sich davon Bauten erhalten haben, jedoch nicht. Die Ausstellung dokumentiert diesen Fund, der im Kontext einer geplanten Bebauung erfolgte, anhand aktueller Fotos. So lassen sich auch die historischen Baracken verorten.
Im Zentrum der Ausstellung steht das Kriegsgefangenenlager Lichterfelde, in dem von 1940 bis 1945 vor allem Franzosen interniert waren: die Vorgeschichte des Ortes, der Bau und Ausbau des Lagers, die Bewachung sowie die Arbeit und das Alltagsleben. Neun exemplarische Biografien geben den beschriebenen Erfahrungen ein Gesicht. Zudem sind originale Bausteine aus dem Lager ausgestellt. In der zweiten Kriegshälfte brannten die meisten Holzbaracken infolge von Luftangriffen nieder. Die Kriegsgefangenen mussten einige Gebäude aus Stein neu errichten. Der noch an den Objekten
haftende Mörtel ist ein authentisches Relikt der Arbeit der Internierten.
Mehrere Exkurse ordnen das Lager in den historischen Kontext ein. Der Komplex in Lichterfelde-Süd gehörte zum »Stammlager III D« (kurz: Stalag III D), ein Netzwerk von Kriegsgefangenenlagern im Großraum Berlin. Außerdem geht es um andere Kriegsgefangene im Gewahrsam der Wehrmacht, allen voran sowjetische Staatsbürger*innen, die das deutsche Militär in weiten Teilen verhungern ließ. Die Ausstellung wirft die wichtige Frage auf, inwiefern die Arbeit von Kriegsgefangenen völkerrechtlich gedeckt war oder als Zwangsarbeit zu werten ist.
Der letzte Abschnitt führt in die Gegenwart: Auf dem Gelände sollen Wohnungen gebaut und die historischen Baracken größtenteils abgerissen werden. Zentrales Element ist der Film »Lichterfelde-Süd –(k)ein Ort der Erinnerung« von Studierenden des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität. Sie interviewten verschiedene Akteur*innen, die sich mit dem ehemaligen Lagergelände
auseinandersetzen. Eine Baracke des Lagers soll als Gedenkort erhalten bleiben – doch viele Fragen sind ungeklärt, und niemand möchte die Trägerschaft übernehmen. Die Ausstellung leistet einen wichtigen Beitrag zur Debatte, wie die Gesellschaft mit diesem historischen Ort der NS-Herrschaft umgeht.
Text ROLAND BORCHERS, Kurator
Vergessen und vorbei? Das Lager Lichterfelde und die französischen Kriegsgefangenen bis 31. Mai 2023
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit ns-zwangsarbeit.de
Berlin aufgeblättert
Mit der GRAFIKSAMMLUNG ERNST erwirbt
das Stadtmuseum einen unvergleichlichen Schatz
Souvenirblatt »Die Rose von Berlin«, um 1870um Jahreswechsel 2021/22
bedachte die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin das Stadtmuseum mit einem wahrhaften Weihnachtsgeschenk: Sie bewilligte eine beachtliche Zuwendung zur Erwerbung der Grafiksammlung von Gernot Ernst. Diese enthält rund 3000 Blätter mit druckgrafischen Berlin-Ansichten von 1570 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Damit ging ein langgehegter Wunsch in Erfüllung.
Schon seit den 1990er-Jahren bestand ein Kontakt zwischen der Grafischen Sammlung des Stadtmuseums und dem Sammler Gernot Ernst (1931–2016). Dieser war als selbstständiger Unternehmer in der Finanzwirtschaft tätig und nahm in diesem Sektor über viele Jahre auch öffentliche Funktionen auf nationaler und internationaler Ebene wahr. Er engagierte sich auf vielfältige Weise für seine Heimatstadt Berlin, wozu zweifellos seine seit den 1970er-Jahren entstandene Sammlung zählt. Prägende Impulse für die Sammelleidenschaft erhielt er vom damaligen Berlin Museum und dessen Direktorin Irmgard Wirth. Nach dem Mauerfall stand Ernst in engem Kontakt mit allen wichtigen grafischen Sammlungen Berlins, insbesondere zu der des Märkischen Museums, später zum Stadtmuseum Berlin gehörend. Hier wirkte er wiederholt als Mäzen, indem er etwa Grafiken Berliner Ansichten aus dem 20. Jahrhundert schenkte und damit Sammlungslücken in der Kunst der Moderne schloss.
In Kenntnis der institutionellen Bestände suchte Ernst über den Kunsthandel und Privatpersonen gezielt die Fehlstellen in seiner Sammlung durch Ankäufe auszufüllen. Das erfolgreiche, bleibende Ergebnis der sammlungsbegleitenden Forschungen ist die fulminante zweibändige Monografie »Berlin in der Druckgrafik von 1570 bis 1870«, die er zusammen mit seiner Frau Ute Laur-Ernst verfasste und die 2009 der
Wilhelm Loeillot nach Johann Heinrich Strack, Entwurf für die Petrikirche in Berlin, um 1845 Franciscus Landomin nach Johan Teyler, Ansicht des (alten) Berliner Renaissance-Schlosses an der Spree mit der Langen (heutigen Rathaus-)Brücke, um 1698 (oben)
Berliner Lukas-Verlag veröffentlichte. Sie ist heute das grundlegende Nachschlagewerk für die bildtopografische Erforschung Berlins. Nach dem Tod von Gernot Ernst bot dessen Familie dem Stadtmuseum Berlin die Sammlung an, die nun in einer Kombination aus Ankauf über Lottomittel und Schenkung glücklicherweise erworben werden konnte.
Die Sammlung Gernot Ernst ist der größte überlieferte Bestand zu diesem Thema. Mehr als die Hälfte der Arbeiten fehlten bisher in den einschlägigen Berlin-Sammlungen der Museen und Archive, darunter seltene Motive, künstlerisch wertvolle Ausführungen, Kurioses, Serien und Raritäten. Beispielhaft steht dafür der um 1698 entstandene farbige Kupferstich mit Ansichten des kurfürstlichen Berliner Schlosses in seiner vorbarocken Gestalt von dem niederländischen Künstler Johan Teyler. Das Blatt gibt es außer in der Sammlung Ernst vermutlich nur in einem zweiten Exemplar, das sich im Rijksmuseum Amsterdam befindet.
Die von Hunderten Zeichnern, Stechern, Lithografen und Verlegern geschaffenen und herausgegebenen Ansichten wurden in den klassischen grafischen Techniken (Kupferstich, Radierung, Aquatinta, Stahlstich, Lithografie, Holzschnitt u. a.) ausgeführt. Zumeist handelt es sich um auftragsgebundene, verlagsorientierte Arbeiten, aber auch freie künstlerische Interpretationen sind vertreten. Die Motive sind als Vogelschaubilder, Panoramen, Veduten (Ansichten von Straßen, Plätzen, Gebäudegruppen), Einzelgebäude, Architekturblätter und Ereignisdarstellungen angelegt. Ihre Vielfalt wird auch in der Art und Weise ihrer Verwendung deutlich – als Einzelblätter oder in Folgen, in Tableaus und Randleisten von Plänen und Spielen, als Illustrationen in Reiseführern,
Almanachen, Monografien, Biografien, Kalendern, Zeitschriften (u. a. Architekturperiodika), Jubiläumsschriften, Chroniken; ferner in Bilderbogen, Guckkastenblättern und der Gebrauchsgrafik (Handwerkerurkunden, Briefbogen, Akzidenzgrafik von Vereinen und Organisationen).
Die Sammlung Gernot Ernst ist in ihrer Gesamtheit ein einmaliger Schlüssel zur Erkundung der Geschichte Berlins. Sie erschließt die zum größten Teil verschollen geglaubten oder in Vergessenheit geratenen bildlichen Quellen des vorfotografischen Zeitalters und ihrer Schöpfer für die Öffentlichkeit neu. Mit ihrer Erwerbung durch das Stadtmuseum, das Berliner Landesmuseum für Geschichte und Kultur, werden nicht nur dessen Bestände, insbesondere diejenigen der Grafischen Sammlung mit einem Umfang von annähernd 120.000 Blatt, gestärkt. Das Museum kann ein Alleinstellungsmerkmal entscheidend ausbauen: Die fast lückenlose Bildüberlieferung der Stadt von ihren Anfängen verdeutlicht im Verbund mit der Gemälde- und Fotografischen Sammlung klar seinen Rang als Kompetenzzentrum. Nur hier lässt sich zukünftig Berlin zusammenhängend erklären, indem die wirkmächtigen historischen Bilder ein Verständnis für das Heute fördern. Darüber hinaus bietet die Sammlung Ernst zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungen zu grafisch-technischen, sozio-kulturellen und kunstgeschichtlichdenkmalpflegerischen Themen. Der Antrag auf ein Digitalisierungsprojekt für 2024 läuft, damit die Schätze der Sammlung möglichst bald zumindest online der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden können.
Text ANDREAS TELTOW
Leiter der Grafischen Sammlung