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VANESSA KIRBY
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ZU SEHEN AUF NETFLIX ZWISCHEN DEN ZEILEN
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ZWISCHEN DEN ZEILEN
Vanessa Kirby ist derzeit die heißeste Aktie in Hollywood und gilt als Favoritin für die Oscars 2021. Mit 32 steht Kirby am Zenith, weil sie sich traute, im richtigen Moment das Richtige zu tun. In gleich zwei neuen Filmen kann die britische Schauspielerin ihr ganzes Potenzial zeigen.
Es gibt diesen Moment im Leben einer Schauspielerin, in dem sie weiß: Jetzt oder nie. Die Chance seines Lebens zu erkennen, das ist die eine Sache. Den Mut zu haben, sie auch zu ergreifen, das ist die andere. Vanessa Kirby, 32 Jahre alt, hat diese Chance erkannt und ergriffen, sie wird mit großer Sicherheit das diesjährige Oscar-Rennen in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ dominieren (und vermutlich auch für sich entscheiden).
Der Grund dafür sind 30 Minuten atemberaubendes Kino, die keinen kalt lassen. In dem Netflix-Drama „Pieces of a Woman“ (seit Anfang Jänner im Netflix-Programm, eine spätere Kinoauswertung ist geplant) des ungarischen Autorenfilmers Kornél Mundruczó spielen Kirby und Shia La Beouf ein junges Paar, das der jederzeitigen Niederkunft der Gattin harrt: Kirby als hochschwangere Frau, die sich für eine Hausgeburt entschieden hat und Shia La Beouf, der ihr dabei gut zureden soll. Als die ersten Wehen kommen, scheint noch alles unter Kontrolle zu sein, auch die Hebamme ist bald da. Der Schmerz im Leib der Frau wird stärker, er wird unerträglich, und dann gesellen sich in dieser Situation noch unerwartete Komplikationen hinzu: Das Kind, das sich im Mutterleib gerade noch via Ultraschall mit einem schnellen, festen Herzschlag gemeldet hatte, ist nach der schweißtreibenden Geburt nur kurz bei Bewusstsein. Die Hebamme sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt, das Neugeborene läuft blau an. Der Notarzt kommt zu spät.
ATEMBERAUBEND Bis hierhin war der Zuschauer Zeuge einer 30-minütigen Filmsequenz, die ohne einen einzigen Schnitt gedreht wurde; eine dramatische, auch quälende Eröffnungssequenz, die von den Darstellern alles forderte, um akkurat und drastisch zu wirken. Mundruczós englischsprachiges Filmdebüt zeigt ab diesem Zeitpunkt die Aufarbeitung der Trauer und die Frage: Wer trägt Schuld an dieser Totgeburt? Es ist allzu menschlich, diese Frage zu stellen, und Schuldgefühle sind sicher auch Teil einer Trauerarbeit. Aber nicht immer macht die Schuldfrage Sinn, wie auch „Pieces of a Woman“ zeigt.
Die Stärke dieser langen Eröffnungsszene, sie ist maßgeblich das Werk von Vanessa Kirby, die sich mit voller Wucht in diese Geburtssituation katapultiert. „Wir wollten die Szene so detailliert und lebensnah wie möglich zeigen, wollten Realität vermitteln und die Zuschauer unmittelbar mitfühlen lassen“, sagt Kirby. „Die Kamera sollte dabei wie eine eigene Figur des Films sein, wie der Geist des verstorbenen Kindes“.
Innerhalb von 24 Stunden, nachdem Kirby Mundruczós Drehbuch gelesen hatte, saß sie bei ihm in Budapest, um alles zu besprechen. Sie hatte die Chance ihres Lebens erkannt und zugesagt: „Die Dreharbeiten waren einfach berauschend. Es war das beste Filmerlebnis meines Lebens“, sagt sie. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Schauspielerin zwar in einem karrieretechnisch einwandfreien Fahrwasser unterwegs, aber es sind eben die gewagten Rollen, die einen zum Zenith bringen, nicht die gefälligen.
Vanessa Kirby hat früh angefangen, sich vor der Kamera zu exponieren, aber so intensiv war es nie zuvor. Die 1988 im Londoner Stadtteil Wimbledon geborene Kirby stand ab 2009 auf der Theaterbühne, zunächst im Octagon Theatre in
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Bolton. Bald landete sie in Fernsehserien, was oft die Endstation für Schauspieler bedeutet, wenngleich es eine recht einträgliche Endstation sein kann. Mitwirkungen in „The Hour“ oder „Agatha Christie’s Poirot“ sind Zwischenstationen auf dem Weg zum Serienmekka Netflix. Dort spielte sie in zwei Staffeln von „The Crown“ Prinzessin Margaret und fiel Hollywood auf.
Der Sprung ins Blockbuster-Kino, etwa an der Seite von Tom Cruise in „Mission: Impossible - Fallout“ (2018) hätte zum Turbo werden können, doch Vanessa Kirby bremste. Sie will einfach nicht eine Frau der Marke „Aufputz“ sein, die Hollywood zu Tausenden hervorgebracht hat, sondern hat zwischen dem Antlitz eines scheuen Rehs eine ungemein starke Leinwandpräsenz und ein subtil agierendes Minenspiel, aus dem sich mehr formen lässt als bloße Leinwandklischees.
Das hat Kirby auch erkannt: Sie spielte zwar auch im letzten „Fast & Furious“Spin-Off „Hobbs & Shaw“ (2019), zugleich wandte sie sich aber dem Autorenkino zu, drehte mit Agnieszka Holland, mit Mundruczó und auch mit der norwegischen Regisseurin Mona Fastvold. Diese Zusammenarbeit heißt „The World to Come“ und ist - genau wie „Pieces of a Woman“ - beim Filmfestival von Venedig vorgestellt worden. Es ist, trotz der intensiven Geburtsszene der doch intimere Film der beiden, auch, weil er aus einer weiblichen Perspektive auf den „Wilden Westen“ blickt und etliche Klischees aushebeln kann. Fastvold besetzte Kirby und Katherine Waterston inmitten des ruralen Upstate-New-York der 1850er Jahre als zwei verheiratete Frauen, die in Leidenschaft für einander brennen, diese aber nur im Geheimen ausleben können. Beide glänzen in einer minimalistisch aufgebauten Performance aus zaghaften Annäherungsversuchen und großen Gefühlen. Es sind Blicke, Gesten, die zwischen dem Ausgesprochenen liegen, wo Vanessa Kirby groß aufspielen kann. Sie ist eine Schauspielerin, die zwischen den Zeilen spielen kann.
FORDERND „Nach meiner Rolle in ‚The Crown‘ als Prinzessin Margaret habe ich versucht, forderndere Rollen zu finden“, sagt Kirby. „Das ist mir gelungen, und vor allem in ‚Pieces of a Woman‘ gehörte dazu auch eine intensive Recherche. Eine der Frauen, mit denen ich vorab sprach, hat es geschafft, mir zu vermitteln, wie sich das Leben nach einem solchen Ereignis anfühlt. Sie sagte, dass sie sich auf dem höchsten Berg der Welt wähnte und in den Wind schrie, während alle anderen Menschen, alle ihre Lieben, ihr Leben fortsetzten, als wäre nichts passiert“, so Kirby. „Das ist ein Gedanke, der mich sehr beeindruckt hat. Die Einsamkeit und Isolation dieser Frauen, das sind die Gefühle, die ich im Film darzustellen versuchte“. „The World to Come“ war für Kirby eine ganz gegensätzliche Erfahrung, aber mindestens genauso intensiv. „Es geht um Frauen aus einer anderen Zeit, die ihre Gefühle nicht ausleben durften“, so Kirby. Beide Filme zeigen, wie sehr Kirby die Herausforderung und das Wagnis sucht, anstatt es sich im Netflix-Einheitsbrei gemütlich zu machen. Wobei: „Pieces of a Woman“ ist eine Netflix-Produktion; der Streaming-Riese weiß eben, dass Wagnis zum Filmgeschäft gehört, eine Tatsache, die man in manchem Hollywood-Studio längst vergessen hat.
Kirby zeigt sich jedenfalls dankbar für die beiden Filme. „Ich liebe tiefe Charaktere, ich bin mit Heldinnen aufgewachsen, die von Tschechow, Ibsen, Shakespeare geschrieben wurden, ich liebe griechische Tragödien“. Aber, und das ist vielleicht ihr großer Vorteil für eine lang währende Karriere: Sie scheut auch den Mainstream nicht: „Ich mag es auch, mich ins Unbekannte zu stürzen und das zu tun, was mir am meisten Angst macht. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit Action, und neben Tom Cruise am Set von ‚Mission: Impossible‘ zu sein, war eine großartige Schule“.
Nachsatz: „Das Kunstkino bleibt aber definitiv meine Heimat, denn darin kann ich mich verlieren“. PAUL HEGER
Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó drehte mit Kirby „Pieces of a Woman“
Kirby mit Shia LaBeouf in „Pieces of a Woman“ Die meisten Kinos, darunter das Wiener Votivkino, öffnen wieder am 19. Juni.
Lesbische Liebe: Kirby und Katherine Waterston in Mona Fastvolds „The World to Come“
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KORNÉL MUNDRUCZÓ IM INTERVIEW: SO NAH RAN WIE MÖGLICH
INTERVIEW. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó drehte mit „Pieces of a Woman“ ein nahegehendes Geburtendrama. Im exklusiven celluloid-Gespräch verrät der Regisseur, wie persönlich diese Geschichte für ihn ist. Filmkritik auf Seite 39.
Es ist eine der intensivsten Filmszenen der letzten Jahre: Die beinahe halbstündige, ohne einen einzigen Schnitt auskommende Eröffnungsszene zu „Pieces of a Woman“ (neu auf Netflix), in der das junge Paar Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf) sich auf die Hausgeburt ihres ersten Kindes vorbereitet. Zunächst scheint alles normal, doch es gibt bald Komplikationen. Die Hebamme lässt die Rettung rufen, doch die kommt zu spät. Es wird ein ungeheurer Schicksalsschlag für das Paar, das nun in einer quälenden Trauerarbeit auch die Schuldfrage stellt. „Pieces of a Woman“ reüssierte beim Filmfestival von Venedig im September, wo man Vanessa Kirby den Darstellerpreis überreichte. Ihre Performance gehört zu den Höhepunkten des Filmjahres und dürfte ihr auch eine Oscarnominierung einbringen. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó („Underdog“), bisher eher im Arthaus-Kino daheim, legt mit dem Drama sein englischsprachiges Filmdebüt vor.
Im Interview in Venedig ließ er – trotz Sicherheitsabstand und Masken – tief blicken, was die Motivation für diesen Film angeht.
celluloid: Mit knapp 25 Minunten Länge zeigen Sie in „Pieces of a Woman“ eine Eröffnungsszene, die emotional intensiver nicht sein könnte – und das alles in einer Einstellung, ganz ohne Schnitt.
Kornél Mundruczó: Ich wollte, dass die Zuschauer so nah an Martha und ihrem Schicksal dran sind wie möglich. Wie kann ich diese große Nähe herstellen? Wie kann ich ihre Erlebnisse mit dem Publikum so intensiv wie möglich teilen? Und wie kann ich meine Erfahrungen als Vater da mit einfließen lassen? Das waren die Grundfragen am Anfang dieses Projekts. Es ging mir dabei um einen sehr physischen Zugang zu der Szene, und zugleich wollte ich zeigen, wie wir die Kontrolle verlieren können in unserem Leben, und dass es dafür gar nicht viel braucht.
Das Konzept der Unmittelbarkeit lebt von einer großen Verdichtung.
Sie haben recht, die Szene ist sehr komprimiert. Ihnen mögen die 25 Minuten auf eine Weise qualvoll vorgekommen sein, aber im echten Leben dauern Geburten auch mal acht oder zehn oder 24 Stunden. Das also zu einer solchen Essenz zu verdichten, war mein Ziel.
War es auch das Ziel, hier gänzlich ohne Schnitt auszukommen?
Ja. Ich wollte eine Art Dancefloor für die Schauspieler kreieren, wo sie sich selbst durch alle Phasen dieser Geburt bewegen konnten. Wo sie die Emotionen ausleben und ausdrücken konnten, so wie sie sie gerade empfinden. Das war auch logistisch eine ganz schöne Herausforderung, diese Szene so ganz ohne Schnitt hinzubekommen, und am Ende waren wir künstlerisch alle sehr glücklich damit.
Sie erwähnten, dass das ein sehr persönlicher Film ist. Inwiefern? Wieviel von der Erfahrung dieses ungeheuren Verlusts kennen Sie selbst?
Meine Erfahrungen sind sehr nahe an denen, die mein Film-Paar macht, wobei ich sagen muss, dass ich keine Totgeburt miterleben musste. Aber ich kann die Gefühle teilen, die man erlebt, wenn man von einem ungeborenen Baby Abschied nehmen muss. In meinem Fall war es nicht so drastisch und zugespitzt, wie ich das im Film erzähle. Und nicht jedes Detail meiner Geschichte hat es in den Film geschafft. Aber was ich herausgefunden habe, ist: Die Geburt und der Tod sind einander näher als wir denken. Das ist Teil unserer Humanität. Jeder wird geboren und jeder wird sterben. In unserer Gesellschaft hat sich zu diesem Thema ein Tabu entwickelt, das wir nicht zu brechen imstande sind.
Drehbuchautorin Kata Wéber und Regisseur Kornél Mundruczó beim Filmfestival Venedig 2020.
KORNÉL MUNDRUCZÓ
REGISSEUR „PIECES OF A WOMAN“
Woran liegt das?
An Verdrängung. Der animalische Akt der Geburt wird zusehends aus unseren Augen verdrängt. Die Geburt soll heute möglichst steril, schmerzfrei und mit einem sauberen Schnitt erfolgen. Niemand soll leiden. Herausschneiden, kein stundenlanges Prozedere, man fühlt sich gut und schmerzfrei und darf bald nach Hause. Und dann kommt die große Depression, verstehen Sie?
Die technischer werdende Geburt nimmt uns als Menschen auch etwas weg: Im Film zeigen Sie, wie wir in dieser Situation zurückgeworfen werden können auf die ganz grundsätzlichen Dinge des Lebens.
Ich stimme Ihnen zu. Aber ich bin, genau wie Sie, bei dem ganzen Akt der eher unnötige Teil. Also nicht ganz unnötig, denn ein Kind muss gezeugt werden, aber die Geburt liegt in der Hand der Frau, und es passiert nicht selten, dass man ihr das Recht auf den eigenen Körper verwehrt, weil es eben gewisse technische Möglichkeiten gibt.
Nach dem Tod des Kindes gibt es verschiedene Inputs vonseiten der Familie, das betrifft Begräbnis, Anklage gegen die Hebamme, und auch das Weiterleben. Das geht alles so verdammt schnell.
Ja, denn alle um das Paar herum wollen die Situation bewerkstelligen, damit „fertig werden“. Jeder hat eine andere Perspektive auf die Ereignisse, alle wollen, dass man „endlich weiterlebt“. Aber eine Mutter, die das erlebt hat, will nicht „weiterleben“. Denn auch, wenn ihr Kind gestorben ist bei der Geburt, ist es immer noch ihr Kind. Sie fühlt sich als jemand, der sich selbst betrügt, wenn man einfach so täte, als wäre nichts passiert. Da gibt es sehr viele Widersprüche, wie man damit umgeht. Martha ist äußerlich so gefühlskalt, wenn es um das Leben danach geht, aber zugleich hat sie ein so reiches Innenleben, dass einem eiskalt wird. Das wollten wir in diese Figur verpacken, und das war schwierig. Unter der Oberfläche zu bleiben und dort zu brodeln. Vanessa Kirby hat das famos interpretiert, finde ich.
Wie sind Sie auf Vanessa Kirby aufmerksam geworden?
Ich war ein Fan der Serie „The Crown“ und ihrer Darstellung von Prinzessin Margaret. Sie fühlte sich wie eine richtige, frische Wahl an. Ich finde, dass sie die Aura einer europäischen Ikone mit sich bringt, wie eine Deneuve, eine Schygulla, eine Cardinale. Das ist genau sie. Das liebe ich, dieses Klassische. Und genau danach habe ich gesucht. Als ich das Projekt begann, hatte ich ganz oft zwei Maler im Kopf, der eine war Lucian Freud und der andere war Balthus. Beide sind sehr klassische Maler. Ich wollte, dass die Hauptfigur hier diesen klassischen Typ repräsentierte, und Vanessas Körpersprache und ihr Innenleben passen hier perfekt zu der Figur, die sie spielt.
Kirby kann ihr Innenleben in der Rolle in nur einem Gesichtsausdruck spüren lassen.
Ja, das dachte ich auch, als ich sie das erst mal traf. Der Film ist ihre erste Hauptrolle und er ist mein erster englischsprachiger Film. Wir sind also quasi Erstlingsfilmer, obwohl wir beide eine reiche Geschichte haben. Für sie gab es bisher das Fernsehen, für mich ungarische Arthausfilme.
Wie passt Shia LaBeouf da hinein?
Das ist Teil des Konzepts: Er passt eben nicht rein, er ist wie ein Außenseiter in dem Film, in dieser Familie. Shia war so begeistert von diesem Film und dieser Idee, ihn dafür zu besetzen, weil er genau so eine Herausforderung suchte. Beide Schauspieler sollten im Zusammenspiel zeigen, wie Martha aus dieser Trauer einen Frieden für sich selbst machen konnte. Und das war ein gewaltiger