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FILMPROGRAMME: Zwei neue Bücher widmen sich diesem verschwunden geglaubten Medium. Autor Herbert Wilfinger im Gespräch über die Lust am Sammeln und die Funktion der Programme für die Filmgeschichte
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FILMPROGRAMME: KINOLUST AUF VIER SEITEN
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Herbert Wilfingers monumentales, 2-bändiges Buchprojekt „Kino zum Mitnehmen“ (Verlag Filmarchiv Austria) feiert das Filmprogramm, ein legendäres Kinomedium.
Noch gibt es sie, die hartgesottenen Filmfans. Die, die sie alle haben: Die Filmprogramme, dereinst kleine, papierene Beigaben zum Kinoticket, die man sammeln konnte. Stolze Sammler brachten und bringen es auf mehrere Tausend Exemplare. Zu fast jedem Kinofilm ist eines erschienen, damals in der großen Zeit des Kinos, in den 50er und 60er Jahren.
Herbert Wilfinger ist auch so ein Sammler. Der Wiener Filmjournalist und Begründer des Filmpreises „Der papierene Gustl“ hat nicht weniger als 23000 Filmprogramme gesammelt, „das sind gut 98 Prozent aller je erschienenen Filmprogramme der Tonfilmzeit“, sagt Wilfinger. „Ich habe sie in meinem Büro und eigenen Räumen untergebracht, ich bin nun mal ein alter Sammler“. Und das nicht nur, weil er Filme liebt. Wilfinger ist jener Mann, der bis heute regelmäßig Filmprogramme gestaltet, die dann über eine Druckerei in Klosterneuburg produziert werden. Aber er gibt unumwunden zu: „Der Markt ist sehr klein geworden“.
Früher, da konnte man die gedruckten, reich bebilderten Filmprogramme an jeder Kinokassa kaufen, inzwischen haben sich ab 2018 sämtliche Kinos davon verabschiedet: „Nur das Wiener Burgkino verkauft noch ein Filmprogramm: Es ist jenes zum Klassiker ‚Der dritte Mann‘“, sagt Wilfinger mit traurigem Unterton. Aber dennoch arbeitet er ohne Unterlass daran, Woche für Woche neue Filme zu besprechen. „Derzeit mache ich gut 20 Programme in der Reihe Filmindex im ‚Neuen Filmprogramm‘ pro Monat“, so Wilfinger, der auf eine treue Abo-Gemeinde verweisen kann. Rund 250 Abonnenten erhalten regelmäßig die neuesten Filmprogramme. „Die meisten Sammler sind über 60“, sagt Wilfinger. Es ist eine analoge Generation, die Sammeln zu einer Zeit gelernt hat, die weniger flüchtig und digital war als heute.
ZWEI OPULENTE BÄNDE Jetzt hat Herbert Wilfinger seine eigene Sammlung, seinen Erfahrungsschatz und sein historisches Filmwissen zu einer publizistischen Großtat vereint: Im Verlag Filmarchiv Austria ist unter dem Titel „Kino zum Mitnehmen“ in zwei Bänden mit insgesamt über 1200 Seiten Umfang und 2120 Abbildungen ein monumentales Buchprojekt zustande gekommen, in dem Wilfinger die Geschichte der heimischen Filmprogramme nachzeichnet. Von den Anfängen um 1911 über die Hoch-Zeit des Mediums bis zu seinem Niedergang und zu neueren Heften, die sich ausführlicher mit den besprochenen Filmen befassen. Weil man anhand des Filmprogramms auch gut ablesen kann, wann welche Art von Filmen herausgekommen sind, wie sie rezipiert wurden und - im Rückblick - wie sie die Filmgeschichte fortgeschrieben haben, liest sich dieses überaus reich bebilderte Buch-Duo auch wie ein Who-is-Who der Filmgeschichte. Es birgt einen wissenschaftlichen Ansatz, bei dem die Filmpublizistik in all ihren Facetten beleuchtet wird, darunter die akribische Leistung und Illustration der Stummfilm-Titel, der Tonfilmprogramme ab 1930, der verschiedenen Reihen und Verlage, die sich um die Veröffentlichung kümmerten. Zugleich ist Wilfingers Werk aber auch gespickt mit Bonmots und Anekdoten zum Film, die
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Nostalgiker und Historiker gleichermaßen frohlocken lassen dürften. Eine Reflexion von über 100 Jahren Film- und Kinogeschichte, die in ihrer analogen Form jedes Bücherregal adelt.
IN DEN USA UNBEKANNT Die Filmprogramme waren durchaus lokale Phänomene: „Was in Österreich, Deutschland und der DDR jedem älteren Kinogeher durchaus vertraut ist und meist nostalgische Erinnerungen weckt, ist beispielsweise einem amerikanischen Filmenthusiasten so gut wie unbekannt“, so Wilfinger. „Zwischen Heft, Broschüre und Zettel variierend, mit wechselndem Seitenumfang, von einem Blatt bis zu vierzig Seiten, sind sie für heimische Filmfreunde über viele Jahre hinweg beliebte Mitbringsel und persönliche Erinnerungen an so manches unvergessliche Kinoerlebnis. Aber selbst, wenn der Film hinter den persönlichen Erwartungen zurückblieb, war das Programm Beleg für diese eventuelle Enttäuschung. Ein kleiner Schnipsel des jeweiligen Films für die private Sammlung, lange noch, bevor sich die Möglichkeit bot, Film-Erinnerungen via Band, Kassette oder DVD zu archivieren und so möglicherweise einer neuen Prüfung zu unterziehen“.
Gesammelt wurden die Programme erst ab circa 1930, denn davor gab es keine Nummerierungen der einzelnen Serien. In der Frühzeit des Kinos dienten diese Programme vor allem dazu, den Kinobesuchern den Film vorab zu erklären, weil viele Zuschauer an die neuen dramaturgischen Fähigkeiten des noch relativ jungen Mediums Film nicht gewohnt waren und so manche Wendung vielleicht gar nicht mitbekamen. Umso wichtiger war, dass man das Geschehen im Programm nachlesen konnte (In Theater und Oper sind Programme bis heute gern gekauftes, aber auch umfangreicheres Erinnerungsobjekt eines Besuchs).
NETFLIX-PROGRAMME Inzwischen sind allein in der Reihe „Neues Filmprogramm“ mehr als 14400 verschiedene Ausgaben erschienen. Dort hat man sich häufiger dem breitunwirksamen Kino gewidmet. Herbert Wilfinger selbst hat mit der Reihe „Filmindex“ dann auch eine Serie für das Arthaus-Kino herausgebracht, weil es für diese spezielleren, künstlerischen Produktionen kaum Programme bei anderen Verlagen gab. „Und heute? Heute machen wir sogar
Gesammelt wurden die Programme erst ab circa dienten diese Programme vor allem Programme zu Netflix-ProProgramme zu Netflix-Produktionen“, sagt Wilfinger. Zuletzt erschienen etwa Hefte zu „Mank“ oder „Hillbilly Elegy“, beides Filme, die erst kürzlich bei Netflix gestartet sind. Im Corona-Jahr ist man halt auch da gezwungen, neue Wege zu gehen. Dass Filmprogramme vor allem in der Frühzeit des Kinos so beliebt waren, hatte neben dem Sammler- und Erklär-Aspekt noch einen weiteren Grund. „Vor allem in der Stummfilmzeit hat die Zensur ab 1911 viele Filme arg verstümmelt. Viele Szenen wurden herausgeschnitten, oftmals entstanden so regelrechte Handlungslücken“, weiß Wilfinger. „Das Filmprogramm konnte hier als Brücke dienen: Dort konnte man Szenen nachlesen, die im Film rausgeschnitten wurden“. FILMTITEL-CHAOS Die Programme waren stets mehr Beschreibung als Kritik, man machte Werbung für den Film, und das im eigenwilligen Format 161 x 239 Millimeter, das keiner gängigen Din-Skala entspricht. „Wie man auf das Format gekommen ist, ist ein Rätsel“, sagt Wilfinger, der sich noch an das erste von ihm gestaltete Filmprogramm erinnert. „Das war 1983 ‚Der schwebende Schritt des Storches‘ von Theo Angelopolus. Dieses Programm hatte ich aus Kostengründen damals in der Gefängnisdruckerei herstellen lassen“, erinnert sich Wilfinger, dessen Buch auch in Details darauf eingeht, wie unterschiedlich Filme und Filmtitel in der Filmgeschichte gehandhabt wurden. „In der Stummfilmzeit wurden die kürzeren, 20-minütigen Einakter oft von Bezirk zu Bezirk anders betitelt“. Da waren dann auch einheitliche Programme nur schwer herzustellen. Oftmals mussten auch verschiedene Programme in Deutschland und Österreich erscheinen, weil der Titel abgeändert wurde. „In Deutschland hieß der Film ‚Kuck mal wer da spricht‘, in Österreich ‚Schau mal wer da spricht’. In
Mr. Filmprogramm: Der Wiener Filmjournalist und -historiker Herbert Wilfinger und sein zweibändiges Monumentalwerk „Kino zum Mitnehmen. Filmprogramme in Österreich 1896-2020 (Herbert Wilfinger, Verlag Filmarchiv Austria. Band 1: Geschichte und Systematik, Band 2: Die österreichischen Filmprogrammserien. Je 600 Seiten, 49,90 Euro)
Österreich hieß ‚Happy End am Attersee‘ so, weil der Film am Attersee spielte. Für den deutschen Markt änderte man den Titel in ‚Happy End am Wörthersee‘. Der war dort offenbar bekannter“, erzählt Wilfinger. Die „Blume von Hawaii“ wiederum erschien hierzulande als „Die Blume der Südsee“ - man war nicht so sicher, ob die Österreicher Hawaii anno 1953 richtig verorten konnten.
Dass die Filmprogramme ein deutschsprachiges Phänomen sind, ist nicht ganz richtig, sagt Wilfinger. Zwar war hier die Verbreitung am größten, aber es gab auch in Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei oder in Portugal rege Publikationstätigkeit. „Das Filmprogrammland Nummer eins ist bis heute aber Japan“, sagt Wilfinger. Dort machen die Verleiher selbst die Programme, der Grund für die Beliebtheit ließe sich aber nicht klären, sagt der Autor.
Geklärt werden kann aber die Bedeutung der Filmprogramme für die Rezeptionsgeschichte von Filmen, zumindest im deutschsprachigen Raum. Souvenir, Informationsmaterial, Sammlerstück: „Die Filmprogramme sind alles drei, sie waren zu einer Zeit, in der man nur sehr wenige Informationen über Filme erhalten konnte, ein wesentlicher Faktor“, sagt Wilfinger. Manchmal ist die Bedeutung sogar in ganz hohe Filmemacherkreise vorgedrungen. Regisseur Stanley Kubrick, der als überaus pedantisch galt, soll davon erfahren haben, dass es ein Filmprogramm zu seinem Film „Uhrwerk Orange“ (1970) erstellt werden sollte. Erbost hat er sich persönlich eingeschaltet und darauf bestanden, dieses Filmprogramm selbst zu gestalten.
Wilfinger ist mit dem nun zu Papier gebrachten Erfahrungen und Sammlungen zufrieden. Nur die Zukunft der Filmprogramme sieht er im Ungewissen. „Das Medium lebt noch, es ist schwierig, einen Abschluss zu finden, solange es Filme gibt“, sagt Wilfinger. Nachsatz: „Aber eines weiß ich: Wenn es mich nicht mehr gibt, gibt es vermutlich auch die Filmprogramme nicht mehr“. MATTHIAS GREULING