celluloid 3/2020

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ESSAY

DER REAL EXISTIERENDE

KINO-ESKAPISMUS Das Kino als Ort für Eskapismus hat uns das Virus monatelang genommen. Ein Anlass, über das Ausbrechen aus dem Welten-Dilemma nachzudenken.

Z

ugegeben, die Perspektive war erdrückend: Erst mit Juni haben in Österreich die Kinos wieder zaghaft ihre Pforten geöffnet, dabei war es gerade dieses Medium, das uns in überlebensgroßer Form vorgeführt hat, was es heißt, den kompletten Eskapismus zu leben: Auszubrechen aus der Hektomatikwelt, hinein ins Superheldenkostüm, oder: es zumindest andere für einen machen zu lassen. Sich wegzudenken aus der eigenen Misere, Trauer, Mittellosigkeit, in die Welt von fantastischen Geschichten oder auch realen Erzählungen, nur eben nicht: Geschichten über einen selbst. Das Kino hat seine Funktion als Ort des Ausbruchs immer wieder mit Wonne thematisiert. Manche Filmwissenschaftler sind überzeugt, dass das Kino seiner ursprünglichen Bedeutung als Jahrmarktattraktion schnell verlustig ging, sobald es von Regimen wegen seiner Propagandatauglichkeit ausgebeutet wurde. Ein Blick aufs hiesige Filmschaffen genügt: Vorm Krieg Lustspiele und Deutschtümelei sowie Patriotismus auf der Leinwand. Im Krieg noch mehr Patriotismus und bald auch Durchhalteparolen. Und nach dem Krieg: Lustspiel und Romanzen, ja, die gute Sissi als Paradebeispiel für real existierenden Kinoeskapismus! Im Kino gab es als Entlohnung eine schier unbezahlbare, fröhliche Lebenseinstellung. Etwas, was wir auch in Corona-Zeiten gut gebrauchen könnten. Was liegt da näher, als ein paar wirklich lohnende Film über wörtlich und metaphorisch gemeinte Ausbrüche vorzustellen, die ohne die 08/15-Dramaturigen aus dem Netflix-Universum auskommen? Da gibt es zum Beispiel die Filme, die das eigene Ausbrechen aus dem Trott ermöglichen. Die „Sissi“-Trilogie gehört dazu, und zwar so sehr, dass man sie im ORF allweihnachtlich zur Sedierung entnervter Großeltern-Eltern-Kind-Konstellationen ins Nachmittagsprogramm einstreut. Der Kaiser lässt sich von einem 16-jährigen Backfisch namens Sissi auf seinem Weg nach Ischl (nicht: Ischgl!) mit einer Angelrute 26

angeln - um gleich ein Leben lang bei ihr zu bleiben. Ernst Marischka als Regisseur ist da ein oscarreifer, dramaturgisch mustergültiger Rattenfänger gelungen, der memorable Charaktere zeichnete: Ganz abgesehen vom Kaiser und seiner Sissi wurden die böse Schwiegermutter und deren schwerhöriger Gatte ebenso berühmt wie der schusselige Obert Böckl oder die bitter enttäuschte Nene, mit der Franz Joseph eben nicht den Cotillion tanzte. Aber eigentlich deprimiert uns „Sissi“ in diesen Tagen: Bei all den rauschenden Festen im Film wird man unweigerlich an die Abstandsregelungen erinnert. Wobei: Die Reifröcke der Damen machten ein Zunahekommen damals ohnehin schwer. ZEIT ZUM VERGESSEN Wer vergessen möchte, dem empfehlen sich natürlich auch die Technicolor-Streifen, in denen gesungen und getanzt wird - Musicals waren Hollywoods verlässlichste Garanten für etwas Zerstreuung; manche behaupten sogar, die „Great Depression“ der 30er Jahre hätte man nur dank dieses Genres überleben können. Unvergessen sind Gene Kelly und Debbie Reynolds in „Singin’ in the Rain“ (1952), aber auch kultige andere Vertreter wie „The Band Wagon“ (1953), „The Blues Brothers“ (1980, oh yeah!) oder „Little Shop of Horrors“ (1986). Aber auch die großen Liebesfilme eigenen sich doch für einen Moment Eskapismus: „Vom Winde verweht“ (1939), wenn man ihn denn als Liebesfilm bezeichnen mag, wartet mit dieser wunderbaren Romanze zwischen Rhett Butler (Clark Gable) und Scarlet O’Hara (Vivien Leigh) auf, bei der die eingeschworenen Fans des Films eigentlich nur deshalb zuschauen, weil sie Leigh maßlos bewundern, wie sie die Dauer-Alk-Fahne ihres Gegenübers so wunderbar hat wegspielen können. Ziemlich nahe kamen sich auch Doris Day und Rock Hudson in „Bettgeflüster“ (1959) in dem beide aus ihren Alltagen ausbrachen, um zueinander zu finden.

CELLULOID FILMMAGAZIN


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