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Altes Tōkyō, neues Tōkyō
Altes Tōkyō, neues Tōkyō ZWEI GESICHTER EINER STADT
Jahrhunderte alte Traditionsviertel reihen sich an kunstvolle Bauwerke der technologisierten Moderne – Tōkyōs faszinierendes Erbe alter Zeiten ist oft nur einen Schritt von innovativen Zukunftsideen entfernt. (Text: Matthias Reich)
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ie Hauptstadt Japans wird mit vielen Dingen assoziiert – mit übervollen Bahnen oder unzähligen Brücken und Tunneln als Ausdruck eines gewaltigen Molochs mit mehr als 37 Millionen Menschen, die in der gesamten Metropolregion leben. Eine moderne, hocheffiziente Stadt ohne viel Grün, die den Großteil ihrer Geschichte einbüßte, da sie gleich zwei Mal im vergangenen Jahrhundert nahezu vollständig dem Erdboden gleichgemacht wurde. Einige Reiseführer empfehlen, sich Tōkyō erst einmal per günstiger Rundfahrt mit der Yamanote-Ringlinie anzusehen. Doch der dadurch entstehende Eindruck trügt, denn Tōkyō kann nicht nur kosmopolitisch. Man braucht sich in der Stadt oftmals nur 100 Meter von einer der großen Straßen zu entfernen, um sich plötzlich in einer anderen Welt wiederzufinden. Mitten in einem Dorf zum Beispiel, vor einem kleinen, uralten Schrein, einer Gasse mit Geschäften, die seit Jahrzehnten unverändert sind oder einem öffentlichen Bad, in dem man sich vom Stress der Großstadt erholen kann.
Erstaunlich viel ist in Tōkyō erhalten geblieben, trotz verheerendem Erdbeben und Krieg. Zahlreiche alte Stadtviertel haben ihren Charakter bewahren können: Dort, wo vor Jahrhunderten hauptsächlich Bücher verkauft wurden, werden auch heute noch welche angeboten. Dort, wo früher die besten und feinsten Stoffe gehandelt wurden, werden diese noch heute genäht und gehandelt. Gold und Kochutensilien werden im selben Viertel vertrieben wie noch in der Edo-Zeit vor über 300 Jahren. Die berühmten matsuri-Festivals werden immer noch dort gefeiert, wo sie einst gefeiert wurden – auf unveränderte Art und Weise. Tōkyō ist nicht gleich Tōkyō. Es gibt die moderne, glitzernde Hauptstadt, doch überall lugt auch das Tōkyō vergangener Zeiten hervor. Man muss es nur suchen, und man muss natürlich wissen, wo – schließlich war die heutige Millionenstadt früher deutlich kleiner.
ALTES TŌKYŌ
Wer das wahre japanische Leben schnuppern möchte, begibt sich in das shitamachi einer Stadt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein stand in vielen Städten eine Burg im Zentrum – die unterhalb dieser Burg gelegenen Viertel shitamachi („Unterstadt“) waren für das „gemeine Volk“ vorgesehen. Grundzüge vieler dieser Viertel sind bis heute erhalten. Tōkyō, bzw. das alte Edo, hatte bereits im 18. Jahrhundert rund eine Million Einwohner, und eine entsprechend große Unterstadt, die sich nördlich des Kaiserpalastes erstreckte.
NEUES TŌKYŌ
Nur wenige Kilometer liegen zwischen der rustikalen Unterstadt und den moderneren Stadtteilen – doch der Unterschied könnte größer nicht sein. Tradition auf der einen Seite, Innovation auf der anderen, und das alles dicht an dicht. Ein Blick auf das verwirrende Streckennetz der Bahnlinien täuscht nicht selten eine große Distanz zwischen den Orten vor. Dabei ist man manchmal nur ein paar Minuten zu Fuß unterwegs, um sich plötzlich in Gegenden wiederzufinden, die wie eine völlig andere Stadt wirken.
YANAKA
Zeitreise ins Tōkyō der Nachkriegszeit
Rund fünf Kilometer nördlich des Kaiserpalastes und in Laufweite des Bahnhofs Ueno liegen die Stadtviertel Yanaka und Nezu, in denen auf Schritt und Tritt Überraschungen warten. Die Gegend ist erstaunlich hügelig. Es gibt zahlreiche steile Treppen, sehr enge Gassen und einen wunderschönen, fotogenen Schrein, den Nezu-Schrein. Richtig aufregend wird es in der Yanaka Ginza, der Haupteinkaufsstraße des Viertels. Als Ginza kennt man die international bekannte, lange und sehr teure Shoppingmeile von Tōkyō, doch der Begriff wird auch allgemein für Einkaufsstraßen verwendet. Die Yanaka Ginza besticht durch ihre viele kleinen Geschäfte und Restaurants – die meisten unprätentiös und kaum verändert seit der Nachkriegszeit. Hier können Besucher noch etwas Luft der Shōwa-Ära schnuppern, benannt nach dem Kaiser, der von 1926 bis 1989 auf dem Chrysanthementhron saß. Mit „Shōwa“ assoziiert man in Japan im Übrigen hauptsächlich die 1950er bis 1980er Jahre, also die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Nähe von Yanaka laden für alle, die genug vom Einkaufsbummel haben, einige sehenswerte Museen zum Schwelgen ein.
SHIBUYA
Moderne Kultur auf engstem Raum
Nur wenige Orte Tōkyōs haben sich in den letzten Jahrzehnten so grundlegend verändert wie Shibuya: Gab es hier in den 1950ern maximal zweistöckige Gebäude und einfache Hütten, so ist es heute eine Ansammlung hochmoderner Wolkenkratzer, wegweisender Modekaufhäuser und beeindruckender Kultureinrichtungen. Das Einzige, was sich in all der Zeit nicht verändert hat, ist die Statue des treuen Hundes Hachikō direkt auf dem Bahnhofsvorplatz – heutzutage ist sie ein beliebter Treffpunkt vor einem ausgiebigen Einkaufsbummel. Shibuya ist nicht nur ein Shopping-Paradies, sondern auch der zweitgrößte Bahnhof (nach Passagieraufkommen) der Welt, unterhalb dessen es noch ein paar Etagen in die Tiefe geht. Shibuya ist jedoch noch lange nicht fertig: Noch immer arbeitet man mit Hochdruck an der Umgestaltung dieses für das neue Tōkyō so symbolträchtigen Stadtviertels. Das lässt sich besonders eindrucksvoll von der Dachterrasse des nagelneuen, 230 Meter hohen Shibuya Scramble Square beobachten, die stellenweise nur mit einer schulterhohen Glasbrüstung gesichert ist und maximalen Nervenkitzel verspricht.
SUGAMO
Unterstadt mit Herz und Flair
Während die jungen Menschen in Scharen in das trendige Harajuku und Shibuya pilgern, um den neuesten Modetrends zu folgen, gilt Sugamo am nördlichen Scheitelpunkt der Yamanote-Linie als das „Harajuku der Großmütter“. Schuld daran ist wohl der legendäre Togenuki Jizō, eine buddhistische Statue mitten in Sugamo. Dieser werden Heilkräfte nachgesagt – wäscht man sie an der Stelle, an der es einem selbst gebricht, dann soll sich der eigene Zustand bald bessern. Das zieht natürlich vor allem die betagtere Kundschaft an, die mit Eifer die Statue wäscht. Doch Vorsicht ist geboten: Bei dem Ritual ist man natürlich gänzlich den neugierigen Blicken des wartenden Publikums ausgesetzt! In der nach der Statue benannten Jizō-dōri, eine lebhafte und charmante Einkaufsstraße, kann sich der Besucher an zahllosen kulinarischen Köstlichkeiten laben und zusehen, wie japanische Seniorinnen knallrote Unterwäsche kaufen. Warum ausgerechnet rot? Die Farbe symbolisiert Glück und Langlebigkeit, weshalb sie besonders bei der älteren Bevölkerung beliebt ist. Und wie auch in Yanaka werden viele dieser Geschäfte schon seit Generationen mit Herzblut geführt.
Nihonbashi, wörtlich „Japanbrücke“, liegt am nördlichen Ende der Ginza-Meile, Tōkyōs längster Häuserschlucht gesäumt von edlen Kaufhäusern. Hier befindet sich der Schnittpunkt zwischen dem alten und neuen Tōkyō. Die Brücke existiert seit 1604, doch wurde sie immer wieder neu gebaut. Die heute sichtbare, steinerne Brücke ist die 20. Version und stammt aus dem Jahre 1911. Nihonbashi war jahrhundertelang der Ausgangspunkt fünf bedeutender Handelsstraßen, von denen Waren nach ganz Japan transportiert wurden. Das Viertel repräsentiert auch das städtebauliche Dilemma der Hauptstadt, denn wegen Platzmangels wurde direkt über der Brücke die Stadtautobahn gebaut, was viele als störend empfinden. Dennoch gehört die Autobahn über der altehrwürdigen Nihonbashi einfach zu Tōkyō dazu, genauso wie die monumentalen Steinbauten der Ginza-Meile, die um 1900 errichtet wurden. Und noch eine Kleinigkeit: Während Nihonbashi heute ein paar Kilometer landeinwärts liegt, befand sich der Ort vor Jahrhunderten noch fast direkt am Meer. Das gesamte Gebiet östlich der Ginza wurde nämlich seit dem 17. Jahrhundert mühsam dem Meer abgerungen.
NIHONBASHI
Begegnung des Alten mit dem Neuen
ASAKUSA
Traditionsreiches Tempelviertel
Das quirligste traditionelle Stadtviertel Tōkyōs findet der Reisende in Asakusa, mit der großen, prächtigen Tempelanlage im Mittelpunkt, die zwar mit den gleichen Schriftzeichen wie „Asakusa“ geschrieben wird, jedoch „Sensō“ gelesen wird. Wer hier das Donnertor mit seiner gewaltigen Laterne im Torbogen passiert, wird umgehend in eine alte und fast vergessene Welt versetzt. Die Nakamise-dōri, die Straße zwischen dem Tor und der Haupthalle des Sensōji-Tempels, präsentiert sich seit Jahrhunderten in ihrer ursprünglichen Pracht. Unzählige kleine Läden reihen sich hier aneinander, in denen man nach landestypischen Souvenirs und vielen traditionellen Leckerbissen jagen kann. Wer hier kein passendes Mitbringsel findet, ist nicht wirklich auf der Suche nach einem. Je näher man der Haupthalle kommt, desto eindringlicher wird ein ungewohnter, aber wohliger Geruch, denn vor dem Tempel werden tagtäglich hunderte japanische Räucherstäbchen als Opfergabe verbrannt. Doch man sollte es nicht bei einem Spaziergang auf der Nakamise belassen, denn es gibt in den Straßen von Asakusa noch viel mehr zu entdecken.
Keine zehn Minuten zu Fuß von Shibuya entfernt ist man schon wieder in einer anderen Welt – auch diese ist hochmodern, wenngleich die Straße selbst, die Omotesandō, schon seit Jahrhunderten existiert und den Hauptweg zum bedeutenden Meiji-Schrein markiert. Die Allee erinnert etwas an europäische Hauptstädte, doch kaum verlässt man sie, verliert man sich schnell in einem Labyrinth aus zahllosen Gassen mit vielen Boutiquen, Galerien und kleinen Restaurants. Im nahegelegenen Harajuku toben sich vor allem modebewusste Teenager aus. Entlang der Hauptstraße und vor allem rund um die große Kreuzung am Bahnhof Omotesandō wird es gehobener, mit Luxusgeschäften und teils futuristischer Architektur, die mit riesigen Glasfassaden und außergewöhnlichen Formen und Farben spielt. Während die Gegend entlang der Omotesandō gut und gerne als architektonisches Freilichtmuseum gelten kann, sind es auch die Museen und Galerien selbst, die den Besuch unvergesslich machen – allen voran das Nezu-Museum, in dem man beim Anblick japanischer Landschafts- und Architekturkunst richtig entspannen kann.