Adrian Hänni: Terrorist und CIA-Agent. Die unglaubliche Geschichte des Schweizers Bruno Breguet

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Adrian Hänni
und CIA-Agent Die unglaubliche Geschichte des Schweizers Bruno Breguet NZZ Libro
Terrorist

Terrorist und CIA-Agent

Die unglaubliche Geschichte des Schweizers Bruno Breguet

Adrian Hänni
NZZ Libro

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Lektorat: Karin Schneuwly, Zürich Korrektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen Umschlagabbildung: KEYSTONE Umschlaggestaltung: Katarina Lang Book Design, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Finidr, Tschechische Republik

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ISBN Print 978-3-907291-87-0

ISBN E-Book 978-3-907291-88-7

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NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Inhalt

Vorwort 6

Prolog an der Höllenpforte 9 Via Mondacce 11

1969: Als der Nahostterrorismus in die Schweiz kam 18 Der Weg nach Haifa 33 Der Prozess 56 Geheimverhandlungen 71

Im Gefängnis 95 Freiheit für Bruno Breguet! 118

In den Klauen des Schakals 134 Carlos, der «Superterrorist» 144 Münchner Tango 157

Luca und Lilly 164 Syriana 179

Der Verrat 191 Das Verschwinden 211 Anmerkungen 226 Literaturverzeichnis 280

Abbildungsverzeichnis 290

Über den Autor 291

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Vorwort

Den Advent 2017 verbrachte ich mit meiner Frau in Berlin Schöneberg, wo wir uns irgendwo zwischen traditionellen Berliner Kneipen und einer Sardinenbar in einem Altbau einquartiert hatten. An einem kalten Winterabend fand ich in der Wohnung, die wir von einer kurzzeitig verreisten Diplomatin gemietet hatten, ein kleines Wandversteck. Dort lag ein handgeschriebener Brief eines gewissen Bruno Breguet, eines Landsmanns von mir, wie sich bald herausstellen sollte. Das war der Beginn von jahrelangen Recherchen, die letztlich zu diesem Buch führten.

So zumindest würde dieses Vorwort beginnen, wenn die vorliegende Biografie nicht akribisch der historischen Wahrheit verpflichtet wäre, sondern sich gelegentlich journalistische Zuspitzungen erlauben würde. Zwar hatte Breguet tatsächlich einst im selben Berliner Haus (wenn auch nicht in derselben Wohnung) gelebt, in dem ich damals Weihnachten und Neujahr feiern durfte. Das war vor gut vier Jahrzehnten, als Leute wie David Bowie und Iggy Pop das bohemehafte Viertel der geteilten Stadt in Beschlag nahmen. Davon sollte ich allerdings erst viel später erfahren, zu einem Zeitpunkt, als ich längst einen Buchvertrag unterschrieben hatte. In Wirklichkeit stiess ich 2017 auf keinerlei Spuren des (Anti-)Helden dieser Geschichte.

Das Leben von Bruno Breguet ist ohnehin viel verrückter, spannender und rätselhafter als jede Fiktion. Es ist eine Geschichte von (verlorenen) Idealen und (fehlgeleitetem) Idealismus, von Recht und Gerechtigkeit, von Freiheit und Gefangenschaft, von Loyalität und Verrat. Die Vita des Tessiners führt uns zudem in die verborgenen, sich häufig berührenden Welten von Terrororganisationen und Geheimdiensten. So erfährt die Leserschaft etwa, wie Diplomatinnen und Spione in Ost und West terroristische Gruppen infiltriert und zerschlagen, mit ihnen bisweilen aber auch geheime Verhandlungen geführt oder sie sogar unterstützt haben. Nicht zuletzt kreist dieses Buch aber auch um eine Frage, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst hat: Was bewegt einen jungen Menschen, den Weg der politischen Gewalt einzuschlagen?

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Vielen Leuten bin ich zu Dank verpflichtet, weil ohne sie dieses Buch nicht in dieser Form zustande gekommen wäre. Vorneweg dem Historiker Thomas Skelton-Robinson, der mir Zugang zu einem wichtigen Quellenbestand im Hamburger Institut für Sozialforschung ermöglicht hat. Corina Bucher, Robert Wolff und die Journalistenlegende Thomas Scheuer haben mir ebenfalls grosszügig Kopien von Quellenmaterial zur Verfügung gestellt. Helmut Stalder, der Verlagsleiter von NZZ Libro, hat seit dem ersten Moment an dieses Projekt geglaubt. Im Weiteren danke ich den Zeitzeugen, die mir ihre mitunter sehr berührenden Erinnerungen anvertraut haben: Magda Bianchini, Marina Berta, Giorgio Bellini, Olivier de Marcellus, Mauro Cavagna, Sergio Mantovani, Jean-Pierre Garbade und einige mehr haben mir geholfen, Bruno Breguet besser zu verstehen und das aus den Archivquellen gewonnene Bild von ihm zu schärfen. Besonders hervorheben möchte ich drei Persönlichkeiten, mit denen ich stundenlange Gespräche führen durfte und die mich darüber hinaus mit wertvollen Kontakten und Dokumenten unterstützt haben: Breguets Locarneser Freund Gianluigi Galli, sein Schulkamerad und Banknachbar Gianni Quattrini und sein Bruder Ernesto Breguet. Nicht zuletzt mit Blick auf Familie und Freunde ist mit diesem Buch auch ein Funke Hoffnung verbunden: Vielleicht lässt sich über das Schicksal Breguets nach seinem geheimnisvollen Verschwinden im Jahr 1995 doch noch Klarheit gewinnen.

7 Vorwort

Abb. 1: Der Nahe Osten aus der Feder von Bruno Breguet, gezeichnet 1977 für ein frühes Manuskript seiner Gefängnismemoiren.

Prolog an der Höllenpforte

Die Zeiger standen auf halb acht, als die «Enotria» am Morgen des 23. Juni 1970 im Hafen von Haifa anlegte. Unter den Passagieren, die vom Deck des italienischen Dampfschiffs in Richtung Zollstation schlenderten, liess sich ein gut aussehender junger Mann mit kurzen dunklen Haaren und kastanienbraunen Augen ausmachen. Adrett gekleidet, eine Super-8-Videokamera japanischen Fabrikats um den Hals und einen Reisekoffer im Schlepptau gab er einen passablen Touristen ab.1 Dennoch ruhten die Augen des Zöllners lange auf seinem Schweizer Reisepass. Das Dokument schien die Aufmerksamkeit des Beamten geweckt zu haben. Er tätigte einen ersten Anruf, dann untersuchte er sorgfältig Koffer und Videokamera. Unterbrochen wurde er bei dieser Tätigkeit nur von zwei weiteren Telefonaten. Offenbar fragte man ihn am anderen Ende der Leitung nach verschiedenen Passangaben. Während der Zöllner den scheinbaren Urlauber in ein etwas förmliches Gespräch über die Super 8 verwickelte, näherten sich zwei Polizisten in Zivilkleidung.

Die beiden Beamten baten den Schweizer in einen Nebenraum, wo sie sich an die erneute, diesmal akribische Durchsuchung des Koffers machten. Um den Inhalt einer Dose Rasierseife zu überprüfen, schufen sie mit sichtlicher Freude und Bewunderung einen kleinen weissen Berg Rasierschaum auf dem Tisch. Aber da war nichts Verdächtiges. Dasselbe galt für die Videokamera. Erstaunt studierten die zwei Polizisten noch einmal den Reisepass. Schliesslich machte sich einer der beiden an eine Leibesvisitation.

Wenige Augenblicke später sah der vermeintliche Tourist die Läufe mehrerer Uzi-Maschinengewehre auf sich gerichtet. Denn die Gegenstände, die man auf dem jungen Mann fand, gehören nicht gerade zu den Utensilien, die man traditionell auf eine Urlaubsreise am Mittelmeer mitführt. Ein weisser Stoffgürtel, der eng um seine Brust gebunden war, enthielt zehn Päckchen, jedes von ihnen mit 200 Gramm einsatzbereitem sowjetischem Sprengstoff gefüllt. In den Taschen seines Vestons steckte eine hermetisch verschlossene Zigarettenpackung der Marke Marlboro, in der allerdings bloss noch die Filter aufgereiht waren. Der dadurch ent-

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standene Hohlraum war gefüllt mit einem elektrischen Zünder, einer japanischen Batterie mit dem sinnigen Namen «flying bomb» und zwei Kontrolllämpchen. Weiter kam eine Schweizer Armbanduhr der Marke Rexo zum Vorschein, die zu einer Präzisionszündvorrichtung umgebaut worden war. Schliesslich fand man in seinem Besitz noch sechs kleine Metallplatten mit der Aufschrift «PFLP». Das Kürzel steht für die Volksfront zur Befreiung Palästinas, eine bewaffnete Palästinenserorganisation, die damals quer durch Europa spektakuläre Anschläge verübte und dabei solche Medaillons zurückzulassen pflegte.2

Der Mann, der dieses kleine Arsenal auf sich trug, war ein 20-jähriger Tessiner Gymnasiast namens Bruno Breguet. Nach Israel war er gereist, um im Auftrag der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) einen Bombenanschlag auf den Shalom Tower in Tel Aviv zu verüben. Der 34-stöckige Wolkenkratzer im Herzen der israelischen Hauptstadt war damals, seit seiner Eröffnung im Jahr 1965, das höchste Gebäude im Nahen Osten, ein Wahrzeichen Tel Avivs und Symbol des modernen Israels. Stattdessen klickten für Breguet nun die Handschellen. Als ihm einige Minuten zuvor bewusst geworden war, dass es für ihn aus dieser Situation kein Entrinnen geben würde, hatte er für einen Augenblick mit dem Gedanken gespielt, den Sprengstoff auf seinem Körper zur Explosion zu bringen. Es hätte aber zu viel Zeit gebraucht, das Zündsystem vorzubereiten, erklärte er einige Jahre später.3 Hätte er die Bombe hochgehen lassen, wäre Breguet der erste Schweizer Selbstmordattentäter geworden – und diese Geschichte, seine Geschichte, um manches Kapitel, manches Rätsel und manche unerwartete Wendung kürzer.

10 Prolog an der Höllenpforte

Via Mondacce

Die Geschichte von Bruno Breguet beginnt in der kleinen Gemeinde Minusio bei Locarno. Hoch über dem Lago Maggiore zieht sich die schmale Via Mondacce dem Hang entlang, vorbei an Villen und kleinen Weingärten. Das Panorama ist atemberaubend. Von der Magadinoebene schweifen die Augen des Besuchers über den Monte Ceneri und die Tessiner Alpengipfel. Weit unten spiegelt sich das Städtchen Locarno im ruhigen blauen Wasser, in der Ferne lassen sich die Umrisse der Brissago-Inseln erahnen. Einzig vereinzelte Palmen scheinen einen Schatten auf diese paradiesische Welt zu werfen. Von hier ist es ein weiter Weg nach Haifa.

Fast am Ende der Via Mondacce steht das Haus, in dem Breguet nach seiner Geburt am 29. Mai 1950 aufgewachsen ist und das bis zu einem schicksalhaften Novembertag im Jahr 1995 einen Fixstern in seinem Leben bildete. Sein Vater Ernesto Breguet war ein Zugezogener aus dem Bauerndorf Coffrane im Neuenburger Jura. Die wenigen dort ansässigen Betriebe der Uhrenindustrie verschwanden bereits im frühen 20. Jahrhundert, der Uhrenmachername Breguet hatte sich jedoch gehalten. Ernesto baute als Zimmermann und Dachdecker ein erfolgreiches Geschäft auf, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmete und dank dessen die Familie in passablen finanziellen Verhältnissen lebte. Stark von seiner Arbeit absorbiert, zeigte er wenig Interesse an seiner Familie oder der Erziehung seines Sohnes.1 Auf die Politisierung von Bruno hatte er jedenfalls keinerlei Einfluss. Selbst nicht politisch und ohne jegliches intellektuelle Interesse, war er einer dieser Menschen, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie jemals ein Buch gelesen haben.2

Im Gegensatz zum Vater war die Mutter, Zita, eine gebürtige Tessinerin. Das Haar dieser kleinen Frau war bereits ergraut und ihr Gesicht ein wenig zerknittert, bevor sie wegen Brunos Festnahme in Israel schreckliche Ängste durchlebte.3 Dennoch sollte sie über 100 Jahre alt werden. Von seiner Mutter erfuhr Bruno viel Zuneigung, und die beiden verband eine enge Beziehung.4 Neben Bruno wuchsen im Haus Breguet ausserdem drei Geschwister auf. Die Schwestern Renée und Madeleine, noch in

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den Kriegsjahren geboren, waren deutlich älter. Renée wanderte bald nach Brasilien aus. Ob Südamerika deshalb auch für den jungen Bruno zu einem Sehnsuchtsort wurde? Madeleine wiederum heiratete einen Zeichner der Maggia Kraftwerke, zog nach Locarno und verschwand so ebenfalls früh aus dem Elternhaus.5 Die liebevolle Beziehung mit Bruno blieb jedoch erhalten. Der drei Jahre jüngere Ernesto junior schliesslich war ganz anders veranlagt: Politisch nicht interessiert und weniger begabt für manuelle Tätigkeiten; sehr entschlossen, aber wenig einfühlsam.6 Die beiden Brüder waren so unterschiedlich, dass sie in ihrer Jugend kaum etwas miteinander unternahmen.7

Politisch illustre Nachbarn der Breguets an der Via Mondacce waren Guido Cavagna und seine Familie. Cavagna war eines der Gründungmitglieder der Partei der Arbeit (PdA) und in den Nachkriegsjahrzehnten einer der Anführer ihrer Tessiner Sektion. In den 1950er-Jahren stieg er ins Zentralkomitee der PdA auf, später sogar ins Politbüro, und vertrat die Partei acht Jahre lang im Tessiner Grossen Rat. Sein Sohn Mauro und Bruno Breguet spielten als Kinder viel zusammen, häufig Indianer, manchmal Fussball. Bruno ging im Haus Cavagna ein und aus. Als die Buben die Primarschule besuchten, traf Bruno den drei Jahre jüngeren Mauro wohl ohne böse Absicht mit einem Stein am rechten Auge. Die Verletzung war schwer, Mauro trug eine lebenslange Sehbeeinträchtigung davon. Noch heute ist er enttäuscht, dass weder Bruno noch seine Eltern ihn im Spital besuchten und er nie eine Entschuldigung erhalten hat. Er bezeichnet Bruno daher als sonderbaren, eigenartigen Charakter. Ausserdem, so erinnert sich Cavagna, habe Bruno als Kind und Jugendlicher einen starken Überlegenheitssinn gezeigt.8 Diese Eigenschaft sollte auch später immer wieder durchscheinen, wie wir noch sehen werden.

Die beiden Sprösslinge blieben allerdings in ihrer Jugend eng miteinander verbunden. Auch Vater Guido Cavagna zeigte sich nach Breguets Verhaftung in Israel nicht nachtragend. In einem Schreiben, das vor Gericht den guten Charakter des verhinderten Bombenlegers attestieren sollte, kam er zum Schluss, dass seine Beurteilung von Bruno Breguet nur positiv ausfallen könne.9 Einige Jahre später rühmte er ihn in einer Ansprache im Tessiner Grossen Rat sogar als gutes Beispiel für Idealismus.10

«Es ist nicht ganz einfach, vom Terroristen Breguet Bruno ein Bild zu zeichnen, das ihm gerecht wird», beschied einmal ein Kommissar des Tessiner Nachrichtendiensts seinen Kollegen bei der Bundespolizei (BUPO)

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Abb. 2: An der Via Mondacce in Minusio, hoch über dem Lago Maggiore, thront das Elternhaus von Bruno Breguet.

mit einem resignierenden Seufzer, der wohl durch den Gotthard zu hören war.11 Grundsätzlich kann man dem Commissario zustimmen. Wenn man indes mit den Leuten spricht, die Breguet damals näher gekannt haben, ergibt sich zumindest ein sehr klares Bild, was seinen Charakter und sein Verhalten als Jugendlicher betrifft. Bruno Breguet war sanft, sehr freundlich, bisweilen herzlich, korrekt und versuchte stets Konfrontationen zu vermeiden. Gleichzeitig war er verschlossen, schüchtern, zurückhaltend, fast schon ängstlich. Er sprach wenig, erst recht nicht über sich.

Nach fünf Jahren an der Primarschule in Minusio besuchte Breguet ab dem Sommer 1963 das Gymnasium in Locarno, wo man ihm nach fünf weiteren Jahren ein Abschlusszeugnis in die Hand drückte. Im Sommer 1968 wechselte er ans kantonale Liceo in Lugano, um eine Matura – das Schweizer Pendant zum Abitur – vom mathematisch-naturwissenschaftlichen Typus C anzustreben. Dazu pendelte Breguet jeden Wochentag morgens vom Elternhaus in die Tessiner Metropole und abends zurück an die Via Mondacce. Beim Liceo selbst handelte es sich um ein grosses Gebäude, noch aus dem 19. Jahrhundert, das zwar nur wenige Schritte vom Luganersee mit seinem mediterranen Flair entfernt lag, dessen Gänge aber kalt und dunkel waren. In den Nischen lauerten die Büsten von Tessiner und italienischen Persönlichkeiten, die die Schüler reglos anglotzten, wenn sie aufgeschreckt vom ohrenverletzenden Klang eines uralten Gongs in die Klassenzimmer eilten.12

Bruno zählte zu den besten Schülern. Er war fleissig, intelligent und kreativ. Selbst als sich die Absenzen mehrten, konnte er mit der Klasse scheinbar mühelos mithalten. «Aus ihm hätte etwas werden können. Das Zeug dazu hätte er gehabt», urteilte der Vizedirektor des Liceo, ein Signore Caccia, nach Breguets Verhaftung in Israel etwas wehmütig.13 Zweimal musste er im Unterricht eine Präsentation halten. Einmal sprach er zur Nuklearenergie, einmal über den Vietnamkrieg, der damals seinen blutigen Höhepunkt erreichte.14 Gelegentlich schwärmte er von Südamerika und Kuba.15 Ein Mitschüler erinnert sich ausserdem an eine gemeinsame Recherche zu Albert Camus in der Bibliothek. Bruno sei vom französischen Existenzialisten begeistert gewesen.16 So weit, so zeitgeistig.

Obwohl schüchtern, schweigsam und verschlossen, war Bruno in seiner Klasse nie isoliert. Er stand mit allen auf gutem Fuss, und die ihm eigene Hilfsbereitschaft zeigte sich, wenn er die Kommilitonen bei den

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Schulaufgaben unterstützte.17 Grundsätzlich habe unter den Klassenkameraden ein Klima des Respekts geherrscht, Rüpel und Raufbolde hätten keine ihr Unwesen getrieben, erinnert sich Graziano Monzeglio, der heute als Tonexperte in der Filmbranche tätig ist.18 Bruno war aber im Grunde ein Einzelgänger. In der Mittagspause ging er nicht mit den anderen essen. Stattdessen zog er sich zum Lernen in das örtliche Pensionszimmer zurück, das der Klassenkamerad Monzeglio bewohnte und ihm für diese Stunden als Refugium zur Verfügung stellte.19 Generell lernte Bruno sehr viel. Abends ging er fast nie aus. An Partys war er nie anzutreffen. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol.20 Stattdessen las und lernte er. Auch amouröse Beziehungen unterhielt Breguet damals nicht, obwohl viele Mädchen dem blendend aussehenden und zuvorkommenden jungen Mann Avancen machten. Doch Bruno war zu schüchtern und vielleicht auch nicht interessiert.21 Immerhin entwickelte er zwei Schulfreundschaften: Da war einerseits Gianni Quattrini, sein Banknachbar aus der hintersten Reihe, der den sensiblen, belesenen und ihn schulisch unterstützenden Bruno als Kameraden sehr interessant fand. Der begnadete Sänger Quattrini mag wohl auch an Breguets Form des leisen Widerstands im Klassenzimmer seine Freude gehabt haben. Immer wenn ein Lehrer etwas sagte, das Bruno nicht passte, stimmte er sotto voce die Internationale an – die einzige Musik, die ihm gefiel, wie sich Quattrini erinnert.22 Andererseits war da noch Pio Bianchini, von dem noch die Rede sein wird. Die drei Freunde verbrachten viel Zeit zusammen, in der Schule und abends bei Spaziergängen. Bruno sprach dabei viel über Kommunismus und von Che Guevara. Gianni gab er Ches Buch Der Partisanenkrieg zur Lektüre, in der Schule diskutierten sie zusammen über das Werk.23

Zu Hause unterstützte Bruno die Mutter in der Küche. Noch heute erinnert man sich an die «Biscotti», die er für Familienmitglieder und Bekannte gebacken hat. In freien Stunden, vor allem in den langen Sommerferien, half er seinem Vater bei der Arbeit, lernte dessen Metier. Mit seinen geschickten Händen baute er unter anderem schon bald selbstständig kleine Mauern.24 Ob zum Guten oder zum Schlechten, sein handwerkliches Talent sollte in allen Etappen seines Lebens durchscheinen.

Breguets Politisierung war insofern typisch für die Generation «68». «Man kann die Gründe nicht verstehen, die dazu führten, dass ich so viel Zeit in israelischen Gefängnissen verbracht habe, wenn man sich nicht die politische Atmosphäre vergegenwärtigt, die in Europa gegen Ende der

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1960er-Jahre geherrscht hat», erklärte er einige Jahre später selbst in einer autobiografischen Schrift.25

Breguet las denn auch nicht nur Bücher von Che Guevara, sondern verschlang auch die Schriften vieler sozialistischer und antikolonialistischer Vordenker wie Mao, Lenin oder Frantz Fanon.26 Zudem liess er sich einschlägige Periodika an die Via Mondacce liefern, zum Beispiel aus Havanna die ab 1967 monatlich in Spanisch herausgegebene Zeitschrift Pensamiento critico oder aus Hanoi die französischsprachige Wochenzeitung Le Courrier du Vietnam. Der Vietnamkrieg war für Breguet, wie für so viele der aufstrebenden Neuen Linken, ein herausragendes Ereignis bei der politischen Bewusstseinsbildung.27

Eine besonders interessante Publikation in Breguets Privatbibliothek stellte die ebenfalls auf Kuba produzierte Zeitschrift Tricontinental der Organization of Solidarity with the Peoples of Africa, Asia, and Latin America (OSPAAAL) dar.28 Diese Allianz gegen den Imperialismus war im Januar 1966 von den Delegierten zumeist linker militanter Bewegungen aus 82 Ländern an der Trikontinental-Konferenz in Havanna gegründet worden. «Für mich», erklärte Breguet, «bedeutete jenes Ereignis den symbolischen Beginn einer neuen Perspektive im Kampf für die Befreiung aller vom Imperialismus unterdrückter Völker.»29

Die idealistische Vision von OSPAAAL, so beschreibt es die Wissenschaftlerin Anne Garland Mahler, war die «eines interkontinentalen Austausches, der zu einer global vereinten und sich gegenseitig unterstützenden Front» gegen den gemeinsamen imperialistischen Feind führen sollte.30 Durch die Verteilung von grafisch oftmals beeindruckenden und deshalb propagandistisch wirkungsvollen Plakaten, Filmen und Zeitschriften wie Tricontinental entwickelte sich OSPAAAL in den späten 1960er-Jahren zu einer treibenden Kraft des transnationalen Linksradikalismus und seiner politischen Kultur. Breguet jedenfalls gelangte durch die Auseinandersetzung mit ihren medialen Erzeugnissen zur Überzeugung, dass der Kampf für den Sozialismus von ausserhalb der Industriestaaten geführt werden musste.31 An den Trikontinentalismus angelehnt war auch die für seinen Weg zur PFLP letztlich wichtige Vorstellung, dass sich die Welt bereits mitten im Dritten Weltkrieg befand, da alle linken bewaffneten Gruppen rund um den Globus gemeinsam für die Weltrevolution kämpften.32

Die Einrichtung von Brunos Schlafzimmer, als er im Juni 1970 seine Reise nach Haifa antrat, bot einen materiellen Spiegel dieser Geisteswelt.

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Den seltenen Besuchern blickte Che Guevara von einem schwarzweissen Porträtfoto entgegen, die Wände waren tapeziert mit dem Manifest «Frantz Fanon, fils de la violence» von Jean-Paul Sartre und einer grossen, farbigen Landkarte von Südamerika (Massstab 1:800 000). Zentral an einem Nagel hing eine kleine, nur leicht gerundete und ansonsten rechteckige Bronzeplakette der PFLP: Die eine Hälfte bildete Palästina ab, die andere einen Guerillakämpfer mit einer Inschrift auf Arabisch und Englisch: «Wir werden den Feind überall bekämpfen.»33

Zu Breguets propalästinensischer Radikalisierung kam es allerdings erst, als der Nahostkonflikt plötzlich und mit voller Wucht die scheinbar neutrale Schweiz erfasste. Er wurde zugleich Akteur und Spielball jener Schweizer Terrorjahre.

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1969: Als der Nahostterrorismus in die Schweiz kam

Die Gründung der PFLP – der Organisation, die Breguet auf seine verhängnisvolle Mission nach Israel schickte – war unmittelbar eine Folge des Junikriegs von 1967, jenen sechs Tagen aus Blut und Feuer, die den Nahen Osten für immer veränderten. Die Ursprünge der Organisation reichen aber weiter zurück und sind eng verwoben mit der politischen Entwicklung der Region in der Nachkriegszeit. Denn personell, ideologisch und hinsichtlich der politischen Zielsetzung war die PFLP ein Sprössling der Bewegung der Arabischen Nationalisten (BAN), die sich 1954 in Beirut um die pittoreske American University (AUB)1 formierte. Die BAN bestand aus einer Gruppe von Intellektuellen aus verschiedenen arabischen Ländern, in der Mehrheit palästinensische Studierende und Absolventen der AUB, die über linke Politik, Marxismus und PanArabismus diskutierten.2 Den israelisch-palästinensischen Konflikt betrachteten sie nicht isoliert, sondern interpretierten ihn im Kontext von Kapitalismus, Imperialismus, Kommunismus und revolutionärem Kampf. Unter den Gründern und der operationellen Führung der BAN ragten zwei palästinensische Medizinstudenten hervor, die später die Geschicke der PFLP bestimmen sollten: George Habasch und Wadi Haddad. Nach ihrem Abschluss an der AUB zogen die beiden orthodoxen Christen weiter in die jordanische Hauptstadt Amman, wo sie für eine Weile eine Praxis für Bedürftige betrieben. Bald wandten sie sich allerdings ganz der politischen Arbeit zu.

Im Sechstagekrieg von 1967 fügte Israel seinen arabischen Gegnern eine vernichtende militärische Niederlage zu. Israelische Truppen besetzten das von Jordanien verwaltete Westjordanland, den ägyptisch regierten Gazastreifen sowie die syrischen Golanhöhen und entrissen Ägypten für die nächsten 15 Jahre die Kontrolle über die Sinai-Halbinsel. Dies führte bei den bewaffneten palästinensischen Organisationen zu der Erkenntnis, dass sie für einen Sieg über den israelischen Staat nicht auf die arabischen Armeen zählen konnten, sondern ihr Schicksal vielmehr in die eigene Hand nehmen mussten. Zu diesem Zweck schlossen sich in den Monaten

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nach dem Sechstagekrieg die beiden bewaffneten Flügel der BAN, Vengeance Youth und Heroes of the Return, sowie die zuvor eigenständige, paramilitärische Palästinensische Befreiungsfront (PLF) von Ahmed Jibril3 zur PFLP zusammen.4

Unter der Führung des charismatischen George Habasch wurde die neue Gruppierung 1968 Mitglied der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) – der Dachorganisation zahlreicher politscher Gruppen, die durch den bewaffneten Kampf die Schaffung eines palästinensischen Staates anstrebten und die den exklusiven Anspruch erhob, das palästinensische Volk zu vertreten. Hinsichtlich Grösse und Einfluss wurde die PFLP innerhalb der PLO lediglich von Jassir Arafats Fatah übertroffen.5

Ideologisch oszillierte die PFLP zwischen drei mächtigen Weltanschauungen, dem (palästinensischen) Nationalismus, dem Pan-Arabismus und dem Sozialismus.6 Zumindest in den frühen Jahren war das Denken der Gruppe stark vom Maoismus geprägt. Ihr Manifest vom Februar 1969, The Strategy for the Liberation of Palestine, lehnte sich entsprechend eng an Maos Schrift Analysis of the Classes in Civil Society an.7 Ideologische Orientierungshilfe bezogen die PFLP-Aktivisten ausserdem von Che Guevaras Lehre vom Guerillakrieg,8 die zur gleichen Zeit im Tessin auch Breguet studierte.

Die PFLP kämpfte in erster Linie für einen palästinensischen Staat. Sie bekannte sich aber nicht ausschliesslich zum kompromisslosen bewaffneten Kampf gegen Israel. Neben diesem nahen Feind nahm die Gruppe von ihrem Hauptquartier in Amman auch weiter entfernte und abstraktere Feinde ins Visier, weil diese als eine Unterstützungsstruktur Israels wahrgenommen wurden: «reaktionäre» arabische Regimes, die globale zionistische Bewegung und der Imperialismus weltweit. Jede Strategie zur Beseitigung Israels musste sich deshalb auch mit diesen fernen Feinden auseinandersetzen.

Mit diesem ideologischen Spike-Protein war die PFLP empfänglich für transnationale Verbindungen mit radikalen Gruppen der Neuen Linken im Westen und in Japan. In ihrem Selbstverständnis sah sich die PFLP auch von Anfang an unzertrennlich mit anderen revolutionären Kräften verbündet: «Die palästinensische Revolution, die mit der arabischen Revolution und im Bündnis mit der Weltrevolution verschmolzen ist, ist allein in der Lage, den Sieg zu erringen. Die palästinensische Revolution auf die Grenzen des palästinensischen Volkes zu beschränken, würde ein

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Scheitern bedeuten, wenn wir uns an die Natur der feindlichen Allianz erinnern, der wir gegenüberstehen.»9

Die Palästinenser waren demzufolge auf Verbündete angewiesen, um die starke Allianz zwischen Israel und seinen Helfern besiegen zu können. Gleichzeitig sah die PFLP in der Befreiung Palästinas einen wesentlichen Katalysator für revolutionären Wandel im Nahen Osten und darüber hinaus. Durch diese Linse betrachtet erschien der Kampf der Palästinenser als lediglich einer von zahlreichen revolutionären Brennpunkten in der Dritten Welt.10 Es ist wenig erstaunlich, wenn eine solche Konzeptualisierung des bewaffneten Kampfs bei Breguet auf Anklang stiess, war sein Denken doch seinerseits von der Vorstellung geprägt, dass die linken bewaffneten Gruppen überall auf der Erde in einem Dritten Weltkrieg gemeinsam für die Revolution kämpften. Die Terrorismusstrategie der PFLP Wie die Fatah führte auch die PFLP nach ihrer Gründung zunächst von Jordanien aus Guerillaangriffe in Israel durch. Im Frühling 1968 stellte sie mit einigen Tausend Kämpfern eine stattliche Streitkraft.11 Doch die Organisation hielt die Überfälle über die Grenzen bald für ineffektiv und zu verlustreich, weshalb sie rasch ihre Taktik änderte. Wadi Haddad baute innerhalb der PFLP eine klandestine Einheit auf, die «externe Operationen», sprich spektakuläre Anschläge ausserhalb des Nahen Ostens, durchführen sollte, um die öffentliche Aufmerksamkeit im Westen auf das Schicksal der Palästinenser zu lenken.

Haddad hatte den kommunikativen Charakter dieser neuen Gewaltstrategie bereits an einer Sitzung der PFLP-Führung im Dezember 1967 deutlich gemacht: «Ich meine spektakuläre Einzeloperationen. Diese werden die Aufmerksamkeit der Welt auf die Palästinafrage lenken. Die Welt wird fragen: ‹Was ist das Problem in Palästina? Wer sind diese Palästinenser? Warum tun sie so etwas?› […] Am Ende wird die Welt das Problem satthaben. Sie wird zu dem Schluss kommen, dass mit Palästina etwas geschehen muss. Sie wird uns Gerechtigkeit geben müssen.»12

Die spektakulären Gewaltakte, die sich in den folgenden Jahren insbesondere gegen zivile Passagierflugzeuge richten sollten, zielten damit in erster Linie darauf ab, die Wahrnehmung des Nahostkonflikts in der westlichen Öffentlichkeit grundlegend zu verändern: Die Palästinenserfrage

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sollte nicht länger als Flüchtlingsproblem, sondern als politischer Konflikt gesehen und die PLO damit als legitime nationale Befreiungsbewegung etabliert werden. «Die Weltöffentlichkeit war nie für oder gegen uns, sie hat uns einfach immer weiter ignoriert», lamentierte der eloquente PFLPGeneralsekretär Habasch.13 Der öffentlichkeitsscheue Haddad, der Geheimnisse und Intrigen liebte, sollte dies mit terroristischen Anschlägen in Europa ändern. Oder, wie der britische Journalist David Yallop einst die neue Rollenverteilung der beiden langjährigen Weggefährten beschrieb: «Dr. Habasch gab seiner Organisation die intellektuelle Begründung, während sein Arztkollege Wadi Haddad der Mann war, der durch seine Aktivitäten Habasch eine Weltbühne für seine Rhetorik verschaffte.»14 Haddads erster Streich erfolgte am 23. Juli 1968. «Wir sind Palästinenser, und wir haben Ihren Flug übernommen», verkündeten drei als Priester verkleidete Attentäter, die an jenem Tag den El-Al-Flug 426 von Rom nach Tel Aviv in ihre Gewalt brachten und nach Algier entführten.15 Die Luftpiraten verlangten die Freilassung von 100 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen. Nach 40 Tagen knickte eine verunsicherte israelische Regierung schliesslich ein und stimmte der Freilassung von 16 Gefangenen zu.

Die Schweiz, zumindest die diplomatische, wurde bereits in diese erste palästinensische Geiselkrise hineingezogen.16 In Algier hatte nach der Landung der entführten Maschine nämlich die algerische Regierung die Kontrolle übernommen. Während alle Frauen, Kinder und nicht israelischen Passagiere umgehend nach Frankreich ausgeflogen wurden, hielten die Behörden die übrigen Fluggäste sowie die Besatzung in einem Hotel in der Hauptstadt fest und verhandelten mit der israelischen Regierung über ihre Freilassung. Als die El-Al-Crew Mitte August immer noch in Algier festsass, beschloss die International Federation of Air Line Pilots’ Associations (IFALPA) Mitte August einen Boykott der algerischen Flugplätze. Durch diesen Entscheid der internationalen Vertretung der Pilotenschaft waren scheinbar auch die Flüge der Swissair nach Algerien infrage gestellt.

Dies rief wiederum eine scharfe Reaktion der algerischen Regierung hervor, die nach einem Austausch auf diplomatischer Ebene in einem Telegramm des algerischen Aussenministers (und 2019 gestürzten Präsidenten) Abd al-Aziz Bouteflika an Bundespräsident Willy Spühler gipfelte. Die Algerier machten klar, dass sie eine Beteiligung der Swissair am Boykott als «unfreundliche Haltung der schweizerischen Regierung» auf-

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fassen würden, die «politische Konsequenzen» haben könne. Dem Einwand des Schweizer Botschafters in Algier, dass die Schweizer Regierung gegenüber den Swissair-Piloten kaum Druckmöglichkeiten besitze, wurde wenig Verständnis entgegengebracht.17

Hinter den Kulissen übte die Schweizer Regierung jedoch durchaus Einfluss auf die Swissair aus und bewirkte eine Haltungsänderung. Dass man sich bei der Fluggesellschaft nun gegen den Boykott stellte, löste wiederum lebhafte israelische Reaktionen gegenüber der Schweiz aus, was vor allem die Swissair in eine schwierige Situation gebracht habe, wie man im Eidgenössischen Politischen Departement (EPD) konstatierte.18 Als die Boykottaktion bereits nach wenigen Tagen abgebrochen wurde, löste sich das Problem schlagartig. Dass die Schweiz in der Geiselkrise zwischen die Fronten der politischen Erwartungen geriet, die arabische Staaten auf der einen und Israel auf der anderen Seite an sie richteten, war allerdings ein Vorbote der Dinge, die da kommen sollten. Einige Monate später, am Zweiten Weihnachtsfeiertag, beschossen zwei Attentäter der PFLP auf dem Rollfeld des Flughafens von Athen einen Jet der El Al, der sich gerade für den Weiterflug nach New York bereit machte. Ein Passagier starb im Kugelhagel, eine Stewardess wurde schwer verletzt. Die Angreifer wurden verhaftet und verurteilt. Es war der erste tödliche Anschlag einer Palästinenserorganisation ausserhalb des Nahen Ostens.19 Nur zwei Tage später schlug Israel zurück: Spezialeinsatzkräfte der Armee zerstörten bei einem Überfall auf den belebten internationalen Flughafen Beirut mehr als ein Dutzend Maschinen ziviler libanesischer Fluggesellschaften. Der finanzielle Schaden war riesig und die Lebanese International Airways musste daraufhin ihren Betrieb einstellen. Politisch schwächte der Angriff die christlich geführte libanesische Regierung und verstärkte die Spannungen zwischen ihr und den bewaffneten palästinensischen Organisationen.20

Das US-Aussenministerium verurteilte den Angriff gegenüber der israelischen Regierung in schärfsten Tönen als «eine gefährliche Eskalation», die «in keinerlei Verhältnis zur Provokation» stehe.21 In Paris schäumte Präsident Charles de Gaulle vor Wut, weil das Kommando mit französischen Helikoptern eingeflogen worden war, und verhängte ein Waffenembargo gegen Israel.22 Doch die Gewaltspirale drehte sich weiter, denn nun sahen sich die Palästinenser wieder zu einem Racheakt verpflichtet.

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Das El-Al-Attentat am Flughafen Zürich

Am 18. Februar 1969 schlug die PFLP erneut zu. Kurz nach halb sechs eröffnete ein vierköpfiges Kommando von einem Parkplatz des Zürcher Flughafens Kloten das Feuer auf eine Linienmaschine der El Al, die gerade zur Startbahn rollte. Die Boeing 720 sollte durch die Schüsse zum Stillstand gebracht werden. Gemäss ihrem Einsatzbefehl hätten die Attentäter, die in einem mehrwöchigen Trainingskurs im Nahen Osten speziell für diesen Anschlag ausgebildet wurden,23 die Maschine danach evakuieren und schliesslich zur Explosion bringen sollen. Doch die Sache lief nicht nach Plan.

Seit der Entführung von Flug 426 im Sommer 1968 wurden nämlich sämtliche Flüge der El Al von Air Marshalls des israelischen Inlandsgeheimdiensts Schin Bet begleitet. Der Sicherheitsbegleiter von Flug 432 an diesem Tag war der erst 22-jährige Mordechai Rachamim. Im Alter von vier Jahren war er mit seiner Familie vom Irak in den jungen Staat Israel ausgewandert, wo er in bescheidenen Verhältnissen in einem Kibbuz aufgewachsen war. Im Sechstagekrieg hatte er als Fallschirmjäger gegen die arabischen Armeen gekämpft und sich so für die Aufgabe empfohlen, Flugzeuge der El Al gegen weitere Überfälle palästinensischer Kommandos zu verteidigen.24 Genau dies tat Rachamim nun. Von einem Fenster des Cockpits begann er zurückzuschiessen, während neben ihm der von einer Kugel im Bauch getroffene Kopilot lag. Der junge Familienvater sollte fünf Wochen später im Kantonsspital Zürich seinen Verletzungen erliegen.25

Wegen Rachamims Gegenwehr konnte sich das PFLP-Kommando nicht wie geplant dem Flugzeug nähern. Stattdessen ging der Sicherheitsmann in die Offensive. Über die Notrutsche verliess er die mit 62 Maschinengewehrkugeln durchsiebte Maschine, rannte mit seiner Pistole der Marke Beretta über das Rollfeld, kletterte über die Umzäunung und stürmte auf den Parkplatz, von dem die Schüsse gekommen waren. Dort wurden die Attentäter gerade von Beamten der Feuerwehr, des Verkehrsdiensts sowie der unmittelbar danach ebenfalls am Tatort eingetroffenen Feuerwehr entwaffnet.26 Zwischen Rahamim und einem der Attentäter, Abdel Mehsen, entspann sich eine kurze Auseinandersetzung, in deren Folge der israelische Sicherheitsmann den Palästinenser mit drei Schüssen tötete. Rahamim sollte später aussagen, dass Mehsen ihn mit einem Sturmgewehr im Hüftanschlag bedroht hatte.

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Allerdings hatte keine der anderen Personen, die sich während der tödlichen Schüsse am Tatort befanden, bei Mehsen zu diesem Zeitpunkt noch eine Waffe gesehen.27

Die Lebensläufe der drei überlebenden Attentäter waren charakteristisch für viele PFLP-Kämpfer in den Jahren nach dem Sechstagekrieg. Sie waren geprägt von Vertreibung, Armut, Hunger und Gewalt. «Seit dem Jahr 48 bis heute […] fühlten wir nie Bequemlichkeit, Sicherheit und Frieden»,28 klagte Mohamed El Heiga mit Verweis auf die Nakba (arabisch für «Katastrophe» oder «Unglück»), die Flucht und Vertreibung von über einer halben Million arabischer Palästinenser aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina während des ersten arabisch-israelischen Kriegs. Der dreijährige El Heiga erlitt eine schwere Kopfverletzung, als er aus seinem Geburtsdorf bei Haifa fliehen musste. Mit seiner Familie schlug er sich zunächst ins Westjordanland durch und von dort weiter nach Syrien. Seine Kindheit in den Flüchtlingslagern von Darah und Damaskus war von Hunger und Krankheit gezeichnet. El Heiga konnte zwar eine Ausbildung zum Automechaniker machen, fand aber keine Arbeit. So stiess er schliesslich zur 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsarmee (PLA), deren syrische Brigade unter Kontrolle der dortigen Regierung stand. El Heiga erhielt zunächst eine Ausbildung in der syrischen Armee, worauf er knapp drei Jahre als Instrukteur in der PLA tätig war. Nach dem Sechstagekrieg schloss er sich der PFLP an und unterstützte als Assistent den Kommandanten einer dreissig Mann starken PFLP-Einheit in Jordanien.29

Ibrahim Youssef, der älteste Attentäter, war bereits elf Jahre alt, als sein Vater, ein Beamter im britischen Hochkommissariat, beim Bombenanschlag auf das King David Hotel in Jerusalem getötet wurde.30 Dem Angriff der politisch rechtsstehenden zionistischen Untergrundorganisation Irgun, der in der Forschung als einer der tödlichsten Terroranschläge des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird,31 fielen am 22. Juli 1946 91 Menschen zum Opfer, die meisten von ihnen Zivilisten. Der Krieg von 1948 führte Youssefs Familie nach Ostjerusalem, wo ihr Leben gemäss dem PFLP-Kämpfer aus «Qual und Elend und Bitterkeit»32 bestand. Nach einigen Jahren als Schreiberling in der jordanischen Armee zog der römische Katholik Anfang der 1960er-Jahre nach Kuweit, wo er als Funker bei der Feuerwehr tätig war. Seine Frau und die drei Kinder, die er in Ostjerusalem zurückgelassen hatte, wurden während des Sechstagekriegs nach Jor-

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danien vertrieben, wo sie seitdem in einem Zeltlager für palästinensische Flüchtlinge bei Amman lebten. Die Ereignisse des Juni 1967 politisierten Youssef, der bis zu seiner Rekrutierung für den Anschlag in Kloten politische Arbeiten für die PFLP in Kuweit ausführte.

Amena Dahbor schliesslich war erst einjährig, als ihre Familie 1948 aus einer von Zitrusblumen umgebenen Ortschaft in der Nähe von Lod in den Gazastreifen flüchten musste.33 Dort lebten die Dahbors in äusserst prekären Verhältnissen. Als Israel im November 1956 im Zuge der Suezkrise erstmals den von Ägypten verwalteten Gazastreifen besetzte, geriet Amenas Vater in einen israelischen Bombenangriff und wurde auf der Flucht von Splittern getroffen. Die Arbeitsunfähigkeit des Vaters bedeutete, dass die neunjährige Amena nun mit Handarbeiten zum Unterhalt der Familie beitragen musste. Dennoch gelang ihr ein Jahrzehnt später ein Maturabschluss. In der Frauenarmee hatte sie zudem eine militärische Ausbildung erhalten.

1967 kehrten die israelischen Truppen zurück in den Gazastreifen. Amena Dahbor landete auf einer Fahndungsliste und flüchtete nach Amman, wo sie in einer Zigarettenfabrik arbeitete. Als das israelische Militär erkannte, dass Dahbor ihnen entwischt war, wurde ihre Familie ohne Hab und Gut an die jordanische Grenze gestellt. In Amman lebten die wiedervereinten Dahbors erneut in einem Zeltlager, «in Erwartung, eine kleine Hilfe zu bekommen, ohne Kleidung, ohne Nahrung, auch ohne Haushaltsartikel».34

Als auch dieses Flüchtlingslager bombardiert wurde, floh die Familie nach Karameh. Die Ortschaft in der Nähe des Jordan wurde im März 1968 zum Schauplatz einer mythischen Schlacht.35 Seit dem Sechstagekrieg hatten palästinensische Guerillas Karameh als Ausgangspunkt für Angriffe im von Israel besetzten Westjordanland genutzt. Israel wollte diesen Stützpunkt niederwerfen, und so überquerte am 21. März eine grosse Kolonne israelischer Panzer und Infanterie den Jordan, drang auf jordanisches Staatsgebiet vor und machte sich an die Einnahme von Karameh. Die von Jasser Arafat geführte Fatah tat aber nicht, was Guerillas in solchen Situationen immer tun – sich zurückziehen und neu formieren –, sondern leistete völlig überraschend Widerstand. Die israelische Armee konnte die Ortschaft zwar weitgehend zerstören, musste sich aber nach einem stundenlangen Feuergefecht unter dem vereinten Druck von Guerilla und jordanischer Armee zurückziehen.

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Aus rein militärischer Sicht war die Schlacht kein Sieg für die Palästinenser. 28 toten und 90 verwundeten israelischen Soldaten standen je etwa 100 tote und verletzte palästinensische Kämpfer gegenüber. Ausserdem wanderten 40 bis 66 in israelische Gefangenschaft. Die Fatah hatte damit mit einem Schlag beinahe die Hälfte ihrer Vollzeitkämpfer verloren.36 Ausserdem hatten die israelischen Truppen grosse Teile von Karameh systematisch zerstört. Dank cleverer Inszenierungen und einer gerissenen Manipulation der Medien durch die Guerillas verwandelte sich die Schlacht von Karameh in arabischen Augen aber in kürzester Zeit in einen grossen politischen und psychologischen Erfolg. Vier ausgebrannte Panzer, die die Israeli zurückgelassen hatten, wurden in Triumphzügen durch die Strassen von Amman und Salt zur Schau gestellt.

Das Bild der scheinbar unbezwingbaren israelischen Armee war erschüttert. Dagegen stieg das Ansehen der Guerillas, die gegen einen übermächtigen Gegner die Stellung gehalten hatten. Nach Karameh strömten jede Woche Tausende Palästinenser aus den jordanischen Flüchtlingslagern zu den Rekrutierungsbüros der Fatah. Unter ihnen war auch Amena Dahbor, die unterdessen von der Gewalt in Karameh zurück in ein Lager bei Amman geflüchtet war und in einer Schule des UNO-Hilfswerks als Lehrerin arbeitete. Sie schloss sich der Fatah an, wechselte nach kurzer Zeit allerdings in die Reihen der PFLP.

Die Lebenserfahrungen der PFLP-Kämpfer, die im Februar 1969 am Flughafen Zürich eine El-Al-Maschine unter Beschuss nahmen, und die Bruno Breguets hätten nicht unterschiedlicher sein können. Es waren aber gerade solche Schicksale von palästinensischen Flüchtlingen wie El Heiga, Youssef oder Dahbor sowie die von ihnen verkörperten «Zustände der Not und des Elends, die dem palästinensischen Volk in den Flüchtlingslagern auferlegt werden»,37 die im Kopf des Tessiner Gymischülers den Gedanken säten, sich für die Sache der Palästinenser zu engagieren.

Die PFLP wiederum hatte die Mitglieder des Klotener Kommandos als Teil ihres kommunikativen Kalküls ganz bewusst aufgrund ihres jeweiligen biografischen Hintergrunds ausgewählt. «Die Teilnahme eines Flüchtlingsmädchens aus Gaza an dieser Operation», so lautete eine Erklärung auf einem Flugblatt, das man bei den Attentätern sicherstellte, sei die Antwort arabischer Frauen auf die «Bestialitäten», die israelische Fallschirmjäger im Sechstagekrieg gegen «die Frauen von Gaza» verübt hätten.38

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Um die mediale Prominenz der Attentäter zu gewährleisten, weihte Mastermind Wadi Haddad den ägyptischen Journalisten Saad Fuad im Vorfeld über die geplante Aktion ein und sandte ihn nach Zürich. Fuad leistete in der Limmatstadt zunächst logistische Unterstützung bei den Anschlagsvorbereitungen, ehe er unmittelbar vor dem Gewaltakt neben dem Flughafengelände eine Fotoserie der Attentäter schoss. Die Bilder veröffentlichte er zehn Tage später zusammen mit einem Artikel über das Klotener Attentat in der Kairoer Wochenzeitschrift Al-Musawar. 39 Es ist anzunehmen, dass Fuad eigentlich zwecks spektakulärer medialer Inszenierung vor allem die Explosion der El-Al-Maschine fotografisch festhalten sollte. Dazu ist es in Zürich dank des entschiedenen Eingreifens des Sicherheitsmanns Rachamim aber nicht gekommen. Erst ein halbes Jahr später, als ein Kommando unter der Führung von Leila Khaled den Flug 840 der Trans World Airlines (TWA) nach Damaskus entführte, gelang es der PFLP, ein Passagierflugzeug in die Luft zu sprengen.

Mit dem Anschlag am Flughafen Kloten brach der Nahostkonflikt unvermittelt über die Schweiz herein. Die Alpenrepublik, die im Dornröschenschlaf von Wirtschaftsboom, Zauberformelstabilität und Neutralitätsvertrauen schlummerte, war mitnichten darauf vorbereitet. Dies zeigte sich in den folgenden Monaten, als ein Unterstützungsnetzwerk der Attentäter das Ermittlungsverfahren und den Gerichtsprozess zur kommunikativen Fortsetzung des Kampfs nutzte, um die Öffentlichkeit von einer alternativen Version von Recht und Gerechtigkeit zu überzeugen.

Der Winterthurer Prozess

Eine Weiterführung des Kampfs auf und neben dem juristischen Parkett war von Wadi Haddad von Anfang an geplant. Schliesslich wurde das Kommando im Einsatzbefehl für den Flughafenanschlag folgendermassen instruiert: «Die Waffen sollen fallen gelassen werden, sie sollen nach Zerstörung des Objekts den Verantwortlichen der Sicherheitsbehörden übergeben werden. Mit den Leuten der Sicherheitsbehörde darf kein Handgemenge stattfinden und man soll sich ihnen, nach Erledigung der Aufgabe, ergeben.»40

Die PFLP und ihre Verbündeten nutzten das sich über zehn lange Monate hinziehende Strafverfahren – das erste, das in einer westlichen Demokratie gegen palästinensische Attentäter geführt wurde –, um vor der

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Schweizer Öffentlichkeit und der Weltgemeinschaft für die palästinensischen Anliegen zu werben. Dabei konnten sie auf eine längere militante Tradition zurückgreifen. Schon im 19. Jahrhundert hatten nämlich terroristische Gewalttäter wie der französische Anarchist Ravachol versucht, Gerichtsverhandlungen zur Weiterführung ihres politischen Kampfs auf anderer Bühne einzusetzen.41 Das PFLP-Unterstützungsnetzwerk bediente sich für die Politisierung des Verfahrens des Drehbuchs der défense de rupture. Dabei handelt es sich um eine juristische Strategie, die der französisch-algerische Anwalt Jacques Vergès, im Rückgriff auf Ideen kommunistischer Denker und Advokaten,42 1957 im Prozess gegen Djamila Bouhired von der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) popularisierte. 1968, im Jahr vor dem Anschlag auf die El Al in Kloten, theorisierte Vergès die Strategie in seinem einflussreichen Werk De la stratégie judiciaire.

Die défense de rupture bezweckt eine Umkehrung der Rolle von Ankläger und Angeklagtem, von Staat und politischem Gewalttäter. Dabei klagt die Verteidigung den anklagenden Staat selbst bestimmter Verbrechen an – häufig der Ausübung struktureller Gewalt –, um so den Gewalttaten der Angeklagten eine neue, positive Bedeutung zuzuschreiben. Gleichzeitig sollte die Autorität des Gerichts grundlegend in Zweifel gestellt werden. «Das Ziel der Verteidigung ist nicht in erster Linie, den Freispruch des Angeklagten zu erwirken, sondern vielmehr seine Ideen ins Licht zu rücken», stellte Vergès klar.43 Wie schon der Name suggeriert, sah die Strategie ausserdem vor, einen Prozess mit fast allen denkbaren Mitteln zu stören. Bei der défense de rupture geht es mindestens so sehr darum, Verzögerungen des Verfahrens oder ein Durcheinander zu kreieren, als eine ernsthafte rechtliche Rechtfertigung der Angeklagten zu präsentieren. «Der Bruch [‹rupture›] bringt die ganze Struktur des Prozesses völlig durcheinander», erklärte Vergès die Strategie. «Im Vordergrund steht unvermittelt die brutale Anfechtung der öffentlichen Ordnung.»44

Die Anwälte übernahmen dementsprechend eine wichtige Funktion in der Kampagne nach dem Anschlag in Kloten. Vergès selbst sollte sich eigentlich federführend in die Verteidigung einbringen. Als er zusammen mit dem algerischen Anwalt und früheren Justizminister Amar Bentoumi Ende März 1969 ein Gesuch um Entlassung der drei Attentäter aus der Untersuchungshaft einreichte, wurde er allerdings kurzerhand von der Kantonspolizei Zürich verhaftet und des Landes verwiesen. Dazu kam es, weil die Schweizer Bundesanwaltschaft über das ehemalige Mitglied der

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Kommunistischen Partei Frankreichs 1964 eine Einreisesperre verfügt hatte.45 Vergès musste sich deshalb damit begnügen, im Hintergrund Fäden zu ziehen, während zunächst andere im Rampenlicht standen.

Die PFLP hatte Jürg Meister, einen Zürcher Juristen alter Prägung, zur Verteidigung der drei Attentäter aufgeboten, während die Union der Arabischen Rechtsanwälte (UAA) den Zürcher Robert Treadwell sowie den hauseigenen Abderrahman Youssoufi mandatierte.46 Die Rolle der beiden Schweizer Anwälte Meister und Treadwell lässt sich am ehesten als die von Erfüllungsgehilfen bezeichnen, die bisweilen gegen ihre innere Überzeugung, deswegen aber nicht weniger konsequent, die Anliegen ihrer arabischen Auftraggeber vertraten.47 Sie legten schliesslich ihr Mandat nieder, noch bevor Ende November der Prozess vor dem Winterthurer Geschworenengericht begann.

Bis dahin lancierten die Schweizer Verteidiger allerdings eine Serie von Störaktionen, die die kleine Bezirksanwaltschaft Bülach, die die Ermittlungen führte, bisweilen an ihre Belastungsgrenzen brachte. Beispielsweise sorgten sie mit aufeinanderfolgenden Ausstandsbegehren gegen die beiden ermittelnden Bezirksanwälte Robert Akeret und Jürg Rehberg für Unruhe und Verzögerungen.48 Die Verteidiger deponierten im Zürcher Kantonsrat sogar ein Pamphlet gegen die Bezirksanwälte, die daraufhin beim Bundesgericht eine letztlich erfolgreiche Aufsichtsbeschwerde gegen Meister einreichten.49 Die im Hintergrund agierenden Anwälte der UAA bemängelten derweil in der arabischen Presse die Haftbedingungen der Attentäter, die im April zweimal in den Hungerstreik traten. Der daraus folgende Druck aus arabischen Staaten führte dazu, dass im Mai sogar eine Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) die PFLP-Kämpfer in der Untersuchungshaft besuchte.50

Die verschiedenen Störaktionen dienten in erster Linie dazu, die Arbeit der Bezirksanwaltschaft zu behindern und das Strafverfahren zu verzögern. Die dadurch gewonnene Zeit konnte das Sympathisantennetzwerk der PFLP nutzen, um durch eine Reihe von Side Shows,51 die etwa Pressekonferenzen, Zeitungsartikel, Pamphlete und Flugblätter, Hungerstreiks, Demonstrationen oder das Anrufen der Vereinten Nationen (UNO) umfassten, Propaganda zugunsten der radikalen Palästinenser zu verbreiten. Die Kampagne sollte Glaubwürdigkeit und Legitimität der Schweizer Justiz und der Untersuchungsbehörden untergraben und ihre

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vermeintliche Voreingenommenheit für Israel aufzeigen, um so das Verfahren als einen politischen Prozess, die Attentäter als politische Gefangene darzustellen.52

Zur Verwirklichung dieser Strategie wurden zwei hauptsächliche Narrative propagiert. Erstens wurde eine ungleiche Behandlung der palästinensischen Gefangenen und Rachamims behauptet. Der israelische Sicherheitsmann war per Entscheid des Zürcher Obergerichts Ende März gegen den Willen der Bezirksanwaltschaft aus der Untersuchungshaft entlassen worden, nachdem Israel eine Kaution hinterlegt und garantiert hatte, dass Rachamim zum Prozess in Winterthur erscheinen würde.53 Die drei Attentäter der PFLP wurden dagegen bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft belassen, obwohl der algerische Staat sich ebenfalls zu einer entsprechenden Garantieerklärung sowie zur Übernahme der Kaution bereit erklärte.54

Bereits im April traten die El-Al-Attentäter als Protest gegen diese Ungleichbehandlung zweimal in den Hungerstreik. In Kairo demonstrierten derweil arabische Studenten vor der Schweizer Botschaft für die Freilassung der drei Palästinenser.55 Eine breitere Öffentlichkeit erreichte die Justizkontroverse im Juni. Der Lausanner Zweig des Comité de Soutien au Peuple Palestinien («Komitee zur Unterstützung des palästinensischen Volks», CSPP) brachte ein «Weissbuch» mit Untersuchungsakten der Bezirksanwaltschaft Bülach in Umlauf. Die sorgfältig zusammengestellten Auszüge aus den Aussagen Rachamims und der Zeugen am Tatort erweckten den Anschein, dass der Sicherheitsmann den vierten Attentäter kaltblütig exekutierte, als dieser bereits entwaffnet war. Das etwa zur gleichen Zeit zirkulierende Flugblatt Justice aveugle? («Blinde Justiz?») schlug in die gleiche Kerbe.56

Das kurz nach dem Anschlag in Kloten gegründete Lausanner CSPP stand unter der Leitung des französischen Antisemiten Roger Henry, der während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte und in der Endphase des Algerienkriegs am Terrorismus der französischen Organisation Armée Secrète (OAS) beteiligt war.57 Sein Komitee war Teil einer Gruppe von propalästinensischen Organisationen, die zwischen 1967 und 1969 in der Schweiz aufgebaut wurden und in der transnationalen Solidaritätskampagne um das El-Al-Strafverfahren eine bedeutende Funktion ausübten. Ihre Mitglieder rekrutierten sich in erster Linie aus den Reihen der Neuen Linken.58 Diese stand Israel Ende der

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1960er-Jahre, in durchaus bewusster Abgrenzung zur gemässigten, tendenziell proisraelischen Sozialdemokratie, zunehmend feindselig gegenüber.59 Die Neue Linke, zugleich Zielgruppe wie Sprachrohr der Propagandakampagne, war in den Palästinakomitees allerdings nicht unter sich. Wie der Fall des CSPP zeigt, fanden sich unter dem Banner des Antizionismus auch rechtsextreme Aktivisten zusammen.

Die einzelnen Organisationen dieser kleinen Solidaritätsbewegung erhielten zumeist finanzielle Hilfe, logistische Unterstützung und Handlungsanleitungen vom Büro der Arabischen Liga in Genf und von Fuad Shamali,60 der seit 1968 als inoffizieller Vertreter der Fatah in der Schweiz seine Kreise zog. Ihre Abhängigkeit von Arabischer Liga und Fatah war so gross, dass der Schweizer Historiker Daniel Rickenbacher ihnen «teilweise eher den Charakter von Frontgruppen als von unabhängigen Organisationen» zumisst.61

Am 11. Juli legte das CSPP mit einer spektakulären Pressekonferenz in Lausanne nach. Roger Henry präsentierte den versammelten Journalisten nun direkt Auszüge aus dem Untersuchungsdossier gegen Rahamim und erklärte, dass ein Maulwurf innerhalb der Bezirksanwaltschaft Bülach die Unterlagen für 5000 Schweizer Franken an eine palästinensische Organisation verkauft habe. Dies wurde später als dreiste Lüge entlarvt. Die Genfer Polizei hörte nämlich ein Telefongespräch zwischen Henry und Shamali ab, aus dem hervorging, dass die Dokumente vom Fatah-Vertreter selbst kopiert worden waren. Shamali wiederum dürfte die Unterlagen von den Anwälten der UAA erhalten haben, die im Büro des offiziellen Verteidigers Robert Treadwell ein und aus gingen.62 Nichtsdestotrotz entfalteten die Aktionen eine gewisse Öffentlichkeitswirkung. Selbst der Tages-Anzeiger fragte kritisch: «Leisten sich die würdigen Herren der Anklagekammer den Luxus, politische Neigungen beim Haftentlassungsentscheid in Sachen Rachamim mitschwingen zu lassen?»63

Das zweite hauptsächliche Narrativ der Propagandakampagne um den El-Al-Prozess drehte sich um die Behauptung, dass die in Kloten angegriffene Maschine Waffen für das israelische Militär transportiert habe. Es gab keinerlei konkrete Anhaltspunkte, dass dieses Gerücht, das erstmals im Mai 1969 aus dem Unterstützungsnetzwerk der PFLP in Umlauf gebracht wurde, den Tatsachen entsprach.64 Dennoch hielt es sich hartnäckig bis zum Prozess vor dem Winterthurer Geschworenengericht, der am 27. November vor ungewohnt vielen Medienschaffenden begann.

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Am 15. Dezember, während der finalen Phase der Gerichtsverhandlung, prangerte Jacques Vergès an einer Pressekonferenz in der Eulachstadt die parteiische Haltung der nur scheinbar neutralen Schweiz in der Affäre an. Gemäss dem umstrittenen Advokaten hätten die Schweizer Behörden nämlich absichtlich die militärische Funktion des El-Al-Flugs 432 ignoriert. Die PFLP-Kämpfer hätten das Flugzeug angegriffen, weil es für die israelische Armee bestimmte Waffen transportiert habe, wodurch es zu einem legitimen Angriffsziel geworden sei. Israel wiederum hätte mit der militärischen Fracht noch vor dem palästinensischen Kommando die Schweizer Neutralität verletzt.

Vergès hatte von der Schweizer Bundespolizei einen Passierschein erhalten, um dem Prozess in Winterthur als Beobachter beiwohnen zu können. Diese passive Rolle war ihm aber nicht genug. Er stellte mehrere Anträge, als Verteidiger der Attentäter zugelassen zu werden. Da ihm dies verwehrt wurde, hielt er sein Plädoyer statt im Gerichtssaal vor dem in Winterthur versammelten Journalistentross.65 Vergès’ Nebenvorstellung war eine von mehreren Pressenkonferenzen, die die Union der Arabischen Rechtsanwälte während des Prozesses im nahe beim Gerichtsgebäude gelegenen Gartenhotel Winterthur organisierte. Mit Vorverurteilungen Rachamims sollte dabei nochmals für Aufruhr gesorgt werden.66

Auf den Ausgang des Prozesses zumindest hatten diese Aktionen jedoch keinen Einfluss. Mohamed Abu El Heiga, Ibrahim Youssef und Amena Dahbor, die während der Verhandlung schwiegen, wurden am 22. Dezember 1969 zu je zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Mordechai Rachamim, für den die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Totschlags gefordert hatte, wurde dagegen in allen Anklagepunkten freigesprochen.

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Der Weg nach Haifa

Unter dem Eindruck, dass es sich beim Winterthurer Prozess um eine Justizfarce handelte, radikalisierte sich Bruno Breguet.1 Die propalästinensische Propagandakampagne des Jahres 1969 übte einen starken Einfluss auf ihn aus. Ihre beiden dominanten Narrative – dass Rachamim gegenüber den Attentätern der PFLP von der Schweizer Justiz bevorzugt behandelt werde und dass es sich beim in Zürich-Kloten angegriffenen El-Al-Flug um einen Waffentransport für das israelische Militär gehandelt habe  – bohrten sich tief in sein Denken. Obsessiv trug er die sehr detaillierten, bisweilen obskuren und mitunter falschen Informationen zusammen, mit denen die verschiedenen Akteure des PFLP-Unterstützungsnetzwerks ihre Erzählungen geschmückt und ihre Behauptungen begründet hatten.

«Als in Winterthur die ersten Akte der Justizfarce aufgeführt wurden», erinnerte sich Breguet später, «entstand und bekräftigte sich in mir der starke Gedanke, dass ich etwas tun musste.»2 Seine äusserste Sensibilität für politische Entwicklungen, die er als ungerecht empfand, machte Bruno besonders empfänglich für die emotionalisierten und eindeutigen Zuschreibungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Recht und Unrecht, auf denen die Verteidigung der El-Al-Attentäter und ihre kommunikativen Begleitaktionen aufgebaut waren. So verhedderte er sich im Netz der palästinensischen Propaganda.

Am Ende der Winterthurer Verhandlung wurde der Beamte des israelischen Inlandsgeheimdiensts, wie Breguet und viele zeitgenössische Beobachter empfanden, «gegen jedes juristische Prinzip»3 freigesprochen, die drei palästinensischen Angeklagten dagegen zu langen Haftstrafen verurteilt. Als der Prozess «mit jenem absurden und provokativen Urteil zu Ende ging»,4 war er bereit, etwas zur Befreiung der drei PFLP-Kämpfer zu unternehmen.

Bereits am 27. Juli 1969 meldete sich Breguet telefonisch beim Büro der Arabischen Liga in Genf und bekundete sein Interesse, sich einer bewaffneten Palästinenserorganisation anzuschliessen: «Ich rufe Sie an,

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um Sie um eine Information zu bitten. Wir würden gerne wissen, ob es möglich ist, in eine palästinensische Front eingegliedert zu werden.» –Simone Koueter (Sekretärin): «Sie sind welcher Nationalität?» – «Schweizer.» – «Können Sie mir ihren Namen nennen?» – «Breguet, Bruno. […] Ich habe auch einen Freund, der so ist wie ich. Wir hätten schon eine Antwort von OSPAAAL erhalten sollen, aber wir haben sie noch nicht erhalten. Wir haben geschrieben, darauf haben sie uns geschrieben und nun warten wir auf eine ausführlichere Antwort.» – «Gut, ich kann Ihnen bis am 25. August antworten. Ich werde Ihnen telefonieren, ich werde dann den Verantwortlichen gesehen haben.»5

Wie sich Breguets Kontaktaufnahme mit der PFLP in der Folge genau abspielte, ist unklar. In den folgenden Monaten reiste er jedenfalls häufig nach Mailand, wo er sich mit Linksextremisten im Umkreis des Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli traf. Der Kontakt ergab sich durch die OSPAAAL-Zeitschrift Tricontinental. Um die italienischsprachige Ausgabe, die sich Breguet nach Minusio liefern liess, versammelte sich eine Gruppe von ideologisch Gleichgesinnten, die den Ideen der Kubanischen Revolution und Che Guevaras anhingen. Ernesto Breguet bestätigt, dass sich Bruno und Feltrinelli 1969 kennengelernt hatten: «Ja, sicher, mein Bruder Bruno und Feltrinelli kannte und trafen sich. Feltrinelli war einer seiner wichtigsten Bezugspunkte.»6 Der schwerreiche Feltrinelli, der mit der PFLP und ihrem Anführer George Habasch in Verbindung stand, verfocht in jener Zeit zunehmend die Idee einer italienischen Guerilla im Dienst der Arbeiterklasse. 1970 gründete er die paramilitärischen Gruppi d’Azione Partigiana (GAP) und ging in den Untergrund. Im März 1972 starb Feltrinelli unter mysteriösen Umständen bei einem Anschlag der GAP auf einen Strommast im Mailänder Vorort Segrate.7

Breguet selbst gab sich in Bezug auf seine damaligen Mailänder Kontakte zugeknüpft. In seinem Buch Scuola dell’Odio schreibt er: «Es ist nicht nötig zu erklären, wer sie waren und zu welcher Gruppe sie gehörten. Die Verflechtungen wären kompliziert. Es genügt zu sagen, dass es sich um politisch engagierte Genossen handelte, die durch das feste Band des antiimperialistischen Engagements vereint waren.»8 Möglicherweise unterhielt Breguet zu jener Zeit neben seinem Kontakt zur Gruppe um Feltrinelli auch bereits Verbindungen zu einer PFLP-Zelle in Mailand.9

Wegen seiner häufigen Reisen in die lombardische Metropole begann Bruno im Herbst 1969 häufig in der Schule zu fehlen. Gepaart mit einem

34 Der Weg
nach Haifa

unüblichen Desinteresse für den Schulstoff führten die zahlreichen Absenzen dazu, dass er zusammen mit seinen Eltern zu einer Aussprache mit der Direktion ins Liceo geladen wurde. Gemäss Rektor Adriano Soldini habe sich Breguets Grundproblem bei jener Gelegenheit deutlich gezeigt. Sein Zögling, so Soldini, «war überzeugt, und nichts konnte ihn bei diesem Thema erschüttern, dass im schmerzhaften Konflikt des Nahen Ostens die Sache der Araber gerecht war und alle Menschen betraf, selbst diejenigen, die nicht direkt am Konflikt selbst beteiligt oder von ihm betroffen waren. Seine Überzeugung war so sehr festgewachsen, dass sie die Grundlage seines ganzen Denkens geworden war».10

In diesem Denken widerspiegelte sich Martin Luther Kings Ausspruch, dass «Ungerechtigkeit irgendwo überall eine Bedrohung für die Gerechtigkeit darstellt». Denn gemäss King sind wir «gefangen in einem unentrinnbaren Netzwerk der Wechselseitigkeit, zusammengebunden in einem einzigen Schicksalsgewand».11 Mochte Breguet so weit mit dem Anführer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung übereinstimmen, Kings Pazifismus lehnte er entschieden ab. Die Regierenden und Mächtigen auf der Gegenseite liessen eine gewaltfreie Strategie nicht zu, was die Erfolgsaussichten eines pazifistischen Vorgehens im revolutionären Kampf eintrübten. Diese Skepsis gegenüber dem Pazifismus kam im Italienischunterricht zum Vorschein, als der Lehrer die Klasse Martin Luther Kings Buch Strength to Love (1963) lesen liess. Die dort gesammelten Predigten hielt Bruno für zu versöhnlich, die von King im Kampf gegen die Rassentrennung in den USA eingeforderte Gewaltlosigkeit hielt er für nicht praktikabel.12

Die Haltung Breguets gegenüber politischer Gewalt, die in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem herausragenden Bürgerrechtler, der 1968 selbst einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war, durchschien, stand scheinbar in diametralem Gegensatz zu seiner Persönlichkeit. Alle, die ihn als Jugendlichen kannten, beschreiben Bruno als liebenswürdig, sensibel, stets korrekt und konfliktscheu; als jemanden, der Konfrontationen lieber aus dem Weg ging. Mit Sicherheit besass er kein von Natur aus gewalttätiges Wesen. Dennoch entschied er sich in den kommenden Monaten dazu, für die PFLP einen Terroranschlag in Israel zu verüben.

35 Der Weg nach Haifa

Was bewegt einen Schweizer Jugendlichen dazu, den Weg der politischen Gewalt einzuschlagen?

Bruno Breguet reist 1970 als 19-Jähriger in ein militärisches Ausbildungslager der Volksfront zur Befreiung Palästinas im Libanon und bietet an, sich an einem Anschlag in Israel zu beteiligen. Die Mission ist der Beginn einer dramatischen Lebensgeschichte, die den Tessiner in israelische Gefängnisse, in den Mittelpunkt internationaler Geheimdiplomatie und an die Seite des legendären Terroristen «Carlos der Schakal» führen wird.

Der Autor Adrian Hänni, der zur Schat tenwelt der Geheimdienste und Terrororganisationen forscht, erschloss lange unzugängliche Quellen und führte Gespräche mit bisher verschwiegenen Weggefährten von Bruno Breguet. Er enthüllt erstmals dessen Tätigkeit als CIA-Agent, bietet unbekannte Perspektiven auf die Carlos-Gruppe und verfolgt neue Spuren zu Breguets mysteriösem Verschwinden.

978-3-907291-87-0

www.nzz-libro.ch

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