Quart Nr. 37

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nig davon frei würde. Gelingt die Loslösung, so Weils Gedanke, entsteht Leere. Durch die Leere kann die Gnade eindringen. ¶ Ich stelle mir Hügel vor, Erde, Wiesen und Bäume, grünen Wald. Eine Landschaft sehen, schreibt Weil, in der ich nicht bin. Wenn ich irgendwo bin, beschmutze ich die Stille des Himmels und der Erde mit meiner Atmung und meinem Herzschlag. ¶ Weils Leere und die Reinheit ihrer Sprache sind die denkbar größten Gegensätze zu dem, was uns medial umgibt. Zu den digitalen Bildern, Informationen und Inhalten. Die irreal sind. Ich lese Weils Schriften in einer Welt, aus der das Sinnliche verbannt worden ist. Ihre Abstraktheit entspricht meiner Perspektive: Ich bin aus der Welt, obwohl mittendrin. Ungreifbar sind Weils Aufzeichnungen für mich nur, wo ihr Wahn durchschimmert. Das religiöse Denken, nicht das Nachdenken über Religion. Manche Stellen erinnern an Exerzitien. Der unbedingte Wille zur Selbstauslöschung. Sie ist brutal und voller Liebe und sie ist mir nahe. Sie schreibt: Der Widerspruch ist die Spitze der Pyramide. ¶ Einen Moment lang begreife ich, was sie mit der Abwesenheit Gottes meint, im Angesicht der schlimmsten Geschehnisse. Wo religiöse und atheistische Erfahrung auf gewisse Weise zusammenfallen: Es gibt keinen Trost. ¶ Solange ich allein bin, geht es. Solange wir nicht sprechen. Ich will nicht telefonieren. Nichts hören und sehen von der Welt. Nach und nach werden alle verrückt, höre ich dich sagen. Am ungefährlichsten ist es, nur für sich zu sein. Am ungefährlichsten nur für sich selbst. Du sprichst von der Angst, nichts zu sagen zu haben. Wir teilen den Erfahrungshorizont und die Handlungsmöglichkeiten, aber über unsere Unfreiheit wollen wir nicht sprechen. Über das alles Beherrschende. ¶ Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, wie die Glieder einer Kette. Das Leiden, schreibt Weil, sei nichts als die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Unmöglich, eine Zukunft zu denken, in der das Unglück fortdauere. Die Zeit sei irreal, aber unsere Unterwerfung darunter sei wirklich. Die Höhle zu verlassen bedeute, sich nicht mehr an der Zukunft auszurichten. Die Leere wird möglich. ¶ Von der Oberfläche gehen wir in die Tiefe. Dem Rasenden stellen wir die Langsamkeit entgegen. Mit der höchsten Aufmerksamkeit von Wort zu Wort. Dem Impuls nicht folgen, sondern betrachten, schreibt Weil. Und: Das Gute ist, was sich nicht nicht tun lässt. Wenden wir uns dem Wirklichen zu.


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