DAS F IK T IVE PHILO S O PHEN -IN T ERV IE W
HANNAH ARENDT SAGT:
„Spuck in die Hände und fang an zu lieben“ Wir alle sollten mehr in die Liebe investieren: Liebe zum Leben, zu uns selbst … und auch zu unseren Partnern. Aber was bedeutet wahre Liebe konkret? Das klärt die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt im fiktiven Interview mit dem Philosophen Christoph Quarch.
the red bulletin: Frau Arendt, die Liebe ist von den männlichen Philosophen etwas stiefmütterlich behandelt worden. Was sagt die Philosophin dazu? hannah arendt: Ach, wissen Sie, ich würde das nicht gendern. Es gibt durchaus bemerkenswerte Texte von männlichen Kollegen, die sich dem Thema Liebe widmen. Aber in einem Punkt liegen Sie schon richtig. Die Liebe ist tatsächlich ein Aspekt des Lebens, der sich aus männlicher und weiblicher Perspektive jeweils etwas anders darstellt. Es ist sicher auch kein Zufall, dass Platon in seinem „Sym posion“, dem wohl bedeutendsten philosophischen Text zur Liebe, die wichtigsten Gedanken der Priesterin Diotima in den Mund gelegt hat.
BENE ROHLMANN DR. CHRISTOPH QUARCH
Aber ist die Liebe nicht in erster Linie ein G efühl? Ah, das ist es also, was Sie von einer Philo sophin zu hören erwarten. Aber da muss ich Sie leider enttäuschen. Denn in mei nem Denken ist die Liebe eine Kraft des Handelns. Wer einen anderen Menschen liebt, wird schöpferisch und kreativ. Wer das Leben liebt, der wird sich für das Leben engagieren. Untätig rumzuhängen und sich in seinen Gefühlswallungen zu aalen ist in meinen Augen kein Zeichen von Liebe, sondern eines von träger Selbst gefälligkeit.
„Liebe ist eine Kraft des Handelns. Wer einen anderen Menschen liebt, wird kreativ.“
Wo liegt der Unterschied zwischen einer männ lichen und einer weiblichen Sicht auf die Liebe? In den Reden der Diotima geht es unter anderem um die Frage, was geschehen muss, damit die Liebe – beziehungsweise der Eros, wie die Griechen sie nann ten – entsteht; genauer: wie der Eros geboren wird. Das scheint mir ein ziemlich weiblicher Zugang zu sein, der darüber hinaus den Vorteil hat, etwas deut lich zu machen, was für unser menschliches Leben äußerst wichtig ist. Ich nenne es: die Natalität. Frau Arendt, wären Sie so gut, diesen Begriff für unsere Leser zu erklären? Sehen Sie: Natalität heißt „Gebürtigkeit“. Das ist etwas, was uns Menschen allen gemein ist: Wir wurden von einer Mutter geboren. Das heißt: Wir alle sind irgend wann als Neulinge zur Welt gekommen – als neue Wesen, unberechenbar, voller Möglichkeiten und Potenziale. Das ist äußerst bedeutungsvoll. Denn es ist der Grund dafür, dass wir auch später immer wieder neu anfangen können. Zum Beispiel, wenn wir uns verlieben oder wenn „der Eros uns entflammt“ – um es noch einmal mit den Worten der griechischen
THE RED BULLETIN
Philosophie zu sagen. Liebe hat immer etwas mit Neuanfang und Neubeginn zu tun. Liebe bringt Ver änderung. Liebe ist Handeln.
Das klingt so, als sei die heute gängige Forderung, man müsse sich zunächst einmal selbst lieben, um dann auch andere lieben zu können, nicht nach Ihrem Geschmack? Mit meinem Geschmack hat das gar nichts zu tun. Ich halte das einfach nur für Unsinn. Liebe, die ihren Namen verdient, ist immer an andere adressiert: an meinen Partner, meine Freunde, vielleicht auch die Natur, ja vielleicht sogar das Leben. Und sie zeigt sich immer nur darin, dass ich etwas für diejenigen tue, denen meine Liebe gilt; darin, dass ich die Ärmel hochkremple, in die Hände spucke und etwas Neues wage. Menschen, die ich liebe, sind solche, mit denen ich etwas an fangen kann. Mutig und tätig anderen zu begegnen – das ist in meinen Augen der größte Ausdruck meiner Liebe zum Leben.
HANNAH ARENDT (1906 – 1975) gilt als eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten lehrte die frühere Studentin von Martin Heidegger an Hochschulen in New York und Chicago. Mit ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ wurde sie in den USA zu einer gefeierten politischen Philosophin. CHRISTOPH QUARCH, 57, ist deutscher Philosoph, Gründer der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3.org) und Autor zahlreicher philosophischer Bücher, zuletzt: „Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen“, legenda Q, 2021.
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