RePHlex Ausgabe 41

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LÜGEN TUT MAN NICHT! Vor ein paar Wochen hat meine siebenjährige Tochter ihren fünften Milchzahn verloren. Traditionsgemäss legten wir das kostbare Stück am Abend unter ihr Kissen und warteten auf den Besuch der Zahnfee. Am nächsten Morgen lag dort eine Münze mit einem kleinen Briefchen: «Von der Zahnfee» stand da drauf, alles bestens. Bis plötzlich unser schlaues Kind die Schrift wiedererkannte. Schleunigst verglich sie den geschriebenen Gruss mit einem Notizzettel auf dem Pult, und es stimmte tatsächlich mit Papas Handschrift überein. Wir sind aufgeflogen: «Ihr könnt mich nicht mehr ver**schen» bekamen wir zu hören. Text Lea Imhof Illustration Vera Kobler

Wie fühle ich mich nun als Elternteil, der sein Kind angelogen hat, wenn wir ihr doch immer wieder einbläuen, sie solle ja immer die Wahrheit sagen? Müssen wir jetzt auch den Samichlaus, das Christkind und den Osterhasen auffliegen lassen? Spielen wir erst dann mit offenen Karten oder entziehen wir unserem Nachwuchs eine wichtige, magische Welt?

Wir dürfen von den Kindern nicht immer erwarten, dass sie uns die Wahrheit erzählen. Mit einem Dozenten der PH Zürich habe ich eben diese Frage kurz durchdiskutiert: Wie reagierte er auf die Feststellung, dass es den Osterhasen gar nicht gibt? Traurig, 26

enttäuscht, frustriert – aber es war nicht an seine Eltern gerichtet. Eher auf die Tatsache an sich, dass dieses Fabelwesen gar nicht existierte. Bei mir war es genauso. Wie dem auch sei, dürften wir demnach von den Kindern nicht erwarten, sie müssten uns immer die Wahrheit erzählen, wenn wir ihnen den Osterhasen vorgaukeln – welch Paradoxie! Und was soll das mit elterlichen Aussagen wie: «Wenn du zu viel Fernsehen schaust, bekommst du viereckige Augen!»

Das Erlernen von lügen ist eine sehr wichtige Entwicklung eines Kindes. Okay, wir lügen unseren Nachwuchs an. Wir sind die Eltern, das ist Teil der Erziehung (reden wir uns ein). Aber wie sauer werde ich, wenn meine Tochter darauf schwört, nicht die letzte Glace gegessen zu haben oder dass sie einen «Räuber» auf dem Spielplatz beobachtet hat, der mit einem Messer in der einen und einem Sack für Kinder in der anderen Hand sein Unwesen treibt. Zudem werden diese Ansichten in der Märchenwelt von einem allseits bekannten hölzernen Jungen unterstützt: Pinocchio. Und die Moral von der Geschicht: Lügen tut man nicht! Dabei ist das Erlernen von lügen eine sehr wichtige Entwicklung eines Kindes. Um den Unterschied zwischen Wahrheit und Fantasie erkennen zu können, bedarf es an einer gewissen Reife. Das bewusste Mogeln wird im Alter von etwa vier Jahren ermöglicht, da sich die dafür nötigen Nervenbahnen anfangen zu entwickeln. Ein Bericht erklärt ausserdem, dass die Lügenqualität mit dem Stand der geistigen Entwicklung zusammenhängt.


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