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SCHLUSSWORT COLUMNE

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MICROLINO

MICROLINO

BRÜCKEN BAUEN KANN TEUER WERDEN!

Text & Foto: Dr. Thomas Giesefeld

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Klassiker fahren bringt wirksame Entspannung vom Alltag und ist ein Privileg, das man zelebrieren sollte. Um den Nachrichten des Tages für ein paar Stunden zu entweichen, nahm ich an Ostern eine neue Route nach Süden. Mein Ziel war nicht die Hauptsache. Ich wollte dieses mal an unterschiedlichen Denkmälern und verwitterten Gedenksteinen am Wegesrand Station machen, die mir schon lange im Augenwinkel aufgefallen waren. Eine Lustfahrt also! Pure Zeit verschwenden, Wissen entdecken ohne Nutzenprognose. Mit voller Absicht auf Abstand gehen zur bigotten Spritspar-Gefühlswelt pedantischer Tempolimitaktivisten. Kein Reiserechner, keine Ladestationen. Am Abend bei einer guten Flasche Grauburgunder mit Ruhe räsonnieren. Und bis dahin die Beifahrertür salopp ins Schloss fallen lassen, bevor der Zeitgeist einsteigen kann, Sie wissen genau, was ich meine...

Und Sie kennen alte Sühnekreuze, die an eine im Dunkel der Geschichte verschwundene Untat erinnern. Römische Grenzsteine, vielleicht gar das kleine Titanic-Denkmal in Southampton, ein Bismarck-Denkmal, Inschriften an Häusern. Grosse Steine und Kleindenkmäler, die man übersieht, gerade wenn man täglich an ihnen vorbeigeht. Viele sind geheimnisvoll, doch ihre Botschaft wurde bei ihrer Errichtung für bedeutend erachtet und direkt an uns Passanten gerichtet. Viele sind noch nicht einmal amtlich gelistet, manche erinnern an Böses. Denkmäler sind aber nicht einfach in gut oder böse teilbar und allenfalls erklärungsbedürftig. Es gibt kein Ranking für ihre erzieherische Nötigkeit oder eine schickliche Mindesthöhe für den reflexartig erhobenen Zeigefinger.

Mein eigentliches Vorhaben des „Abschaltens“ gelang jedoch nur teilweise. Als erstes fand ich zwischen Ulm und Blaustein den heute nicht mehr ganz lesbaren Gedenkstein für einen Reiter, der dort „am 30. Juni 1903 morgens 6 ¾ Uhr“ einen Schlaganfall erlitt. Vor Meßkirch gibt es an der Landstrasse einen anderen für den bei ihrem Bau im Juli 1967 verunfallten Raupenfahrer. Mir gefällt die Würde, die von diesen unbeachteten Erinnerungsorten ausgeht, auch für den Kreis der Menschen, in deren Mitte die durch sie geehrte Person einmal gern gesehen war. In ganz besonderer Weise würdig sind die vielen „Stolpersteine“ für ehemalige jüdische Mitbürger und Nachbarn.

Es war Beeindruckendes auf dieser Tour, wie etwa das erst 1950 errichtete Denkmal für die Alb-Wasserversorgung in Blaubeuren, ein Jahrhundertwerk der Infrastruktur für Süddeutschland. Am Nachmittag kam ich nach Singen am Hohentwiel zum Museum of Art and Cars an der Aach. Direkt daneben findet sich eine mehrteilige Beschriftung an der vor hundert Jahren erbauten Brücke, die nach dem Schriftsteller und Dichter Joseph Victor von Scheffel (1826-1886) benannt ist. Frühere Generationen haben seinen Roman „Ekkehard“ oder den „Trompeter von Säckingen“ in der Schulzeit gelesen. Trotz persönlicher Rückschläge hatte Scheffel sich und anderen seinen Humor bewahrt. Oben auf dem einstigen Vulkan mit dem höchstgelegenen Weingut Deutschlands und der vordem regelmässig erfolglos belagerten Festungsruine gibt es eine Scheffel-Plakette. Gottlieb und Paul Daimler waren laut einer Hinweistafel bei ihrer Enthüllung 1888, keine drei Jahre nach der Erfindung des Automobils, vor Ort. Eine illustre Gesellschaft hat sich da eingefunden.

An der Scheffelbrücke ist vermerkt, dass sie 1923 eineinhalb Billiarden Mark gekostet hat und damit (laut Wikipedia) die „teuerste Brücke der Welt“ ist. Aus einem maschinegeschriebenen Archivdokument desselben Jahres, das ich einmal vor mir hatte, spricht ebenfalls die seinerzeitige MegaInflation. Es nennt den Tagespreis eines Daimler-Wagens in Höhe von 87 Millionen Mark mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Bereifung (wohl aufgrund schwankender Rohstoffpreise) noch nicht eingerechnet ist. Echte Schnäppchen! Spätestens jetzt schliesst sich der Kreis, und wir sind in der Gegenwart. Die Nominalpreise erreichen nicht die Mega-Zahlen von damals, aber auch hundert Jahre später weiss niemand so recht, wo man mit den vielen Nullen hinsoll. Die Entdeckungsfahrt zu den unzähligen Denkmalen bleibt spannend. Sie sind ein oft dem Verfall überlassener, bisweilen gar bekämpfter Teil des kulturellen Gedächtnisses. Gehen Sie mal auf die Suche! Unwillkürlich setzt man subjektive Eindrücke zu einem bunten Mosaik des Lebens über vergängliche Jahrhunderte hinweg zusammen. Und hofft, dass die Billiarden der Gegenwart einem dauerhaften Aufbau zugut kommen, auch im übertragenen Sinn. Bauen wir also weiter an allerlei Brücken, aber nicht um jeden Preis!

Liebe Leserschaft, Ihre Reaktionen auf meine bisherigen neun Columnen haben erkennen lassen, daß Sie sie als Brücke zwischen uns wertschätzen. An dieser Stelle ein tiefempfundenes Dankeschön für Ihre Gewogenheit und die erfreulichen Rückmeldungen zur RETROWELT,

wie stets mit freundlichen Grüssen,

Ihr Dr. Thomas Giesefeld

giesefeld@web.de

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