5 minute read

Books to read

Next Article
Appetizer

Appetizer

Zusammengestellt von: Stefan Kunzmann  Fotos: Wikimedia Commons, Hermance Triay, Verlagshäuser

Zyklus

Luiz Ruffato ist einer der großen Gegenwartsautoren der brasilianischen Literatur, für mich der zurzeit beste und einer meiner Lieblingsautoren. Der 1961 in der Provinz des Bundesstaates Minas Gerais geborene Ruffato stammt aus armen Verhältnissen. Der Sohn eines Popcornverkäufers und einer Waschfrau arbeitete nach seiner Ausbildung zum Dreher unter anderem als Verkäufer und Industriearbeiter, studierte Journalismus und wurde Journalist in São Paulo. In seinem fünfbändigen Romanzyklus „Vorläufige Hölle“ erzählt er die Geschichte der einfachen Leute und Binnenmigranten Brasiliens, ein Panoptikum aus zahllosen Einzelstimmen, mit dem er nicht zuletzt die Tradition des Großstadtromans fortführt und erneuert. Eine große kollektive Erzählung, manchmal bestehend aus Gesprächsfetzen und anderen Sprachelementen. „Sonntag ohne Gott“ ist der fünfte und letzte Teil. Luis Augusto, das Alter Ego des Autors, gehört mittlerweile zur Mittelschicht eines Landes, das zur Jahrtausendwende hin sich gesellschaftlich und ökonomisch konsolidiert hatte. Die Errungenschaften sind jedoch fragil, wie der gesellschaftskritische Schriftsteller in seinen Büchern und Auftritten in der Öffentlichkeit ein ums andere Mal betont. Ruffato sieht mit dem Aufstieg des heutigen Präsidenten Jair Bolsonaro den Faschismus wiederaufgekommen oder zumindest die Gefahr. Er ist DIE kritische intellektuelle Stimme seines Landes. Ein kleines Buch, ein großes Stück Literatur.

Assoziation A. 16 Euro.

Krimi

Die Luft im Morgengrauen ist frisch, es gibt keine klare Trennung zwischen Nacht und Tag. Die Nachteulen suchen Schutz vor dem heller werdenden Licht. Vorher kannte ich Roland Schimmelpfennig eigentlich nur als Theaterautor. Der 53-Jährige ist der in der Vor-CoronaZeit am meisten gespielte deutsche Gegenwartsdramatiker. Seine Stücke – unter anderem „Besuch beim Vater“ – wurden in mehr als 40 Ländern inszeniert. Dabei ist er ein Vertreter der literarischen Dramatik, nicht des postdramatischen Theaters. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist sein dritter Roman. Er handelt von einem Drogenfahnder, der bei einem Einsatz ein unschuldiges Kind tötet. Danach erkennt er in seiner Arbeit als Polizist keinen Sinn mehr. Er wird vom Dienst suspendiert. Bis nach einer Techno-Party eine junge Frau aus dem Landwehrkanal gezogen wird. Gezeigt wird die professionelle Ermittlung, aber auch eine halluzinierende Reise durch die Metropole Berlin – mit einem Figurenpanorama, das es in sich hat. Der Schreibstil pulsiert im Rhythmus der Großstadt, entwickelt einen Sog, aus dem bis zum Ende hin kaum zu entkommen ist. Achtung Suchtgefahr!

S. Fischer. 22 Euro.

Monografie

Die Nouvelle Vague kann man gut und gerne als filmische Revolution bezeichnen, und Jean-Luc Godard war einer ihrer Protagonisten. Jump Cuts, Handkameras, Außenaufnahmen – das alles findet man in „À bout de souffle“, der vor gut 60 Jahren einer der ersten maßgebenden Filme dieser nur wenige Jahre währenden Stilrebellion war, die ihre Einflüsse aus jahrzehntelanger Filmgeschichte zog und selbst das Kino noch Jahrzehnte danach prägte. Godard war eine Art Popstar unter den Filmregisseuren jener Zeit. Dass er sich immer weiterentwickelte, zeichnet ihn aus. Er mutierte vom künstlerischen Erneuerer, politischen Filmkünstler bis hin zum solipsistischen Experimentator – und entzog sich immer mehr der größeren Öffentlichkeit. Die vielen Verwandlungen im Schaffen

des französisch-schweizerischen Filmautors haben diesen längst zur lebenden Legende werden lassen und sind auch die Merkmale jener Monografie, die Bert Rebhandel nun anlässlich von Godards 90. Geburtstag vorgelegt hat. Bekannt sind vor allem Godards frühe Streifen. Der Filmkritiker Rebhandel zeigt, was Godard auszeichnete und was letztendlich zum Untertitel wurde: „Der permanente Revolutionär“. Ein Buch nicht nur für Cineasten. Eine ausführliche Besprechung folgt nächste Woche.

Zsolnay. 25 Euro.

Kritik

Unterdrückung sichtbar machen – darum geht es Emilia Roig (siehe Artikel über Identitätspolitik in der revue Nr. 14: „Wege der Befreiung“). Die Politikwissenschaftlerin, 1983 in Frankreich geboren und dort als Tochter eines aus Algerien stammenden jüdischen Franzosen und einer aus Martinique stammenden Mutter aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit „Why We Matter“ hat sie ihre eigene Biografie in einem packenden Buch miteinfließen lassen, um „Unterdrückung sichtbar zu machen“, die Diskriminierung von Minderheiten wie den People of Color (PoC) und den Indigenen, den Schwulen, Lesben und Transpersonen, Menschen mit Behinderung ebenso. Aber auch die Unterdrückung von Frauen. Zu Beginn schreibt sie, dass es unerträglich sei, „nicht gesehen, nicht gehört zu werden“. Emilia Roigs Buch ist nicht nur ein Beitrag zur Rassismusforschung, die sie mit postkolonialen Theorien und ihrer sogenannten Theorie der Intersektionalität verbindet, jener Theorie, die davon ausgeht, dass die Unterdrückung mehrdimensional ist und die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person bedeutet, zum Beispiel als PoC und als Frau, als queer und Migrant. Der Rassismus im Alltag spielt ebenso eine Rolle wie der strukturelle Rassismus und die Ablehnung nichtbinärer Menschen. Das Buch hat mich mitgerissen und aufgerüttelt.

Aufbau Verlag. 22 Euro.

Sachbuchkrimi

Bénédicte Savoy ist eine an der Technischen Universität Berlin unterrichtende französische Professorin für Kunstgeschichte und hat als Expertin für „Translokationen“ von Kunstwerken – was auch Themen wie Kunstraub und Beutekunst umfasst – zusammen mit Felwine Sarr für den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einen Bericht über die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter verfasst. Frankreich hat sich als Reaktion gesetzlich zur Rückgabe verpflichtet und beginnt mit rund 30 Objekten. Immerhin ein Anfang, so Bénédicte Savoy. Afrikanische Länder fordern schon lange die Rückgabe, bereits vor 50 Jahren, als 18 ehemalige Kolonien die Unabhängigkeit erlangten, verlangten afrikanische Intellektuelle und Politiker dies. Doch Savoys Buch

„Afrikas Kampf um seine

Kunst“ ist eine Geschichte der Nicht-Restitution und damit auch eine Geschichte „einer postkolonialen Niederlage“, wie es im Untertitel heißt. Der Kampf war lange Zeit vergebens. Die Autorin schildert nicht nur das lange vergebliche Bemühen, sondern auch den perfiden „Abwehrkampf“ von Institutionen und Direktoren. Daraus wurde eine Art spannender und erhellender kunsthistorischer Sachbuchkrimi.

C-H. Beck Verlag. 24 Euro.

Jugendroman

Nach Fatima Daas ist Kaouther Adimi meine zweite Entdeckung der französischen Literatur des vergangenen Jahres, die ich im Laufe meiner Recherchen zum Arabischen Frühling machte. Sie hat nicht nur algerische Eltern wie Daas, sondern ist 1986 in Algier geboren und lebt seit 2009 in Paris. Bisher hat Adimi vier Bücher veröffentlicht. Für „Nos richesses“ wurde sie für den Prix Goncourt nominiert. In „Les Petits de Décembre“, jetzt als „Dezemberkids“ auf Deutsch erschienen, erzählt die Autorin die Geschichte einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die sich regelmäßig auf einem Bolzplatz in der Banlieue der algerischen Hauptstadt zum Fußballspielen treffen – bis zwei Generäle mit Bauplänen erscheinen, um auf der Brache Villen zu errichten. Die Kids verteidigen das Gelände. Der Bolzplatz wird zur Metapher für das ganze Land. Ein tatsächlicher Streit zwischen Jugendfußballern und Generälen inspirierte die Schriftstellerin. Er nahm den Wind der Veränderung vorweg, der zu den „Hirak“Protesten im Jahr 2019 gegen das Regime des greisen Präsidenten Bouteflika führten. Absolut lesenswert!

Lenos Verlag. 22 Euro.

This article is from: