Nr. 7 Saison 21/22 – Seelentrost

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KOLUMNE

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FR AGENDE ZEICHEN

VON EGL E A

Die meisten Besucher in der Münchner Lukaskirche waren von der Frisur über die Handtasche bis zu den Pumps stilistisch auf dem aktuellen Stand. Die Witwe des Verlegers war blickdicht schwarz verschlei­ ert; übertrieben, tuschelten zwei an meiner Seite, völlig übertrieben, und auch modisch sei das fragwürdig. Ich sass einige Reihen schräg hinter ihr und sah, wie das unterdrückte Schluchzen ihre Schultern schüttelte. Sie hatte die Lukaskirche für die Trau­ erfeier ausgewählt, diesen wuchtigen Dom der Protestanten direkt an der Isar, der mir schon immer beim Vorbeiradeln dieselben Gedanken durchs Hirn blies: Errichtet hat­ te ihn der Architekt Albert Schmidt, der davor den Löwenbräukeller entworfen hat­ te und die Münchner Hauptsynagoge. Die Synagoge wurde als eine der ersten Synagogen in Deutschland 1938 abgerissen, der Löwenbräukeller, randvoll mit Erinnerungen an Adolf Hitler, der dort auch seine Stalingrad-Rede gehalten hatte, von der Royal Air Force 1944 weitgehend zerstört, die Lukaskirche bekam fast nichts ab. Der Löwenbräukeller wurde wieder aufgebaut, die Synagoge nicht. Die Akustik der Lukaskirche war gut, der Bariton, es war ein kluger, konnte leise singen. Als er sang: «Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon

muss», beruhigte sich der Rücken der Witwe mehr und mehr, bis er ganz ruhig war. Sie hatte auch die Musik ausgewählt und den Sänger, und Brahms wirkte, wie er es gewollt hatte, vermutlich auch die Witwe, er tröstete. Ich sah es und spürte es, freute mich und fragte mich trotzdem: Was heisst schon trösten? Den Schmerz lindern? Die Ursache des Schmerzes kann der Trost nicht beseitigen. Vor ein paar Tagen, Anfang Januar, traf ich einen altvertrauten Freund auf der Strasse, er sah müde aus, war gerade erst aus Tel Aviv angereist, alarmiert vom jüdischen Seniorenheim, in dem seine Mut­ ter wohnt, das Haus neben uns. Sie hatte versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen. Ich habe die Nummer an ihrem Unterarm einmal gesehen und nie vergessen. «Hast du mitbekommen», fragte mich der Freund, «was auf der Baustelle los war?» Es ging um den Neubau eines moderneren, grösse­ ren Seniorenheims für Juden im Münchner Osten. «Hakenkreuze, sie haben Haken­ kreuze hingeschmiert», sagte er. Manchmal werden wir mitten in der Nacht, vor allem im Sommer, wenn die Fenster offen sind, geweckt von einer Stim­ me, die klingt, als sei gerade jemand verwundet worden, da schreit nebenan ein Mensch, den die Vergangenheit eingeholt hat; alles ist wieder da, die Ängste, die unvorstellbaren, die Gräuel, die unvorstell­ ba­ren. Sind es nur die Mechanismen des


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