Nr. 3 Saison 21/22 - Spätwerk

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SPÄTWERK 17./18. NOV. 21 19.30 UHR

STADTCASINO BASEL

PROGRA MM-MAGAZIN NR. 3 SAISON 21/22

Sinfonieorchester Basel Oliver Schnyder, Klavier Michail Jurowski, Leitung


Zuhause in Basel. Daheim in der Welt. F E n td ü r ec baz.c ker: h

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SINFONIEKONZERT

INH A LT

SPÄT W ERK Liebes Konzertpublikum Kaum jemand kennt den Menschen Dmitri Schostakowitsch und dessen Musik besser als der russische Dirigent Michail Jurowski. In seiner Autobiografie Erin­nerungen erzählt er von den vielen Begegnungen mit dem grossen Komponisten, dessen letzte Sinfonie, die 15., Rückschau auf ein bewegtes Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung hält. Sie steht auch im Zentrum unseres dritten Abonnementskonzerts. In seiner Kindheit erlebte Jurowski Schostakowitsch als Freund der Familie. Sie spielten zusammen Klavier. Als Assistent von Gennadi Roschdestwenski beim Grossen Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens in Moskau lernte Jurowski die Sinfonien von Schostakowitsch intensiv kennen. Immer wieder erhielt er Hinweise zur Aufführungs­ praxis vom Komponisten selbst. 1990, nach dem Ende des Kalten Kriegs, hat er dieses Wissen in die Welt getragen, als Generalmusikdirektor und Gastdirigent von Opernhäusern und Orchestern in Dresden, Berlin und Leipzig sowie durch zahlreiche Konzerte zwischen der Mailänder Scala und dem Moskauer Bolschoi. Nun kommt er nach Basel, zusammen mit einem der derzeit besten Schweizer Pianisten, Oliver Schnyder. Mehr über das Programm erfahren Sie in unserem neuen Programm-Magazin. Besonders ans Herz legen möchten wir Ihnen den Text von Michail Schischkin (S. 18). Er ist einer der interessantesten russischen Schriftsteller der Gegenwart und lebt mit seiner Familie in Kleinlützel. Viel Vergnügen – wir freuen uns auf Ihren Besuch. Hans-Georg Hofmann Künstlerischer Direktor

Ivor Bolton Chefdirigent

PROGR A MM

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IN TERV IE W Oliver Schnyder, Klavier

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LU DW IG VA N BEETHOV EN Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur

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IN TERV IE W Michail Jurowski, Leitung

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DMITR I SCHOSTA KOW ITSCH Sinfonie Nr. 15 A-Dur

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ORTSGESCHICHTEN von Sigfried Schibli

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VORGESTELLT Pablo Aparicio Escolano, Pauke

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FR AGEN DE ZEICHEN von EGLEA

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IN ENGLISH by Bart de Vries

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V ER EIN ‹FR EU N DESK R EIS SIN FON IEORCHESTER BASEL› 31 IM FOK US

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DEMNÄCHST

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VORV ER K AUF

© Marco Borggreve

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Oliver Schnyder, Solist in Beethovens Emperor Concerto für Klavier und Orchester

VORV ER K AUF, PR EISE U ND INFOS VORV ER K AU F

Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel +41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 Sinfonieorchester Basel +41 (0)61 272 25 25 ticket@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Z UG Ä NGL ICHK EIT

Das Stadtcasino Basel ist rollstuhlgängig und mit einer Induktionsschleife versehen. Das Mitnehmen von Assistenzhunden ist erlaubt.

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PROGR A MM

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SPÄT W ERK Mi, 17. Nov. 2021, 19.30 Uhr Do, 18. Nov. 2021, 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal Ludwig van Beethoven (1770−1827):

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur, Emperor Concerto, op. 73 (1809)

18.30 Uhr: Konzerteinführung mit Oliver Schnyder, Michail Schischkin und Hans-Georg Hofmann

ca. 40’

1. Allegro 2. Adagio un poco mosso 3. Rondo. Allegro PAUSE

Dmitri Schostakowitsch (1906−1975):

Sinfonie Nr. 15 A-Dur, op. 141 (1971)

ca. 42’

1. Allegretto 2. Adagio – Largo (attacca) 3. Allegretto 4. Adagio – Allegretto

Sinfonieorchester Basel Oliver Schnyder, Klavier Michail Jurowski, Leitung

Konzertende: ca. 21.30 Uhr


INTERV IE W

OLI V ER SCHN Y DER im Gespräch

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DEN U NSICHTBA REN R AUM FÜLLEN

VON A L A I N CL AU DE SU L Z ER

Zu diesem Gespräch traf der Schriftsteller Alain Claude Sulzer den Pianisten Oliver Schnyder nach einem musika­lischen Ereignis der besonderen Art. Oliver Schnyder hatte am letzten Augustwochenende in der Villa Morillon bei Bern die Goldberg-Variationen gespielt. Nicht zum ersten Mal und nicht nur einmal, sondern an zwei Tagen gleich je zweimal hinter­ einander. Nach den vier Konzerten fand der Pianist Zeit, sich mit dem Autor über Beethovens letztes Klavierkonzert zu unterhalten und darüber, wie man sich ein solches Werk aneignet.

ACS

W ie gelingt es Dir, ein so anspruchs­ volles Programm wie Bachs mit nichts zu vergleichendem Meister­ werk gleich zweimal an einem Tag zu bewältigen? OS Dank guter mentaler Vorbereitung und gescheiter Ernährung. Ein Publikum wie das hier angetroffene trägt einen viel stärker, als man es vielleicht denken würde. Eine so unerhörte Aufmerksamkeit, die gespannte Stille, geben mir die Kraft ‹dranzubleiben›. ACS Es

war der durch Corona bedingte Lockdown, der Dir die Möglichkeit eröffnete, dieses musikalische Mons­ ter so einzustudieren, dass es unter Deinen Händen klingt, als wärst Du von klein auf damit vertraut. Hatte Corona für Dich also auch seine gu­ ten Seiten? OS Ja, die Beschäftigung mit Bach hat mich durch den ersten Lockdown getragen. Bundespräsidentin Sommaruga kam bei ihrer Ansprache am 16. März 2020 früh auf die Einschränkungen zu reden, welche die Kultur im Besonderen zu bewältigen haben würde. Mich hat das berührt, und es gab mir den Impuls, die Variationen aufs Notenpult zu stellen. Jetzt hatte ich endlich Zeit dafür.

ACS

W ir haben vor einigen Jahren, als­ Du sämtliche Klavierkonzerte Beet­


OL I V ER SCH N Y DER

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© Marco Borggreve

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OL I V ER SCH N Y DER

hovens aufgenommen hast, bereits ein längeres Gespräch über den Zy­ klus geführt. Wir waren uns einig, dass ein ‹danach› in dieser Gattung für andere Komponisten nicht gera­ de leicht war. War das 5. Klavierkon­ zert auch für Beethoven ein ‹Ab­ schluss›, der nicht zu überbieten war? Oder ist das Denken in Zäsuren eine Unart der Nachgeborenen? OS Beides, denke ich. Beethoven war zwar schon zu Lebzeiten eine Legende, aber noch nicht die überlebensgrosse Figur, zu der er postum wurde. Mit seinem Ableben war auch er in erster Linie ein toter Komponist. Den Blick richtete man nach vorne, was auch für die damals aufkommenden jungen Komponisten wie ­Weber, Mendelssohn Bartholdy, später Schumann, Chopin und Liszt galt, die sich bei aller Bewunderung von Beethoven abgrenzen wollten und mussten. Sie hatten wohl stärker mit der Leere des unbeschrie­ benen Notenpapiers zu kämpfen als mit dem erdrückenden kompositorischen Erbe. Erst viele Jahre später war es der junge Brahms, der den Ball aufnahm und nach mehreren Leidensphasen eine persönliche Entsprechung zu den Idealen der späten Wiener Klassik fand.

ACS

«Ich spreche nicht mit ihm, höchstens mal fragend, hadernd oder verzweifelt zu ihm. Aber seine Musik spricht durch mich.» Beethoven hat bei seinem 5. Klavier­ konzert, anders als bei seinen frühe­ ren Klavierkonzerten und anders als bei der Mehrzahl seiner Sonaten, sehr genaue Interpretationsangaben gemacht. Wollte er damit allzu will­ ­­­­­kürlichen Interpretationen einen Rie­­­gel vorschieben? OS Bestimmt! Der zunehmend taube Beethoven war – nachdem die Krankheit seine Virtuosenkarriere beendet hatte – auf Pianisten angewiesen, die seine Werke zu Gehör brachten. Die minutiösen Vortragsbezeichnungen waren das Mittel, um die Chancen für eine adäquate Umsetzung seiner Intentionen zu erhöhen.

ACS

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W ie frei fühlst Du Dich selbst, wenn Du dieses Konzert spielst? Ist Frei­ heit überhaupt ein anwendbarer Be­ griff, wenn es um die Interpretation eines so genau notierten Notentex­ tes geht? OS Natürlich! Vortragsbezeichnungen in der Partitur können nicht absolut angewendet werden wie Mengenangaben in Kochrezepten.

W ie frei fühlst Du Dich denn grund­ sätzlich gegenüber einem Noten­ text? Die Bandbreite der Interpreta­ tionsmöglichkeiten ist ja sehr weit, wie wir wissen. Sie reicht von ‹aus­ buchstabiert› bis zu ‹exzentrisch›. Wo verortest Du Dich da? OS Ich sehe mich als Interpreten, der den Komponisten unterstützt. Dazu gehört, dass ich mich mit jedem notierten Detail analytisch und emotionell so intensiv befasse und damit über längere Zeit ‹schwanger gehe›, bis sich mein pianis­ tischer Körper einen Reim darauf machen kann, sobald er am Klavier sitzt. Die Parti­ tur ist abstrakt, der Reim dagegen sinnlich, da er in der Echokammer persönlichen Erlebens entsteht. Wenn ich Beethoven im Konzert spiele, habe ich das Stadium des Ausbuchstabierens, die Bestandsaufnahme sämtlicher notierter Informationen, metabolisiert. Jetzt herrscht ‹informierter Ausdruckswille› vor, was in Deinen Ohren womöglich exzentrisch klingt. ACS

Spannt sich dabei so etwas wie ein ganz persönlicher Draht zu Beet­ hoven? Sprichst Du mit ihm, wenn Du ihn spielst? OS Ich spreche nicht mit ihm, höchstens mal fragend, hadernd oder verzweifelt zu ihm. Aber seine Musik spricht durch mich. Ohne einen ‹persönlichen Draht› wäre ich nur eingeschränkt fähig, mich seinem Werk gegenüber so zu öffnen, dass ich mich mit Haut und Haaren darauf einlassen kann. Interpreten sind unersetzlich, ohne uns kommt die Musik nicht zum Klingen. Aber die musikalischen Gedanken entspringen der geistigen Welt eines anderen. Somit bin ich eine Art Botschafter, der lieben, respektieren und verteidigen muss, was er vertreten soll. Und dafür kämpfen! ACS


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OL I V ER SCH N Y DER

Es kann aber auch passieren, dass einem die eine oder andere geistige oder musikalische Welt verschlos­ sen bleibt? Beethoven hat Dir dies­ bezüglich nie Probleme bereitet? OS Manchmal schon, doch. Aber die gründliche Beschäftigung bringt in meinem Fall immer ein gewisses Mass an persönlicher Identifikation und emotionaler Nähe. Beethoven stellt einen freilich immer vor Probleme. Deren Überwindung schafft unablässig neue Hindernisse. Viele seiner Werke fordern mehr ein als das, was man während eines Musikerlebens einlösen kann. Aber seine Ausdruckswelt und die Geisteshaltung, die sie offenbaren, liegen mir nahe.

sonate – immer wieder öffentlich ge­ spielt und wirst sie demnächst sicher auch aufnehmen. Verglichen damit ist ein Klavierkonzert – salopp ge­ sagt – vermutlich ein Spaziergang. Wenn es denn so ist: Erleichtert das Zusammenspiel von Orchester und Solist, das Musizieren? Oder lauern auch hier ungeahnte Gefahren? Man trifft auf viele Unbekannte … OS Jedes Werk Beethovens stellt den Interpreten vor ganz spezifische Herausforderungen, keine zwei Werke sind im Wesen wirklich miteinander vergleichbar. Sie alle erfordern zu ihrer Bewältigung ein massgeschneidertes Arsenal an technischen beziehungsweise klanglichen Mitteln. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass pianistische Anstrengung und Überwindungskraft ein zentrales Ausdrucksmoment sowohl in der Hammerkla­ viersonate als auch im Emperor Concerto­ sind. Beide Werke zielen im Klaviersatz auf eine bis dahin kaum gekannte orchestrale Wirkung, die sich im Es-Dur-Konzert durch die Verschmelzung mit dem tatsäch­ lich mitagierenden Klangkörper noch vervielfacht. Das Klavier ‹konzertiert› nicht mehr wie bis dato, sondern wird zu einem Primus inter Pares im sinfonischen Miteinander. Den unsichtbaren Raum zu füllen, den der Solist dabei einzunehmen hat, ist leider alles andere als ein Spaziergang …

ACS

«Für mich spricht sein Werk von den univer­ salen Dingen und den­ grossen Fragen unserer Existenz. Waren sie jemals relevanter als heute?» Für viele scheint diese Ausdrucks­ welt allerdings Lichtjahre von unse­ rer entfernt. OS Für mich spricht sein Werk von den universalen Dingen und den grossen Fragen unserer Existenz. Waren sie jemals relevanter als heute? Die Ausdrucksmittel, die Beethoven zur Verfügung standen, waren zwar andere, aber wir sollten sie nicht mit der Aussage verwechseln, die sie transportieren.

ACS

Mit anderen Worten: Beethoven ist Dir, wenn Du ihn spielst, so nah, als wäre er da; ist er das? Du spielst ihn, während er Dich spielt? OS Eine aufgrund des Gesagten logisch erscheinende Schlussfolgerung! Aber ich muss Dich enttäuschen: Das Werk spielt mich − um bei Deinem Bild zu bleiben −, nicht der Mensch, der dahintersteht. Oder besser: Es spielt das, was ich von dessen Substanz zu spiegeln vermag.

ACS

ACS

Du hast in den letzten Jahren die schwerste und komplexeste Sonate von Beethoven – die Hammerklavier­

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Dann also eher die Besteigung eines Fünftausenders! Und ähnlich wie bei einer solchen weiss man auch im Fall eines Konzerts kaum je, was einen erwartet. Man trifft sich zwar mit Gleichgesinnten, die dasselbe Ziel vor Augen haben, aber doch mit un­ terschiedlichen Vorstellungen ans Werk gehen: Wo geniesst man die Aussicht, wo beeilt man sich, was zieht die Aufmerksamkeit des einen an, was die des anderen? Da kann die Luft auch ganz schön dünn werden, oder? OS Ja. Man darf bei allem gebotenen heiligen Ernst aber nicht vergessen, dass wir im Grunde nur Musik machen. Alle spielen all in, setzen sämtliche Jetons – ungeachtet der grossen Absturzgefahr – auf einen musikalischen Moment, der dem Werk Genüge tun soll. Glücklicherweise kann man ihm – auch im ungünstigsten Fall – über diesen Moment hinaus nichts anhaben! ACS


ZUM W ER K

LUDW IG VA N BEETHOV EN Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur

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DIE GRENZEN DER G ATTU NG GESPRENGT

VON B JØR N WOL L

Ludwig van Beethoven schrieb sein 5. Klavierkonzert in einer Zeit, die geprägt war von äusseren wie inneren Extremzuständen. Zum einen war die schleichende Ertaubung des Komponisten bereits so weit fortgeschritten, dass er das neue Werk nicht mehr selbst der Öffentlichkeit vorstellen konnte. Und zum anderen entstand es zur Zeit der napoleonischen Besetzung Wiens: «Welch zerstörendes, wüstes Leben um mich her, nichts als Trom­meln, Kanonen, Menschenelend in aller Art», schrieb Beethoven an seinen Verlag Breitkopf & Härtel. Die kriegerischen Zustände der Entstehungszeit klingen in der Komposition dann durch, wenn wir am Ende des Konzerts eine Passage hören, in der Klavier und Pauke eine dumpfe Kriegsmusik intonieren. Aber auch im Duktus des Gesamtwerks nimmt Beethoven Bezug auf seine Lebenswirklichkeit, allerdings nicht in der düsteren, pessimistischen Form, die aus seiner oben zitierten Äusserung spricht, sondern vielmehr in einem zuversicht­ lichen Gegenentwurf, der sich schon in der Tonart Es-Dur manifestiert: Es ist die Tonart der Eroica, und der heroische Charakter ist es auch, der dem 5. Klavierkonzert den Beinamen Emperor gegeben hat. Das Werk ist nicht nur der Gipfelpunkt in Beethovens Konzertschaffen, es läutet auch eine neue Zeitrechnung in der Gattung des Klavierkonzerts ein. Bereits

im G-Dur-Konzert hatte Beethoven das sinfonische Prinzip auf die konzertierende Form übertragen. Doch während er dort noch nach Verfeinerung strebte, treibt er mit dem Es-Dur-Konzert das Prinzip der Expansion auf die Spitze. Es sprengte damals jeden herkömmlichen Rahmen: Die Länge des ersten Satzes (582 Takte!) wird Beethoven selbst in seiner 9. Sinfonie nicht mehr übertreffen. Und obwohl die Orchesterbesetzung noch dieselbe ist wie im 3. Klavierkonzert in c-Moll, ist der Klang erheblich sinfonischer, durchmischter, wuchtiger. Die vorangegangenen Erfahrungen mit der 4. Sinfonie sind deutlich zu hören. Um dem Orchester ein ebenbürtiger Partner sein zu können, muss das Soloinstrument also mit einem dementsprechend gewichtigen Klang daherkommen. Beethoven erfindet dafür einen völlig neuartigen Klaviersatz, der sämtliche Merkmale des romantischen Klavierstils bereits in sich trägt: weiträumig rauschende Arpeggien in grossen Pedalfeldern, akkordischer Satz bis hin zur Zehnstimmigkeit, schnelle Doppelgriffe, Oktaven in der rechten und linken Hand – unisono, gebrochen und alternierend –, extrem schnelle Tonleitern in beiden Händen, Dezimengriffe bei Begleitfiguren, um nur einige zu nennen. Gleich mit dem Beginn löst Beethoven sich von allen Klischees der Gattung: Die Eröffnung ist ein singulärer Eingang


LU DW IG VA N BEET HOV EN

eines Klavierkonzerts – kaum zwei Jahrzehnte nach Mozarts Tod stösst er die Tür zur musikalischen Romantik auf. So emphatisch, mit so ungeheurer Strahlkraft wurde nie zuvor ein Solokonzert angegangen. Darin zeigt sich die konzertante Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas: Der sublime Dialog zweier gleichberechtigter Partner, von Solo und Orchester, wie man es von Mozart in unvergleichlicher Weise kennt, wird hier abgelöst vom allumfassenden sinfonischen Anspruch. Es geht nicht mehr um das gleichsam spontane Agieren auf der imaginären Bühne, um ein diskretpointiertes Mit- und Gegeneinander, hier herrscht vielmehr eine Sogkraft, die Klavier und Orchester gleichermassen in ihren Bann zieht. Das zeigt sich direkt zu Beginn des Kopfsatzes: Das Orchester spielt die drei Grundharmonien der Tonart, über welche sich fortissimo das rauschhafte Solo entspinnt, völlig athematisch, aber sofort der Situation den Stempel aufdrückend. Auf diesen nachgerade besitzergreifenden Gestus des Solisten mochte kaum ein romantischer Komponist mehr verzichten, wie die meisten Klavierkonzerte jener Epoche und noch des beginnenden 20. Jahrhunderts zeigen. Beethoven hat damit den Proto­­ty­ pen des bravourösen Virtuosenkonzerts geschaffen, ohne jedoch der Versuchung der Äusserlichkeit und Verflachung nachzugeben. Es ist zudem ein Werk für den professionellen Pianisten, der nicht zwangs­ läufig auch ein origineller Improvisator sein muss. Denn der Komponist eliminiert in diesem Stück die Institution der Solokadenz, in der der Solist gleichsam improvisatorisch sein Können demonstrieren konnte, und ersetzt sie durch eine kurze, brillante, fast lakonische Passage, die zur ausgedehnten Coda mit der Rekapitulation sämtlicher Themen und der gewaltigen Schlusssteigerung führt. Für Kopfsatz und Finale gilt dabei gleichermassen, dass die Hauptmotive allesamt von stolzem Charakter sind, prägnant und einfach, ohne jedoch banal zu klingen. Einen starken Kontrast dazu bildet der folgende langsame Satz, dessen Adagio in H-Dur steht. Das Thema wirkt dank seiner rhythmischen Schlichtheit und dem Verzicht auf jegliche Melismen wie ein Choral. Zur Bravour der Ecksätze bildet

Ludwig van Beethoven (1770–1827)

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© Wikimedia Commons

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Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur, Emperor Concerto, op. 73 BESETZUNG

Klavier solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauke und Streicher ENTSTEHUNG

Frühjahr 1809

UR AUFFÜHRUNG

13. Januar 1811 im Palais Lobkowitz in Wien mit dem Erzherzog Rudolph von Österreich als Solist DAUER

ca. 40 Minuten


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dieses Streben nach Einfachheit und Konzentration im Ausdruck einen ausgeprägten Kontrapunkt. Dem folgt auch die Form des Satzes: Nach der Vorstellung des Themas im Orchester hört man ein gesangliches, wenngleich schnörkelloses Zwischenspiel des Klaviers und eine doppelte Reprise des Chorals, einmal mit dem Solisten in der Hauptrolle, dann mit den Holzbläsern, die von Akkordbrechungen des Soloinstruments sowie von Streicherklängen begleitet werden. Am Ende des Satzes greift Beethoven dann zu einem kompositorischen Kniff: Indem er die Tonart nach Es-Dur rückt, kann das Finale attacca, also ohne Pause, anschliessen. Langsam und leise ahnt der Solist das Thema des Schlusssatzes voraus. Dessen Rondo verbindet auf glückliche Weise den typischen heiter-schwungvollen Kehraus mit dem neuen Ernst thematischer und konzertierender Verarbeitung des musikalischen Materials. Die Aufführung am 28. November 1811 in Leipzig durch den Pianisten Friedrich Schneider war ein glänzender Erfolg, der, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heisst, das Publikum «in eine Begeisterung versetzte, die sich kaum mit den gewöhnlichen Äusserungen der Erkenntlichkeit und Freude begnügen konnte». In Wien, wo Carl Czerny den Solopart spielte, fiel das Konzert 1812 hingegen durch. Ein Originalbeitrag für das Konzerthaus Dortmund, 2014

LU DW IG VA N BEET HOV EN

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KlassiX – Das Sinfonieorchester Basel auf Sendung. Kostproben, Eindrücke und Storys aus dem Orchesteralltag, jeweils sonntags um 20 Uhr.

10. Okt. 2021 28. Nov. 2021 16. Jan. 2022 27. März 2022 22. Mai 2022 Hören Sie sich die Sendung live auf Radio X zum Sendetermin an oder ab dem Folgetag online in unserer Mediathek unter: www.sinfonieorchesterbasel.ch

RADIO


INTERV IE W

MICH A IL JUROWSK I im Gespräch

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MICH A IL JUROWSK I IM GESPR ÄCH

VON CHR ISTA SIG G

Fällt der Name Jurowski, muss man erst fragen: welcher? Der Dirigent Michail Jurowski kommt aus einer Musikerdynastie und ist wiederum der Vater von Wladimir und Dmitri Jurowski, die eine genauso steile Karriere am Pult hingelegt haben. Es ist der 75-jährige Senior, der nach Basel kommt, mit einem Programm, das kaum besser zu ihm passen könnte. Ein Gespräch über alte Familienfreunde, politische Brillen und das Lesen zwischen den Zeilen.

Herr Jurowski, Sie kennen Dmitri Schostakowitsch seit Ihrer Kindheit und haben sogar Klavier mit ihm ge­ spielt. Wie kam das? MF Ja, ich sage immer, Schostakowitsch hat mich früher gekannt als ich ihn. In meiner Familie sind die Künstler ein und aus gegangen, David Oistrach, Prokofjew ... lauter bedeutende Leute. Aber für mich als Kind war das völlig normal, ich kannte es ja nicht anders. Schostakowitsch und mein Vater, der selbst Komponist war, ­haben sich im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Beide wurden nach Kuibyschew, das heutige Samara, evakuiert. Und bis zu Vaters Tod 1972 war das eine sehr freundschaftliche Beziehung voller gegenseitigem Respekt. CS

CS Welchen

Eindruck hat Schosta­ kowitsch auf Sie gemacht? MF Das ist schwierig zu sagen. Auf der einen Seite kam er sogar an meinem Geburtstag vorbei und hat dann einmal mit Chatschaturjan Tischhockey gespielt – das bekam ich damals geschenkt. Auf der anderen Seite verstand ich schon als Kind, dass er eine grosse, besondere Persönlichkeit ist. Wahrscheinlich hat mich das auch daran gehindert, ihn als Mensch wahrzunehmen. CS Und

was haben Sie am Klavier zu­ sammen gespielt?


M ICH A I L J U ROWSK I

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MF Tschaikowski! Da war ich aber schon etwa sechzehn Jahre alt. In der Sowjetunion gab es spezielle Zentren für Komponisten, wo sie sich erholen und in Ruhe arbeiten konnten. Meine Familie war regelmässig in Rusa, und natürlich wurde dort viel musiziert. Gelegentlich kam auch Schostakowitsch, der das gemeinsame Spiel sichtlich genossen hat. Einmal wurde der Klavierauszug von Tschaikowskis 4. Sinfonie ausgesucht, und ich war plötzlich als zweiter Klavierspieler gefragt. Sie dürfen mir glauben, dass das ein ganz besonderes musikalisches Erlebnis war!

dass ich bei ihm ‹zwischen den Zeilen› lesen kann, wahrscheinlich spüre ich deshalb auch, was ihn beim Komponieren beschäftigt und bewegt hat. Ich bin seiner Musik sehr nahe, weil ich weit mehr als die Partitur vor mir habe.

© IMG Artists

I N T ERV I E W

«Ich bin seiner Musik sehr nahe, weil ich weit mehr als die Partitur vor mir habe.» CS Sie

M F

gelten längst als Spezialist für Schostakowitsch. Fühlen Sie sich sei­ ­nem Werk besonders verpflichtet? Das ist sicher so. Ich habe das Gefühl,

CS In

Basel dirigieren Sie die 15. Sinfo­ nie, zu der Sie eine aussergewöhn­ liche Beziehung haben. MF Oh ja! Ich durfte die Proben zur Uraufführung Ende 1971, Anfang 1972 begleiten. Damals war ich Assistent von Gennadi Roschdestwenski, meinem unvergesslichen Lehrer beim Grossen Rund­funksinfonie­ orchester der UdSSR. Das Konzert dirigierte dann allerdings Schostakowitschs Sohn Maxim, der Komponist wollte das so. Nach der Uraufführung bat mich Schostakowitsch, mit sämtlichen Orchesterstimmen zu ihm nach Hause zu kommen, um den Druck der Partitur vorzubereiten. Zwei Wochen lang haben wir intensiv zusammengearbeitet, deshalb kenne ich dieses Stück bis in jedes Detail und Schostakowitschs Haltung dazu.


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M ICH A I L J U ROWSK I

CS Die

CS Der

15. ist Schostakowitschs letzte Sinfonie. Darf man sie als Rückblick auf ein Leben voller Tiefen und mit einigen Höhen verstehen? Oder als Abrechnung? MF In seiner 14. Sinfonie setzt sich Schostakowitsch mit dem Tod auseinander, aber die 15. ist ein bewusster Abschied von seinem Leben, alles dreht sich um seine Visionen.

«In dieser letzten Sinfonie nahm Schostakowitsch nicht nur Abschied vom Leben, sondern genauso von der musikalischen Welt, die er so sehr geliebt hat.» CS Man

hört dabei auch eine Art Reka­ pitulation der Musikgeschichte. Auf Wagner etwa oder Rossini. MF In dieser letzten Sinfonie nahm Schostakowitsch nicht nur Abschied vom Leben, sondern genauso von der musikalischen Welt, die er so sehr geliebt hat. Man denke an die Motive aus Wagners Tristan und natürlich aus der Götterdämmerung. Zu den Zitaten aus Rossinis Wilhelm Tell hat mir Schostakowitsch selbst eine schöne Begebenheit erzählt: In seiner Kindheit konnte er von seinem Zimmer aus auf den Stadtpark blicken, wo jeden Tag eine Blaskapelle die Tell-Ouvertüre gespielt hat – mit vielen falschen Tönen. Schostakowitsch hasste diese Musik, aber später hat er dann sehr wohl verstanden, dass sie genial ist. Insofern sind die Zitate aus Wilhelm Tell eine Entschuldigung und zugleich eine Verbeugung vor Rossini. CS In

Schostakowitschs letztem Werk, einer Sonate für Viola und Klavier, verneigt er sich vor Beethoven, der eine wichtige Rolle für ihn spielte. Haben Sie deshalb das 5. Klavierkon­ zert ins Programm genommen? MF Schostakowitsch führte seine Sinfonien am liebsten mit Konzerten von Beethoven auf. Insofern passt diese Kombi­ nation immer, und ich glaube, diese hätte ihm sehr gefallen.

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Cellist Mstislaw Rostropowitsch hat Schostakowitschs Sinfonien als «Geheimgeschichte Russlands» be­ zeichnet. Wie sehen Sie das? MF Ich würde sagen, Schostakowitsch hatte eigene Vorstellungen vom damaligen Leben. Er erklärte ja selbst, dass alles, was er sagen wollte, in seinen Noten steht. CS Besteht

nicht die Gefahr, diesen Komponisten zu sehr durch die poli­ tische Brille zu sehen? MF Das ist leider so, denn durch die Politisierung wird sein musikalischer Kosmos vereinfacht und meines Erachtens auch herabgesetzt. CS Sie

und Ihre Familie haben selbst Er­ fahrungen mit dem sowjetischen System gemacht und sind emigriert. MF Da war einfach kein Sauerstoff, weder für das Leben noch für die Kunst. CS Können

Sie sich vorstellen, heute wieder in Russland zu leben? MF Wir haben das Land ja nicht ohne Grund verlassen. Ich hatte in den letzten Jahren einige Auftritte in Moskau und Sankt Petersburg, ich kenne die Verhältnisse immer noch gut. Aber seit dreissig Jahren bin ich deutscher Staatsbürger und Weltmensch, deshalb kann ich mir ein Leben im neuen Russland nicht vorstellen. Was zählt im Leben? Musik, Frieden, Liebe, Familie, Freiheit, Gesundheit – das gehört für mich alles zusammen. CS

MF

Sie gelten als Workaholic, ist das mit jetzt 75 Jahren immer noch so? MF Wenn die Gesundheit es erlaubt, ja! CS

Haben Sie dann noch Zeit zum An­ geln? MF Gelegentlich. CS


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DMITR I SCHOSTA KOW ITSCH Sinfonie Nr. 15 A-Dur

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SCHOSTA KOW ITSCHS KÖFFERCHEN

VON MICH A IL SCHISCHK I N

Er wartete auf die Verhaftung. Ein Freund nach dem anderen wurde abgeholt. Leute verschwanden nachts, und über Verschwun­ dene wurde nicht gesprochen. Auch Familienmitglieder waren schon verhaftet worden: ein Onkel, die Schwiegermutter, der Schwager. Menschen, die ihm teuer und nah waren. Seine Schwester hatte sich von ihrem Mann lossagen müssen, um sich und ihre Angehörigen zu retten. Er hatte ein kleines Kind, seine Frau war schwanger. Im Flur stand immer ein gepacktes Handköfferchen – das Zeichen, dass er bereit war für den Tod oder ein neues Leben im Unbekannten. Schliesslich kam die Vorladung in das Grosse Haus am Litejnyj-Prospekt: das Gebäude des NKWD (politischer Geheimdienst). Beim Verhör forderte man von ihm ein aufrichtiges Geständnis und eine Liste mit Beteiligten an einer Verschwörung gegen Stalin. Dann liess man ihn nach Hause – es war Samstag – und legte ihm nahe, «bis Montag zu überlegen». Am Montag erfuhr er, dass der zu­ständige Ermittler verhaftet worden war. Jahrzehnte später, als Dmitri Schostakowitsch die 15. Sinfonie komponiert hatte, nannte er sie das autobiografischste seiner Werke. Diese Musik handelt von seinem Leben, vom Wichtigsten: dem Sieg über die

Angst vor dem Tod. Es gibt bei Schostakowitsch keine nicht-autobiografische Musik. Liebe und Leidenschaft, die vertraute Wärme des Kindes, die Freude an Gottes Welt, die Ohnmacht gegenüber dem menschlichen Bösen, aufgesetzte Hingabe gegenüber der Obrigkeit, heimlicher Hass, unterdrückter Ekel, Überleben in der Lüge. Sein ganzes Leben in einer Handvoll flüchtiger Klänge. Diese Sinfonie ist eine besondere. Die letzte. Sie ist seine Beichte. Seine Busse. Er wusste genau, was um ihn herum vorging und schrieb doch Musik, die der verlogenen Propaganda diente. Er hasste die Partei und war in sie eingetreten. Er verachtete die Lakaien der Sowjetmacht und hielt untertänige Reden. Als man ihn anwies, einen Stein auf einen Gerechten zu werfen, tat er es: Er unterschrieb zornige Erklärungen der ‹sowjetischen Intelligenz› gegen das Akademiemitglied Andrei Sacharow. Er wusste, er wurde als menschliches Antlitz eines Sklavenimperiums benutzt. Aber er wusste auch: Seine Musik hilft den Sklaven zu überleben. Nicht allen, aber doch einigen. Und er wusste, am Ende steht die Rechtfertigung. Sein Werk würde ihn rechtfertigen. Den ersten Teil der Sinfonie schreibt Schostakowitsch im Juni 1971 in einem Provinzkrankenhaus – in Kurgan, einer


DM I T R I SCHOSTA KOW I TSCH

Stadt der Uralregion. Patienten aus dem ganzen Land kommen hierher, um den Arzt Gawriil Abramowitsch Ilisarow aufzusuchen, der Wunder wirkt und unheilbar Erkrankte rettet. In den letzten Jahren seines Lebens ist der Komponist schwer krank. Er erleidet einen Herzinfarkt und bricht sich das Bein. Infolge einer chronischen Rückenmarksentzündung leidet er an einer fortschreitenden Lähmung der Gliedmassen – einer Krankheit, die auch die heutige Medizin nicht aufzuhalten vermag. Er kann nicht mehr Klavier spielen. Schostakowitsch will an ein Wunder glauben. Ilisarow verspricht, ihm mithilfe von Gymnastikübungen die ertaubenden Hände zurückzugeben, und das Wunder geschieht. Schostakowitsch schreibt aus dem Krankenhaus: «Gawriil Abramowitsch behandelt nicht einfach nur Krankheiten, er heilt den Menschen.» Er beendet die Arbeit an der Sinfonie im Juli in Repino bei Leningrad. Nach der Behandlung bei Ilisarow hatte er sich viel besser gefühlt, aber die Besserung war nicht von Dauer. Er wusste, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit blieb. In einem Interview sagte er über die 15. Sinfonie: «Ich habe viel daran gearbeitet, und es ist sonderbar: Ich habe im Krankenhaus komponiert, dann nach der Entlassung auf der Datscha, wissen Sie, es war mir völlig unmöglich, mich davon loszureissen. Sie ist eines der Werke, die mich einfach sehr gepackt haben, und […] vielleicht eine der wenigen meiner Kompositionen, die mir von der ersten bis zur letzten Note klar erschienen, ich brauchte nur die Zeit, um das aufzuschreiben.» Am 26. August schrieb Schostakowitsch an die Schriftstellerin Marietta Schaginjan: «Ich habe viel an der Sinfonie gearbeitet. Bis mir die Tränen kamen – nicht, weil sie so traurig wäre, sondern weil meine Augen stark ermüdeten. Ich war sogar beim Augenarzt, der mir empfahl, eine kurze Pause von der Arbeit einzulegen. Diese Pause ist mir sehr hart vorgekommen. Wenn die Arbeit gut von der Hand geht, ist es eine Qual, sie zu unterbrechen.» Die fünf Phasen des Sieges über den Tod sind: Leugnung. Zorn. Verhandeln. Depression. Annahme. Die 15. Sinfonie ist die Annahme.

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)

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© akg-images

Z U M W ER K

Sinfonie Nr. 15 A-Dur, op. 141 BESETZUNG

3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Schlagzeug, Celesta und Streicher ENTSTEHUNG

1971 in Repino, Sankt Petersburg UR AUFFÜHRUNG

8. Januar 1972 in Moskau unter der Leitung von Maxim Schostakowitsch DAUER

ca. 42 Minuten


Z U M W ER K

Diese Musik ist Schostakowitschs Köfferchen. Er ist bereit für den Tod oder ein neues Leben im Unbekannten. Die Angst des Menschen vor dem Tod kann nur durch eines überwunden werden: das Wissen um den Tod. In dieser Musik geht es nicht um den Verfall des Fleisches, sondern um das Licht. Sie selbst ist dieses ewige Licht. Nach Beendigung der Sinfonie schrieb Schostakowitsch am 16. September 1971 an seinen Freund und Biografen Krzysztof Meyer: «Ich sollte wohl nicht mehr komponieren. Dabei kann ich ohne das doch nicht leben.» Am nächsten Tag wurde er mit dem zweiten Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Nachdem er die Fünfzehnte vollendet hatte, schrieb er anderthalb Jahre lang keine einzige Note. Erstmals in seinem Leben hörte er vollständig auf zu arbeiten. Ihm blieb nur noch sehr wenig Lebenszeit. Bei einer ärztlichen Untersuchung wurde Krebs diagnostiziert. Die Metas­tasen waren schon überall im Körper. Die Musikwissenschaftler weisen auf die Fülle musikalischer Zitate in der 15. Sinfonie hin – Motive von Rossini und Wagner, das wiederholte Auftreten des B-A-C-H-Motivs im Finale, Verweise auf Strawinsky, Hindemith, Mahler. Diese Collage ist für Schostakowitschs Schaffen nicht unbedingt typisch und wird oft als rätselhaft bezeichnet. Er ruft die auf, auf die er zugeht – die Unsterblichen. In seinen Briefen ist die Rede von «genauen Zitaten» aus Beethovens Werk. Generationen von Musikwissenschaftlern haben die Fünfzehnte bis ins kleinste Glied seziert und jede Note geprüft, aber nachdem sie keinerlei direkte Anleihe bei Beethoven hatten finden können, blieb ihnen unverständlich, was Dmitri Schostakowitsch meinte. Beethoven hat es verstanden. Dies ist keine Abschiedssinfonie. Es ist eine Sinfonie der Begegnung. Aus dem Russischen übersetzt von Anselm Bühling.

DM I T R I SCHOSTA KOW I TSCH

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M i r j a M G i n s b e r G • f i n e a rT j e w e l l e ry

Kreativität ist für Mirjam Ginsberg ein Spiel mit Formen und Materialien. Mit ihrer Arbeit unterstreicht sie den naturgegebenen Charakter eines Edelsteines oder einer Perle und bringt so deren spezifischen Glanz zum Vorschein. Sie setzt ihre ganze handwerkliche Virtuosität ein, um das geheimnisvolle Lichtspiel eines Edelsteines hervorzuzaubern. Dieses soll etwas auslösen, das man als Glücksempfinden bezeichnen kann; so reflektiert das Schmuckstück im doppelten Sinne. Mirjam Ginsbergs Werke sind zeitlos und widerstehen den jeweiligen Modetendenzen.

„Eleganz ist die einzige Schönheit, die nie vergeht.“ Audrey Hepburn

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ORTSGESCHICHTEN

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VOLLENDU NG IN REPINO

VON SIGF R IED SCHIBL I

Karelien war im Lauf der Jahrhunderte unterschiedlichen Herrschaften unterworfen und ist heute zwischen Russland und Finnland geteilt. Die ursprünglich finno-ugrische Bevölkerung wurde in der Zeit, als Finnland eine russische Provinz war, weitgehend vertrieben. Während des Zweiten Weltkriegs war Karelien heftig umkämpft. Im ‹Winterkrieg› 1939/40 zwischen Finnland und der Sowjetunion fiel ein Grossteil Westkareliens an die Sowjetunion, wurde im ‹Fortsetzungskrieg› von Finnland zurückerobert, fiel danach aber erneut an die UdSSR.

Repino ist ein Ort am Finnischen Meerbusen in Karelien, der wie ganz Karelien eine wechselhafte Geschichte hat. Die rund 45 Kilometer nordwestlich vom Stadtzentrum des ehemaligen Leningrads gelegene Gemeinde hatte vor der russischen Besetzung Kareliens zu Finnland gehört und Kuokkala geheissen. Seit dem ‹Pariser Frieden› von 1947 gehörte sie wieder zur Sowjetunion. In Kuokkala hatte bis zu seinem Tod der bedeutende russische Maler Ilja Repin (1844–1930) gelebt. Er nannte das von ihm selbst entworfene Haus nach den römischen Hausgöttern ‹Penates› oder russisch ‹Penaty›. Zu Ehren Ilja Repins benannten die Sowjets den Ort Kuokkala 1948 in Repino um. Dort entstand weitgehend die 15. und letzte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Schostakowitsch hatte schon in den Dreissigerjahren eine Villa in Repino bewohnt, die ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war. Das Haus brannte im Zweiten Weltkrieg ab, aber Schostakowitsch hatte weiterhin eine Datscha in der Nähe von Moskau. Nach dem Krieg unterhielt der sowjetische Komponistenverband in Repino eine Art von Feriendorf für Künstler. Zwischen 1961 und seinem Todesjahr 1975 hielt sich Schostakowitsch fast jeden Sommer im ‹Haus der Komponisten› in Repino auf. Vor allem sein Spätwerk ist untrennbar mit dem Namen dieses Seebads verbunden.


Es ist bekannt, dass Schostakowitsch unter den Sowjets viel zu leiden hatte, weil seine Musik nicht dem Ideal des ‹sozialistischen Realismus› entsprach. Er wurde vor allem nach der Uraufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk von höchster Stelle angefeindet und des ‹Formalismus› und der ‹Dekadenz› beschuldigt. Gleichwohl sollte man sich vor allzu groben Vereinfachungen hüten. Schostakowitsch genoss einige Privilegien, er wurde mit zahlreichen Ehrungen, Preisen und Kompositionsaufträgen bedacht, und seine Werke wurden ernst genommen. «Ich konnte mich nie im Leben über fehlendes Interesse an meiner Musik in meinem Heimatland beklagen – sie wird viel aufgeführt, und die Dirigenten nehmen sie oft, vielleicht unverdientermassen oft, in die Programme der Sinfonie- und Kammermusikkonzerte auf», schrieb der Komponist im Rückblick auf einen Aufenthalt in Edinburgh, wo zu seinen Ehren 1962 ein Musikfestival ausgerichtet worden war. Nachdem er sich im künstlerischen Ausdruck zum Schein und mit viel Geschick dem Ideal des ‹sozialistischen Realismus› angenähert hatte, war sein Schaffen in der Sowjetunion durchaus anerkannt. Es gab Schostakowitsch-Festivals im In- und im Ausland, er erhielt Preise und Auszeichnungen, aber als eine Schule in Gorki ihren Musikklub nach ihm benennen wollte, lehnte der Komponist ab und empfahl der Schule, den «grossen russischen Komponisten Modest Mussorgski» als Namenspatron zu wählen. In Kuokkala oder eben Repino am Finnischen Meerbusen schrieb Schostakowitsch an der Filmmusik zu König Lear und an seinen letzten Streichquartetten. Dort vollendete er im Juli 1971 seine 15. Sinfonie, die seine letzte werden sollte. Schostakowitsch war damals fast 65 Jahre alt, und er kämpfte schon seit vielen Jahren gegen ernsthafte Krankheiten. Zwar konnte er sich von einem Herzinfarkt, den er fünf Jahre zuvor erlitten hatte, einigermassen erholen. Aber im September 1971 erlitt er einen zweiten Infarkt, und eine zunehmende Muskelschwäche – eine Art von Poliomyelitis – erschwerte ihm das Schreiben und das Klavierspielen. Umso bemerkenswerter, dass er seine letzte Sinfonie, sein letztes Instrumentalkon­ zert (das 2. Violinkonzert), seine letzten

VOL L EN DU NG I N R EPI NO

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© akg-images / SNA

ORTSGESCH ICH T EN

Dmitri Schostakowitsch mit seiner Frau Irina in Repino (Ende 1960er-Jahre)

Streichquartette und seine letzte Filmmusik allesamt in Repino vollenden konnte. Heute ist das frühere Künstlerdorf Repino ein luxuriöser Vorort von Sankt Petersburg und ein beliebtes Ausflugsziel mit mehreren Hotels und der als Museum dienenden Villa ‹Penaty› mitsamt Park als grösster Sehenswürdigkeit.


VORGESTELLT

PA BLO A PA R ICIO ESCOL A NO im Gespräch

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MIT PAUK EN U ND TROMPETEN

VON L E A VATER L AUS

Pablo Aparicio Escolano absolvierte sein Bachelorstudium in Schlagzeug ­ an der Musikhochschule ­seiner Heimatstadt, dem spanischen Alicante, bevor er 2015 für das Masterfach Orchester ­musik mit Schwerpunkt Pauke und Schlagzeug an die ­Universität der Künste Berlin wechselte. Nach gemeinsamen Projekten mit dem Scottish Chamber Orchestra, dem Orchestra of Opera North sowie der Rheinischen Philharmonie ist ­Pablo Aparicio Escolano seit September 2020 nun als Solo-Pauker beim Sinfonieorchester Basel engagiert.

Pablo Aparicio Escolano, eine Frage für Dich als ausgebildeten Schlag­ zeuger vorweg: Wie viele Instrumen­ te hast Du zu Hause? PA E Bei mir zu Hause habe ich leider nicht viele Instrumente. Ich besitze ein kleines Tamburin, Kastagnetten, und ein Übungspad, auf dem man geräuschlos Rhythmen erzeugen kann. Normalerweise nutze ich die Übungsräume des Theater Basel, die uns Perkussionisten zur Verfügung stehen. LV

«Solo-Pauker werden oft ‹Zweite Dirigenten› genannt, da unser Timing absolut genau stimmen muss.» Seit letzter Saison bist Du Solo-Pau­ ker beim Sinfonieorchester Basel. Eine Prestige-Position unter euch Schlagzeugern? PA E Es stimmt, dass es in einem Orchester immer mehr Schlagzeuger als Pauker gibt. Die Stelle ist ein absolutes Privileg! Solo-Pauker werden oft ‹Zweite Dirigenten› genannt, da unser Timing absolut genau stimmen muss. Es gehört zu unserer Aufgabe, trotz der grossen Distanz auf der Bühne stets engen Kontakt zu den LV


PA BLO A PA R ICIO ESCOL A NO

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© Pia Clodi / Peaches & Mint

VORGEST EL LT


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Dirigenten zu halten. Wir übersetzen die Anweisungen der Dirigenten, deren Auftakt oder Taktangabe; wir machen die Aus­ holbewegungen mit, atmen mit, und sitzen dabei mitten im Klang des Orchesters.

gleich zwei Paar Schlägel gleichzeitig in der Hand, um flexibler zu sein.

Im Gegensatz zum Schlagzeug, des­ sen solistische Bedeutung im Orches­ ter eher neu ist, spielt die Pauke seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle in der Orchestermusik. Was macht die Pauke für Dich besonders? PA E Der Ursprung der Pauke ist militärisch. Bei Feldzügen ritt der Pauker neben dem General her, um Signale zum Angriff oder zum Rückzug zu geben, und der Beruf erfuhr in der Kavallerie grosses Ansehen. Das musikalische Erbe dieser historischen Bedeutung ist seither in der gesamten Paukenliteratur zu finden. Von Bach über Beethoven bis hin zu Strauss repräsentiert die Pauke gemeinsam mit der Trompete meist das Königliche, Militärische und Zeremonielle, sei es in Sinfonien, Oratorien oder in Opern. Auch in MahlerSinfonien ist das Kriegsmotiv im Rhythmus der Pauke wiederzufinden. Das Grund­ konzept dieser historischen Motive bleibt in der ganzen Musikgeschichte bestehen – das ist es, was mich an der Pauke so fasziniert. LV

«Die Perkussions­lite­ratur des 20. Jahr­ hunderts spricht unsere Sprache.» Du sprichst unter anderem von der Musik des 20. Jahrhunderts. Was macht diese für Dich als Pauker aus? PA E Die Perkussionsliteratur des 20. Jahrhunderts spricht unsere Sprache. Auch Bach spielen wir gerne, aber spannend wird es für uns ab Stockhausen, Cage und Xenakis, den grossen Komponisten des 20. Jahrhunderts. In deren Partituren sind meist keine klassischen Notationen vorhanden, deswegen muss man sich Zeit nehmen, verschiedene Symbole zu übersetzen. Unsere Einrichtung besteht dann für jeden Schlagzeuger aus mehreren In­ strumenten, zwischen denen wir sehr schnell wechseln müssen. Oft halten wir LV

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Bewegst Du Dich auch in anderen Musikrichtungen? PA E Das richtige Tempo zu halten, ist der Kern unserer Arbeit. Die Drummer von Rockbands haben jeweils ein sehr stabiles Tempo, weshalb es für die rhythmische Entwicklung manchmal hilfreich ist, sich eine Aufnahme einer Band wie AC/DC anzuhören und dazu auf einem Übungspad oder einem echten Drumset zu spielen. Um rhythmisch fit zu bleiben, übe ich auch viel auf der Kleinen Trommel – ein gutes Training für die Fingermuskulatur und die Handgelenke. Ausserdem liebe ich den Bossa Nova, der viele rhythmische Herausforderungen enthält. LV

«Setzen die Pauken dann ein, ist das für mich, wie in einen Swimmingpool hineinzuspringen.» Als Perkussionist bist Du im Orches­ ter sehr exponiert – jede Stimme trägt eine grosse Verantwortung. Wie gehst Du damit um? PA E Unser Ziel ist es, im richtigen Moment da zu sein. Wir müssen immer antizipieren, was passiert. Während langer Pausen stimmen wir die Pauken ständig neu, da die Naturfelle der Instrumente bei wechselnder Luftfeuchtigkeit sehr anfällig und lebendig sind. Dabei denke ich bei einer Komposition nie in getrennten Sätzen, sondern sehe sie stets als ganzen Körper, der sich in eine bestimmte Richtung bewegt. Wenn also die Pauke in Beethovens 5. Klavierkonzert während des gesamten 2. Satzes die Spielanweisung tacet hat, lehne ich mich nicht zurück, sondern korrigiere dauernd die Tonhöhen der Pauken, damit beim Wiedereinstieg in den 3. Satz alles bereit ist. Setzen die Pauken dann ein, ist das für mich, wie in einen Swimmingpool hineinzuspringen: Man verspürt Intensität und Spannung; der schlussendliche ‹Sprung ins kalte Wasser› setzt aber ganz viel positive Energie frei. LV


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© Pia Clodi / Peaches & Mint

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das Orchester. Die Pauke ist meistens mit der Trompete zusammen, und passend zur Grundtonart Es-Dur sind die beiden Pauken mit den Tönen Es und B im Umfang einer Quinte gestimmt. 150 Jahre nach Beethoven waren unsere Instrumente allerdings viel weiterentwickelter, ihr Mechanismus war ausgereift. Musste man früher mit Schrauben und Kurbeln stimmen, ermöglichten neue Pedalsysteme nun viel schnellere Wechsel zwischen den Tönen. Bei Schostakowitsch können wir das hören: Es gibt in der Paukenstimme nicht nur eine Quinte, sondern auch eine kleine Sekunde, also ein sehr untypisches Intervall. Das wäre bei Beethoven unvorstellbar gewesen! Bei Schostakowitsch hingegen erhält die Pauke Melodien, Basslinien und Rhythmen mit grossem Tonspektrum – da entsteht unglaublich viel Klangfarbe. LV Zu

Was hast Du auf Deinem beruflichen Weg, der Dich bereits nach Spanien, Deutschland, Grossbritannien und in die Schweiz geführt hat, mitge­ nommen? PA E Flexibilität! (lacht) Ein Beispiel ist die Frequenzhöhe für den Kammerton A, der in Deutschland bei 443, in Grossbritannien jedoch bei 440 Hertz liegt. Diese Angabe ist sehr wichtig! Zudem haben Pauken in Spanien, Frankreich oder Gross­ britannien eine ganz andere Aufstellung als jene in Deutschland oder hier in Basel. In Spanien lernte ich, dass die tiefste Pauke – die Basspauke – wie bei einem Klavier oder einer Marimba links steht. In Basel ist das umgekehrt! Wenn ich an einem anderen Ort spiele, muss ich mich deshalb immer zuerst danach ausrichten, wie die Aufstellung der Pauken organisiert ist. Am Anfang ist dies etwas verrückt, gehört aber wie die ständige Anpassung der Intonation schlussendlich zu meinem Beruf. LV

LV Auf

dem Programm des aktuellen Konzerts stehen zwei Werke unter­ schiedlicher Musikepochen. Was unterscheidet für Dich Beethoven von Schostakowitsch? PA E Die Paukenstimmen bei Beethoven sind immer sehr interessant, denn sie formen das rhythmische Grundgerüst für

guter Letzt: Was machst Du ne­ ben der Musik? PA E Letzten Frühling habe ich hier in Basel einen Tennisplatz entdeckt, wo Padel-Tennis angeboten wird. Der Sport lässt sich als Mischung aus Squash und Tennis beschreiben: Es gibt ein Feld, das von Glaswänden umgegeben ist, und gemeinsam im Doppel kann man im Gegensatz zum Tennis auch die Wände bespielen. Der Sport ist auch für meinen Beruf als Solo-Pauker wichtig, wo eine gewisse körperliche Fitness die Grundvoraussetzung ist. Ich bin ausserdem auch sehr verliebt in das Meer – ich stamme schliesslich aus Alicante und gehe dort oft segeln. Glücklicherweise gibt es dank der vielen Seen auch hier in der Schweiz die Möglichkeit, diesem Hobby nachzugehen. LV

Pablo Aparicio Escolano, herzlichen Dank für das Gespräch!


KOLUMNE

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FR AGENDE ZEICHEN

VON EGL E A

Wenn ein Bestsellerautor sich auf Teneriffa ein Haus kauft, denkt jeder an eine Villa mit Meerblick. Das Haus, in dem ich Janosch 1 vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren besuchte, lag weitab der Küste, hatte Strassenblick, sah von aussen aus wie eine umgebaute Doppelgarage und von innen wie eine karg möblierte. Ihm war das noch immer zu viel. «Wenn ich sterbe, sollen von mir nur noch das Bett, ein Tisch, ein Stuhl, das Hemd und die Hose übrig sein, die ich zuletzt anhatte.» Da war er noch nicht einmal im Pensionsalter, in bester Verfassung und Laune. So hatte ich mir ein Alterswerk vorgestellt, dass jemand alles Überflüssige abwirft, leicht und einfach wird. Nur so leicht und einfach ist das offenbar nicht. Wenn ein schaffender Mensch weder alt noch todkrank ist, weiss er beim Werken noch gar nicht, dass daraus sein Spätwerk werden könnte; Mozart schrieb drei Jahre, bevor er starb, fern jeder Todesahnung, drei Sinfonien; seine vorletzte, die grosse g-Moll-Sinfonie, ist dunkel verschattet, seine letzte aber, die sogenannte Jupitersinfonie, fast schattenlos leuchtend. Sogar diejenigen, die sich mit achtzig, neunzig ausrechnen konnten, dass die nächsten Werke Spät- und Alterswerke zugleich wurden, offenbarten nicht selten eine Lust am Üppigen, am Überschwang, am Griff in die Vielfalt des Lebens. Dass

sich Verdi mit Falstaff und Thomas Mann mit Felix Krull verabschiedeten, den einzigen Komödien beider Meister, hatte zwar mit Einfacher-Werden nichts zu tun, kühner und komplexer war Verdi nie gewesen. Doch vielleicht verbarg sich dahinter die Sehnsucht, lächelnd und leicht zu sterben oder wenigstens postum so in Erinnerung zu bleiben. Picasso kannte diese Sehnsucht wohl kaum; am 30. Juni 1972 zeichnete er mit schwarzen und farbigen Kreiden seinen kahlen Kopf. Aus schreckgeweiteten Augen, die Lippen nur ein Strich, starrt Picasso aus diesem Selbstporträt den Betrachter an. Schreckte ihn der Tod oder der Blick nach innen, wo neben der schaffenden Ener­gie eine zerstörerische brannte, nicht nur, was die Frauen in seinem Leben betraf? Picasso starb 1973 mit zweiundneunzig, Schostakowitsch war ein Jahr zuvor mit achtundsechzig gestorben, nach einem Leben voll der Todesangst, Schuldgefühle und Krankheiten. Seine 14. Sinfonie hatte er 1969 während eines Krankenhaus­ aufenthalts komponiert, elf Sätze nach elf Gedichten, das vierte nach Apollinaires Selbstmörder. «Der Tod erwartet jeden von uns, ich kann nichts Gutes daran finden, dass das Leben so endet. Das wollte ich mitteilen», war alles, was Schostakowitsch dazu sagte. Beethoven hatte sich 1802, mit Anfang dreissig, bereits dem Tod nah gefühlt,


suizidale Gedanken durchlebt, «nur sie, die Kunst, hielt mich zurück», schrieb er im Heiligenstädter Testament. Dass sein 5. Klavierkonzert das letzte und ein Spätwerk sein könnte, war ihm angesichts seines schlechten Gesundheitszustands in einem Alter, das bereits einige Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung lag, vielleicht bewusst. Die Uraufführung, das stand fest, würde Beethoven nicht selbst spielen können, als tauber Mann, den Magenkrämpfe quälten, Darm- und Nierenkoliken, Kopf- und Gliederschmerzen. Ausserdem konnte, während er 1809 an dem Konzert arbeitete, sein entthronter Held jederzeit mit Geschützen und Feuersbrunst dafür sorgen, dass ein Werk das letzte wurde; Napoleon bombardierte Wien, der Hochadel war grösstenteils aus der Stadt geflohen, auch der Erzherzog, gerade erst zwanzig geworden, dem Beethoven das Konzert widmete. «Welch zerstörendes, wüstes Leben um mich her», schrieb Beethoven. Triftige Gründe für Lebensmüdigkeit. Keine Spur davon in diesem letzten Klavierkonzert; als heroisch wurde es erlebt und wohl deswegen später Kaiser-Konzert genannt, als wären Kaiser heroisch, die ihr Fussvolk abschlach­ ten lassen und ihre Kavallerie ins Geschütz­ feuer jagen. Der Lebensschwung dieser Musik ist mitreissend, das konnte nur einer gewaltigen Selbstüberwindung zuzuschreiben sein. Nur woher nahm Beethoven die Kraft dazu? Als Dmitri Schostakowitsch seine letzte Sinfonie komponierte, Nummer 15, folterte ihn seine Rückenmarksentzündung, behinderte ihn einseitige Paralyse, lähmte die rechte Hand; seit einem Beinbruch war er nicht mehr imstande, ohne Krücken zu gehen. Trotzdem wurde dieses Werk kein Leidenswerk, endete zwar mit einem Totentanz, nachdem es in kind­ licher Idylle begonnen hatte, doch es bestand aus Musik über Musik. Schostakowitsch zitierte Tragisches und Komisches, Wagner und Rossini, seine eigenen Werke, Melancholisches und Stürmisches. War es wie bei Beethoven die Kunst, die ihn zurückhielt, einsam zu erstarren? Beide feiern in diesen Werken, was Musik vermag: Sie befreit und verbindet. Haben Schostakowitsch und Beethoven, zwei Gezeichnete, Gequälte, zwei Schwierige, in ihrer Musik erlebt und mit ihr gesagt,

EGL E A

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© Jacques Schumacher

KOLU M N E

EGLEA = Eva Gesine Baur

dass sich verschenken kann, wem nichts geschenkt wird? Vielleicht sind diese beiden dichten späten Werke, in Bedrängnis entstanden, dann doch einfach und leicht.

Janosch feiert in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag. Als Hommage an den Autor und Illustrator findet am Samstag, den 27. November 2021 um 16 Uhr das Familienkonzert Der Josa mit der Zauberfiedel im Scala Basel statt. 1


IN ENGLISH

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A SENSE OF A N ENDING A ND THE CEMENTING OF A N A RT FOR M

BY BA RT DE V R IES

The outspoken French conductor and composer Pierre Boulez is said to have likened Shostakovich’s music to olive oil. A second or third pressing of Mahler’s music, that is. The Russian composer still had a high regard for the formal aspects of the symphony – he wrote fifteen works in the genre – and has hence sometimes been dismissed as unimaginative. Bernard Haitink had a more ambi­ guous relationship with Shostakovich’s music. The Dutch conductor preferred not to play the master’s second, third, eleventh and twelfth symphonies on the grounds that they were pieces written to please the Communist Party. The composer’s Fifteenth Symphony, however, was close to his heart. Shostakovich’s music may have divided the world of music, but almost fifty years after his death the communis opinio is that he was possibly the greatest symphonist of his generation. His fifteenth is a notable achievement, a favourite not only with Haitink but many others as well. Working on a rough outline made in the early months of 1971, Shostakovich resumed work on what was to be his last symphony in the summer of that year, shortly after being admitted to hospital. In the 1960s he had been diagnosed with polio, later suffering from a number of heart attacks as well. Drinking and smoking further affected his frail health. Death seemingly chasing him, the work is mostly reflective in nature. Not only is it somewhat introverted, quotations from Rossini, Wagner, Beethoven, and his own symphonies impart to it an added sense of looking back. Nonetheless, the first movement, propelled by the first theme heard on a solo flute, and the famous galop from Rossini’s overture William Tell, exudes a dynamic vitality. Yet it is a vitality that

also evokes the “emotional emptiness in which people lived under the dictatorship of the time”, as the German conductor Kurt Sanderling put it. The final movement, commencing with the ‘fate motive’ from Wagner’s Der Ring des Nibelungen (in the brass section) followed by the opening theme from his Tristan und Isolde, reinforces that sense of an ending. Shostakovich died in 1975. Soon after that, on tour in Moscow with the London Philharmonic Orchestra, Haitink was invited by the composer’s widow to visit the apartment she had shared with her late husband. In his study Haitink was struck by the presence of two busts: those of Mahler and Beethoven, Shostakovich’s two most revered predecessors. Although Beethoven’s Fifth Piano Concerto cannot be considered a late work, it also marks an ending in that it concludes a period characterised by compositions written in a grand, heroic style – one explanation why the concerto is known as the Emperor in English-speaking countries. Thereafter, Beethoven’s writing became more intimate. However, the concerto itself was a new beginning, too. Conceived in 1809, the work appeared in print in 1810. By the time it was first performed in Vienna in 1812, connoisseurs had had ample time to familiarize themselves with it. For the first time, he had written out the score in meticulous detail, even providing a separate part for the soloist (including cadenzas), thus enabling him/her to practise it at home. While until then things revolved around a work’s first performance by the often improvising composer, now the composition itself, in all its details, had become the main achievement. And so the concerto as an art form was cemented.


V ER EIN ‹FR EU NDESK R EIS SINFONIEORCHESTER BASEL›

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& zen t ü t rs Unte n iessen ge

MUSIK V ERBINDET – FREU NDSCH A FT AUCH

Der Freundeskreis ist eine engagierte Gemeinschaft, die Freude an klassischer Musik sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Sinfonie­ orchester Basel verbindet.

Wir unterstützen die Arbeit der Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel mit konkreten Projekten und finanziellen Beiträgen. Darüber hinaus tragen wir dazu bei, in der Stadt und der Region Basel eine positive Atmosphäre und Grundgestimmtheit für das Sinfonieorchester Basel und das kulturelle Leben zu schaffen. Unser Verein bietet seinen Mitgliedern ein reichhaltiges Programm an exklusiven Anlässen mit dem Sinfonieorchester Basel sowie über ausgewählte Veranstaltungsformate exklusive Möglich­ keiten des direkten Kontakts zu Musikerinnen und Musikern. Wir fördern das gemeinschaftliche musikalische Erleben sowie den Austausch unter unseren Mitgliedern.

© Benno Hunziker

Möchten Sie mehr erfahren? Nehmen Sie direkt Kontakt mit uns auf: freundeskreis@sinfonieorchesterbasel.ch oder besuchen Sie unsere Website www.sinfonieorchesterbasel.ch/freundes-­ kreis


IM FOK US

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SILV ESTERKONZERT

Fr, 31. Dezember 2021, 18.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal Sa, 1. Januar 2022, 17 Uhr Theater Basel, Grosse Bühne

Carl Orff (1895−1982): Carmina Burana (1936)

chen Uraufführung des Werks 1937 schrieb Orff an seinen Verleger: «Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!» Opernchor, Solistinnen und Solisten des Theater Basel sowie das Sinfonieorchester Basel treten auf unter der Leitung des Amerikaners Jonathan Stockhammer, Ulrike Jühe führt Regie.

Zum Jahreswechsel erzählt Carl Orffs ­ armina Burana von der Rückkehr in den C Frühling, den Genüssen des Lebens und der Launenhaftigkeit der Glücksgöttin Fortuna. Das Werk basiert auf Ausschnitten einer gleichnamigen mittelalterlichen Textsammlung, die 1803 im Kloster Benediktbeuern in Bayern gefunden wurde. Carmina Burana kontrastiert mittelalterliche Stilmerkmale mit einer gewaltigen Orchesterbesetzung und verhalf Orff zu grosser Bekanntheit. Nach der erfolgrei-

© Janine Wiget

Sinfonieorchester Basel Opernchor des Theater Basel Álfheiður Guðmundsdóttir, Sopran Karl-Heinz Brandt, Tenor Kyu Choi, Bariton Jonathan Stockhammer, Leitung Ulrike Jühe, Regie


Ab sofort im Handel erhältlich oder unter www.sinfonieorchesterbasel.ch


DEMNÄCHST

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FA MILIEN KONZERT Sa, 27. November 2021, 16 Uhr Scala Basel

DER JOSA MIT DER ZAUBERFIEDEL Kooperation mit dem Theater Basel

OPER Sa, 27. November 2021, 19.30 Uhr Theater Basel

DIE NASE Solistinnen und Solisten sowie Chor des Theater Basel Sinfonieorchester Basel

A RC-EN-CIEL So, 28. November 2021, 19 Uhr Pfarrheim Oberwil

IN OBERW IL Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel

PROMENA DE So, 5. Dezember 2021, 11 Uhr Gare du Nord

BELCE A & Y EOL EU M SON Belcea Quartet Yeol Eum Son, Klavier

E X TR A KONZERT So, 5. Dezember 2021, 11 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

BA Z HILF T Sinfonieorchester Basel Sängerinnen und Sänger von OperAvenir, dem Opernstudio des Theater Basel Hélio Vida, Leitung OperAvenir Mädchenkantorei Basel Marina Niedel, Einstudierung Mädchen- kantorei Basel Ariane Matiakh, Leitung

VORV ER K AU F (falls nicht anders angegeben): Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel +41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch www.biderundtanner.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 info@stadtcasino-basel.ch Detaillierte Informationen und Online-Verkauf: www.sinfonieorchesterbasel.ch

Ü BERSICH T DER SY MBOL E Nummerierte Rollstuhlplätze im Vorverkauf erhältlich I MPR ESSU M Sinfonieorchester Basel Picassoplatz 2, 4052 Basel +41 (0)61 205 00 95 info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Möchten Sie das Programm-Magazin abbestellen? Schreiben Sie eine E-Mail an marketing@sinfonieorchesterbasel.ch

Diese Institution verfügt über eine Höranlage

Orchesterdirektor: Franziskus Theurillat Künstlerischer Direktor: Hans-Georg Hofmann Redaktion Programm-Magazin: Katrin Oesteroth & Lea Vaterlaus Korrektorat: Ulrich Hechtfischer Gestaltung: Atelier Nord, Basel Druck: Steudler Press AG Auflage: 5000 Exemplare


Sie schwingen den Taktstock. Wir bleiben im Rhythmus.

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