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Transforming Food Systems
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Das europäische Lebensmittelsystem gilt weltweit als Maßstab für sichere, ausreichend verfügbare, nahrhafte und hochwertige Lebensmittel. Das ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen EULebensmittelpolitik, deren zentrales Anliegen in der Förderung höchster Standards für Lebensmittelsicherheit und einer diesbezüglichen Neuausrichtung bestand. Heute weist das europäische Lebensmittelsystem nicht nur ein hohes Niveau an Lebensmittel, sondern auch an Ernährungssicherheit auf und liefert den Konsumenten eine große Produktvielfalt an Lebensmitteln in höchster Qualität. Um diese Standards auch künftigen Generationen bieten zu können, strebt die EUKommission nach einer erneuten Transformation: Das europäische Lebensmittelsystem soll zusätzlich zum weltweiten Maßstab für Nachhaltigkeit werden. Ein Vorhaben, das in zahlreiche Politikbereiche diffundiert – von Umwelt, Ernährung und Wirtschaft bis zu Forschung und Entwicklung.
Nachhaltigkeit als übergreifendes Ziel
Der geplante Übergang zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem steht in engem Zusammenhang mit einer der wesentlichen Prioritäten der aktuellen EUPolitik: der Umgestaltung der europäischen Wirtschaft für eine nachhaltige
Zukunft.1 Zur Verwirklichung dieses Vorhabens hat die EUKommission im Dezember 2019 eine neue EUWachstumsstrategie veröffentlicht. Der sogenannte europäische „Green Deal“ konzentriert verschiedene Politikbereiche im Streben nach einer klimaneutralen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Der Entwicklung eines fairen, gesunden und umweltfreundlichen Lebensmittelsystems wird darin, als Kernstück und einem von acht konkreten Handlungsfeldern, die in Folgedokumenten konkretisiert werden, besondere Bedeutungen zugemessen. Den konkreten Zielen und Maßnahmen zur Verwirklichung der angestrebten Transformation des Lebensmittelsystems widmet sich die EU„Farm to Fork“Strategie. Doch auch weitere Aktionsbereiche des europäischen Green Deal werden sich auf das Lebensmittelsystem auswirken, etwa die allgemeinen Bestrebungen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 sowie die speziellen Agenden des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft2 und der Biodiversitätsstrategie3. Darüber hinaus sollen innovative Ansätze und naturbasierte Lösungen für den Agrar und Lebensmittelsektor mittels „Horizon Europe“, dem in Fertigstellung befindlichen EURahmenprogramm für Forschung und Innovation für den Zeitraum 2021 bis 2027, gefördert werden und den Übergang zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem beschleunigen. Mit der Frage nach der Zukunftsfähigkeit des europäischen Lebensmittelsystems und der Rolle von Forschung und Entwicklung in diesem Bereich beschäftigt sich die Initiative „Food 2023“ bereits seit mehreren Jahren.4 Die enge Verknüpfung des Vorhabens mit weiteren Politikbereichen, Strategien und Initiativen reicht auch über die Europäische Union hinaus. Künftige Freihandelsabkommen der EU sollen ein Kapitel über nachhaltige Lebensmittelsysteme implizieren. Dieses wird einzelne Dimensionen der EU„Farm to Fork“Strategie widerspiegeln, indem es die Vertragspartner zur Förderung der Nachhaltigkeit in der Lebensmittelproduktion, verarbeitung, vermarktung und beim Lebensmittelkonsum sowie zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten und verschwendung und zur Bekämpfung des Lebensmittelbetrugs verpflichtet.5 Auch die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SGDs) schlagen sich in den Prioritäten der EUKommission nieder.6
© adobe stoCk – elena abramova
Die EU-„Farm to Fork“-Strategie
In der am 20. Mai 2020 veröffentlichten „Farm to Fork“Strategie setzt sich die EUKommission zum Ziel, den ökologischen und klimatischen Fußabdruck des Lebensmittelsystems der Union zu verkleinern und dessen Resilienz zu stärken, die Ernährungssicherheit angesichts des Klimawandels und des Verlusts an biologischer Vielfalt sicherzustellen und den globalen Wandel hin zu einer wettbewerbsgerechten Nachhaltigkeit vom Hof auf den Tisch anzuführen und die neuen Chancen, die sich bieten, zu nutzen.7 Zur Verwirklichung dieser Ambitionen will die EUKommission bis 2024 (Legislativ)Vorschläge zu den 27 Maßnahmen des Aktionsplans der Strategie vorlegen. Die Maßnahmen sollen sich in ihrer Gesamtheit an das ganze Lebensmittelsystem – vom Primärerzeuger bis zum Verbraucher, vom Hof bis auf den Tisch – richten. Dieser holistische Ansatz wurde im Grunde bereits vor rund 20 Jahren verfolgt, als das Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit der EUKommission den Anspruch erhob, die gesamte Lebensmittelherstellungskette einschließlich der Futtermittelherstellung abzudecken.8 Während im Jahr 2000 von Lebensmittelherstellungskette gesprochen wurde, bedient sich die EU„Farm to Fork“Strategie des neuen Begriffs des Lebensmittelsystems. Gemäß einer Definition der Ernährungs und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen umfasst ein Lebensmittelsystem sämtliche Akteure und ihre ineinandergreifenden wertschöpfen
den Aktivitäten, die an der Herstellung, der Aggregation, der Verarbeitung, dem Vertrieb, dem Verbrauch und der Entsorgung von Lebensmitteln beteiligt sind sowie Teile ihrer breiteren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt.9 An das gesamte System sollen sich insbesondere zwei der Maßnahmen richten: Bis 2023 will die EUKommission einen Rechtsrahmen für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem ausarbeiten, der den Übergang zu mehr Nachhaltigkeit beschleunigen und erleichtern soll. Weiters ist die Ausarbeitung eines Notfallplans zur Gewährleistung der Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit geplant, der in Krisenzeiten in Kraft gesetzt werden soll. Damit will die EUKommission die Resilienz des europäischen Lebensmittelsystems weiter ausbauen und die Grundlage für eine gemeinsame europäische Reaktion auf das Lebensmittelsystem tangierende Krisen schaffen. Die übrigen Maßnahmen aus der Strategie fokussieren jeweils einen bestimmten Bereich des Lebensmittelsystems: Zur Sicherstellung einer nachhaltigen Lebensmittelerzeugung sollen unter anderem eine Reduzierung des Pestizideinsatzes, die Überarbeitung der Rechtsvorschriften für Futtermittelzusatzstoffe und der Tierschutzvorschriften sowie die Präzisierung des Anwendungsbereichs der Wettbewerbsregelungen im Vertrag über die Arbeitsweisen der EU beitragen. Sowohl in der „EUFarm to Fork“ als auch in der Biodiversitätsstrategie hat sich die EUKommission zum Ziel gesetzt, dass bis zum Jahr 2030 mindestens 25 % der landwirtschaftlichen Flächen in der EU ökologisch bewirtschaftet und die ökologische Aquakultur beträchtlich ausgebaut werden sollen. Einen entsprechenden Aktionsplan zur Förderung der biologischen Produktion hat sie im März 2021 veröffentlicht.10 Nachhaltige Verfahren in den Bereichen der Lebensmittelverarbeitung, Groß und Einzelhandel, Gastronomie und Verpflegungsdienstleistungen sollen insbesondere durch eine Verpflichtung von Unternehmen, den Nachhaltigkeitsaspekt in ihre Unternehmensstrategie einzubeziehen sowie durch die Entwicklung eines freiwilligen EUKodex und Monitoringrahmens für verantwortungsvolle Unternehmens und Marketingpraktiken erreicht werden. Darüber hinaus plant die EUKommission, u.a. Initiativen zur Förderung der Reformulierung verarbeiteter Lebensmittel zu setzen und Nährwertprofile festzulegen, mittels derer die Bewerbung von Lebensmitteln mit hohem Salz, Zucker und/oder Fettgehalt eingeschränkt werden soll. Auch die EURechtsvorschriften über Lebensmittelkontaktmaterialien sollen überarbeitet werden. Die EU„Farm to Fork“Strategie zielt auch auf einen nachhaltigen Lebensmittelverbrauch ab und will die Umstellung der Konsumenten auf eine nachhaltigere Ernährung fördern. Dafür sieht die EUKommission insbesondere Neuerungen in der Lebensmittelkennzeichnung vor. Bis zum Jahr 2022 wird sie Vorschläge für eine harmonisierte verpflichtende Nährwertkennzeichnung auf der Packungsvorderseite sowie für eine Ursprungsangabe für bestimmte Erzeugnisse vorlegen. Durch die Bereitstellung zusätzlicher Informationen möchte die EUKommission die Verbraucher in die Lage versetzen, eine sachkundige und gesundheitsbewusste Produktwahl zu treffen. Ein weiteres Kernelement auf dem Weg zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem ist die Vermeidung von Lebensmittelverlusten und verschwendung. In Erfüllung der Zielvorgabe 12.3. für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sollen bis 2030 die Lebensmittelabfälle pro Kopf auf Einzelhandels und Verbraucherebene halbiert werden. Die EUKommission wird bis 2023 verbindliche Ziele zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle in der EU vorschlagen. Um auf mangelndem Verbraucherverständnis des Mindesthaltbarkeits und Verbrauchsdatums beruhende, verfrühte Entsorgungen von Lebensmitteln zu vermeiden, sollen auch die EUVorschriften über die Datumsangabe überarbeitet werden. Darüber hinaus sind im Rahmen des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft entsprechende Maßnahmen für (Lebensmittel)Verpackungen vorgesehen.
Ausblick: Green Claims
Der Transformationsprozess im Rahmen der EU„Farm to Fork“Strategie soll schließlich mit einer Kennzeichnung der Nachhaltigkeitsleistung von Lebensmitteln abgerundet werden. Als zeitlich am spätesten angesetzte Maßnahme will die EUKommission im Jahr 2024 einen Rechtsrahmen für eine nachhaltige Lebensmittelkennzeichnung vorlegen. Auf diese Weise soll Konsumenten die Wahl nachhaltiger Lebensmittel erleichtert und zusätzlich ein Anreiz für Lebensmittelproduzenten gesetzt werden, ihre Nachhaltigkeitsstandards weiter anzuheben. Für Aussagen über die Nachhaltigkeitsoder Umweltleistung eines Lebensmittels oder auch eines anderen Produkts, sogenannte „Green Claims“, bestehen derzeit keine einheitlichen Grundlagen. Die Grenze der Zulässigkeit stellt das allgemeine Irreführungsverbot im Lebensmittel bzw. Wettbewerbsrecht dar.11 Da die Verantwortlichen selbst entscheiden, welche Bewertungskriterien sie ihren Aussagen zugrunde legen, sind diese weder dazu geeignet, zuverlässige Aussagen zu treffen noch die Umweltleistung verschiedener Produkte miteinander zu vergleichen. Vor diesem Hintergrund arbeitet die EUKommission bereits seit mehreren Jahren an der Entwicklung einer einheitlichen Methode zur Berechnung der Umweltleistung, dem „Product Environmental Footprint“ (PEF). Die Komplexität dieses Vorhabens besteht unter anderem darin, produktgruppenspezifische Kriterien miteinander vergleichbar zu machen. Am Beispiel der Nachhaltigkeitskennzeichnung wird nochmals die enge Verknüpfung verschiedener Politikbereiche im gemeinsamen Streben nach Nachhaltigkeit deutlich. So hat auch die EUBiodiversitätsstrategie die Förderung von Methoden, Kriterien und Standards zur Messung des ökologischen Fußabdrucks von Produkten und organisationen zum Ziel. Im Rahmen des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft will die EUKommission bereits Ende 2021 einen Legislativvorschlag zur Belegung von Umweltaussagen vorlegen und darin Mindestanforderungen für Umweltund Nachhaltigkeitsaussagen definieren. 2024 soll schließlich im Rahmen der EU„Farm to Fork“Strategie der erwähnte Rechtsrahmen für eine nachhaltige Lebensmittelkennzeichnung folgen.
Mag. Christina Nowak, BA Fachverband der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, Wien