Strandgut 04/2021

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MUSEEN

Justice Amid the Ruins, Frankfurt 1945 © Lee Miller Archives England 2021

Fire Masks, London 1941 © Lee Miller Archives England 2021

Jedes Foto ein Schrecken, jedes Foto eine Kostbarkeit Lee Miller: Hautnah. Fotografien von 1940 bis 1946 in den Opelvillen in Rüsselsheim Grenzenlos. Das ist das erste Wort, das mir zu Lee Miller einfällt. Eine Frau, die Grenzen so spielerisch überschreitet, als würden sie überhaupt nicht existieren. Nein zur Bedeutungslosigkeit. Nein zur Phantasielosigkeit. Nein zum Mittelmaß. Nein zur politischen Abstinenz. Nein zu einem vorbestimmten Leben. Nein zu Faschismus und Diktatur. Und nein – vor allem – zum Krieg. Elizabeth »Lee« Miller, geboren 1907 in Poughkeepsie im Staat New York, ist ohne Frage eine der ungewöhnlichsten, aufregendsten, schillerndsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Und wie ihr Kollege, der Fotograf und Reporter David E. Scherman über sie schrieb, hat sie nicht ein einziges Leben geführt, sondern mehrere, und die alle gleichzeitig. Ihre Lebensgeschichte liest sich aufregender als ein Thriller: man weiß nie, was kommt, welche Volte nun geschlagen wird, wo sie sich gerade befindet. »Immer anderswo«, hat sie einmal über sich selbst gesagt. Es ist schon atemberaubend, als Museumsbesucherin Begleiterin dieser Frau zu sein, die selbst ein Kunstwerk, ein Model und zugleich eine ungezähmte Vorkämpferin des Feminismus, eine begnadete Kriegsreporterin war. Sie legte eine

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stürmische Biografie hin: mit 18 Jahren ging sie nach Paris, um in der Schule des ungarischen Theaterregisseurs und Surrealisten Laszlo Medgyesi Kostüm- und Bühnenbild zu studieren, arbeitete nach ihrer Rückkehr in New York für kurze Zeit als Fotomodell und Mannequin, ging 1929 wieder nach Paris und tauchte als Foto- Künstlerin tief in die Szene der Surrealisten ein, wurde Mitarbeiterin und Geliebte von Man Ray und Paul Éluard, war eng befreundet mit Pablo Picasso und Jean Cocteau. Eine dreijährige Zwischenstation – so wirkt es aus retrospektiver Sicht – legte sie in Kairo und Alexandria als Gattin des ägyptischen Geschäftsmannes Aziz Bey ein, kehrte nach Paris zurück, nach New York, hatte ihr eigenes Fotostudio, fotografierte Mode, ohne ihre künstlerische Heimat im Surrealismus zu vergessen.

Das ist die eine Geschichte, die man auch im Kunstarchiv ablegen könnte. Aber Lee Miller ist auch die Frau, die in Hitlers Badewanne in seiner Münchner Wohnung am Prinzregentenplatz ein Bad nimmt, mit stoischem Blick einen Waschlappen benutzt, auf dem Badewannenrand ein Porträt des verhassten Diktators platziert hat, auf dem anderen eine nackte griechische Antikenbüste, davor ihre schlammverschmierten Militärstiefel. Lee Miller ist auch die Frau, die als eine der ersten eine Kriegsberichterstatterin war. Darunter waren nicht viele Frauen. Es ist ihrer Penetranz und ihrem aberwitzigen Mut zu verdanken, dass sie dies wurde, akkreditiert beim US-amerikanischen Militär – und das ausgerechnet für die US-amerikanische »Vogue«, dessen Vorzeigemodel sie einst war. Sie wandte sich mit ihren


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