Strandgut 04/2021

Page 26

LIteratur Kolumne: Alf Mayers Blutige Ernte

»Die Zeit und ihre Verwerfungen finde ich spannend« Ein Interview mit Jürgen Heimbach zu seinem Roman »Verboten«

Sieben Jahre war er weg. Jetzt, mehr als ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs, kehrt Wieland Göth in sein von französischen Soldaten besetztes kleines Dorf in Rheinhessen zurück. Schon seine Kindheit lang war er als Lehrers Sohn ein Fremdkörper im Dorf, jetzt ist er ein Aussätziger. Am Ende der vierten Buchseite wissen wir, dass er zurückgekehrt ist, um einen Mann zu töten. Bis er auf ihn trifft, wird es Seite 133, aber auch dann ist noch lange nicht alles vorbei. Jürgen Heimbach, für seinen letzten Roman »Die rote Hand« 2020 mit dem »Glauser« ausgezeichnet, erzählt seine Geschichte sozusagen im Tempo eines Fußgängers und das ist eine Wohltat. Er gibt uns Zeit, das (fiktive) 500-Seelen-Dorf Rombelsheim kennenzulernen und die schwierige Zeit. Misstrauen, Verbitterung und Fremdenfeindlichkeit, Armut und beschränkte Horizonte, Familiengeheimnisse, Wilderei im Wald und eine Besatzungsmacht. »In den Märchen gibt es immer einen, der aus weiter Ferne zurückkommt, um sein Dorf zu befreien. Bist du so einer?«, wird Wieland einmal gefragt. Die Frage nach dem Motiv seiner Heimkehr ist eines der Spannungsmomente des Romans, längst nicht das einzige. Dem Erzähler Heimbach folgt man gerne in jedes Milieu – und hier gibt es Landleben satt. Anschaulich recherchiert, konturenreich und fremdartig nah wie eine alte Fotografie, in die man sich versenkt. Spannung, die von innen kommt, nicht aus Effekten. Frage: Bisher war es eher die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Sie für Ihre Romane interessiert hat. Gab es einen bestimmten Anstoß, ins Jahr 1920 zu gehen? Jürgen Heimbach: Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen interessiert mich schon lange, aber ich habe mich wegen der zeitlichen Distanz und den damit verbundenen Problemen bei der Recherche nur langsam literarisch daran herangetastet. So in einer älteren Kurzgeschichte mit dem Titel »Treu zum Rhein«, die den Separatismus im Rheinland zum Thema hat sowie in meinem Roman »Alte Feinde«, dem zweiten Teil meiner Nachkriegstrilogie. Thema darin ist die »Schwarze Schmach vom Rhein«, eine

26

|

Frage: Was haben diese Vorboten aus dem Jahr 1920 mit uns heute zu tun? Heimbach: Wenig und viel zugleich. Wir haben heute keinen verheerenden Krieg und keinen politischen Systemwechsel hinter uns, dafür fünfundsiebzig Jahre Demokratieerfahrung. Trotz der vielen sozialen Verwerfungen heute herrscht nicht die Armut und auch die Hoffnungslosigkeit jener Zeit, ist die Gesellschaft nicht dermaßen gespalten. Das macht es den Spaltern und Demokratiefeinden heute schwerer, sich durchzusetzen. Aber es gibt sie und sie werden mehr, zumindest suggeriert das deren mediale Präsenz. Und die Anschläge und Morde des NSU, in Hanau, in Halle und an vielen anderen Orten zeigen jedes Mal, dass diese Menschen zu äußerster Brutalität und Gewalt bereit sind. Wie in der Weimarer Republik gibt es diejenigen, die unsere Demokratie und deren Institutionen von innen heraus zu zerstören suchen. Wie wir es in den letzten Jahren etwa auch in Polen und Ungarn und den USA erleben und erlebt haben, dass gewählte Volksvertreter Grundrechte, Presseund Meinungsfreiheit beschneiden und Institutionen des Rechtsstaates auflösen.

© Elisa Biscotti

Kampagne gegen die Stationierung Schwarzer Soldaten im Rheinland und das Schicksal der damals so beschimpften »Rheinlandbastarde« – nur gespiegelt in das Jahr 1947. Die »Schwarze Schmach«-Kampagne spielt ja auch in »Vorboten« eine Rolle. Das waren, zumindest zurückblickend betrachtend, Übungen für die »Vorboten». Frage: Was war dabei eine der größten Herausforderungen? Heimbach: Die Recherche. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der ich mich bislang hauptsächlich in meinen Büchern beschäftigt habe, ist mir durch Erzählungen von Bekannten und Verwandten noch nah. Erschwerend bei den Recherchen zu »Vorboten« kam hinzu, dass in Deutschland der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis eine ganz andere Rolle als in Frankreich oder in Großbritannien spielt, wo man nicht vom Ersten Weltkrieg, sondern vom Großen

Strandgut 04/2021 | www.strandgut.de

Krieg spricht und wo alljährlich mit Veranstaltungen des Kriegsendes und der Opfer dieses Krieges gedacht wird. Eine andere Herausforderung bei der Arbeit an »Vorboten« war, dass ich ein gleichzeitig sehr konkretes und sehr diffuses Bild der Grundstimmung und der Atmosphäre hatte. Weil ich die lange Zeit nicht zu fassen bekam, hat das zu entsprechend langen Pausen im Schreibprozess geführt, zu vielen dramaturgischen Überlegungen, Versuchen und Neuansätzen. Ich war lange sehr unzufrieden und erst, als ich den Text, vor allem im ersten Teil, stärker fragmentierte, sowie das Schlusskapitel in der jetzt vorliegenden Form geschrieben hatte, bekam ich dieses diffuse Bild in den Griff.

Frage: Und gab es ja damals auch einen Virus … Heimbach: Ja, nachträglich finde ich das sehr spannend. 1920 klang die dritte Welle der Spanischen Grippe aus, die zwischen 50 und 100 Millionen Menschenleben forderte. Sie war, zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im letzten Jahr, weitestgehend in Vergessenheit geraten. Wie wird man in 50 oder 100 Jahren auf die Corona-Pandemie schauen? Wird sie ebenso vergessen sein? Oder sind die durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen bzw. erzwungenen Veränderungen so groß und nachhaltig, dass sie noch lange in Erinnerung bleiben werden? Frage: Sie sind doch wohl eher ein Stadtkind, in Koblenz geboren. Wie ist es, sich ein 500-Seelendorf zu erfinden wie Ihr fiktives Rombelsheim, wohin die Hauptfigur Wieland Göth zurückkehrt?


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.