Surprise 506/21

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Strassenmagazin Nr. 506 13. bis 26. August 2021

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In der Schweiz entscheiden Algorithmen über die Gefährlichkeit von Gefangenen Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: BODARA GMBH

Editorial

Schicksalsmaschine Ob und in welchem Ausmass Kriminelle gefährlich sind, soll in Zukunft immer mehr von Computern festgestellt werden. Auch in der Schweiz. Dazu benötigt werden einige Dutzend Fragen zu Kindheit, Schule, Beruf, Bekanntschaften, Drogen, Gewalt etc. sowie eine ausgeklügelte ­ Software, welche die Antworten in ein Punk­ tesystem übersetzt. Am Ende spuckt der Rechner auf einer Skala «Risikowerte» für Gewalttätigkeit und Wiederholungsgefahr aus – als Grundlage für die Verur­ teilung und das Strafmass. Die Idee hinter diesen digitalen Richtern: Schnellere und kostengünstigere Gerichts­ verfahren sowie mehr Objektivität in der Urteilssprechung; schliesslich ist hier eine Maschine am Werk und nicht der Mensch. Dazu aber müsste die Arbeitsweise des Computers vollumfänglich transparent sein. Was nicht zwingend der Fall ist. Wie der Algorithmus zu seiner Ein­ schätzung kommt, bleibt Polizeibeamt*innen, Gefängnisaufseher*innen, ja sogar den Anwält*innen selbst oft ein Rätsel. 4 Aufgelesen

8 Software

5 Was bedeutet eigentlich …?

12 Chile

Armut

5 Vor Gericht

Freiheit for Future

6 Verkäufer*innenkolumne

Was heisst «behindert»?

7 Die Sozialzahl

Direkte Demokratie in der Klimakrise

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Gefährliche Software Auf der Suche nach Würde

Auch die Objektivität wird angezweifelt. In den USA, wo derlei Software inzwischen häufig angewendet wird, hat man Tausende von computerbasierten Prognosen über die Rückfallgefahr von Beschuldigten mit dem tatsächlichen Geschehen in den fol­ genden zwei Jahren verglichen. Dabei wurde Afroamerikaner*innen und Latinos signifikant oft und fälschlicherweise ein ­kriminelles Leben vorausgesagt, wohin­ gegen weisse Vorbestrafte häufig eine gute Prognose erhielten. Fachleute reden dann beschönigend von einer «ungünstigen Sozialprognose». Was eigentlich damit gemeint ist, ist so simpel wie menschlich – auch wenn es sich um eine Maschine handelt: Kommen oben Vorurteile rein, kommen unten halt wieder Vorurteile raus.

KL AUS PETRUS

Redaktor

18 Lehre

Willst du nicht lieber eine Lehre machen?

22 Festival

«Ein Ort, wo ich plötzlich nichts mehr kaufen muss»

24 Kino

Als die Blauhelme tatenlos zuschauten

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Biel/Bienne

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäufer-Porträt

«Sie sind heute aber adrett»

3


Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTO: MARKO RUPENA

Viel Lärm für den Sommer Jedes Jahr in der letzten Woche vor Ostern feiern die Kinder im Dorf Lozovik in Ostserbien den «Weissen Karneval» (Bele poklade). Während dieser Zeit ist es verboten, tierische Lebensmittel zu konsumieren. Man will mit dem Karneval den Sommer willkommen heissen und mit viel Lärm die bösen Dämonen vertreiben. Am Ende des Karnevals springen die Leute über ein Feuer.

LICEULICE, BELGRAD

Keine neuen Rechte für Transmenschen Der Deutsche Bundestag will nicht mehr Rechte für trans- und intergeschlechtliche Menschen; er hat diesen Sommer einen Gesetzesentwurf ab­gelehnt. Dieser sah vor, dass Menschen ihre Ge­schlechts­identität nicht mehr durch teure und teils entwürdigende Gutachten nachweisen und medizinische Leistungsansprüche gesetzlich verankert werden müssen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

4

Mitgehangen, mitgefangen 6 800 000 bis 27 000 000 Tonnen beträgt der jährliche Beifang, der bei der weltweiten Fischerei «nebenbei» anfällt. Ein Grossteil des unerwünschten Beifangs wird dabei tot oder lebendig wieder ins Meer zurückgeworfen. Am höchsten ist der Anteil des Beifangs bei der Schrimp-Fischerei, wobei bis zu 80 Prozent andere Arten im Netz landen.

MEGAPHON, GRAZ

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Armut Arm ist nicht nur, wer zu wenig Geld hat. Arm ist auch, wer kulturell oder sozial unterversorgt ist. Messen lässt sich indes vor allem die materielle Armut: In der Schweiz gilt als arm, wer weniger als 2279 Franken zur Verfügung hat – oder 3976 Franken für eine vierköpfige Familie. Seit 2013 steigt die Anzahl Armuts­ betroffener in der Schweiz konstant an – von 458 000 auf mittlerweile 735 000 (2019, vor Beginn der Corona-Pandemie). Besonders häufig betroffen sind Junge, alleinerziehende Mütter, Rentner und vor allem Rentnerinnen. Auch Menschen mit tiefem Ausbildungsniveau oder ausländischem Pass sind öfter arm. Kritiker*innen bemängeln, dass der Bund keine landesweite Strategie gegen Armut einsetze. Deren Bekämpfung ist hauptsächlich Sache der Kantone. Und dort dringt seit den 1990er-Jahren der Spardruck durch, etwa bei der Sozialhilfe oder der individuellen Prämienverbilligung. Vermehrt wird eine Politik der Disziplinierung verfolgt und zwischen «würdigen» und «unwürdigen» Armen unterschieden – staatliche Unterstützung wird vom Bemühen um Arbeit und Integration abhängig gemacht. Bewährt haben sich in der politischen Bekämpfung der Armut strukturelle Massnahmen. Ein qualitativ hoch­ stehendes Bildungs- und ein allgemein zugängliches Gesundheitssystem beispielsweise sorgen für mehr Chancengleichheit. Jedoch führt weniger Armut nicht zu Einkom­ mens­gleichheit, wie die Situation der Menschen im Rentenalter aufzeigt. Dafür wären vermehrt Massnahmen notwendig, die zur Umverteilung beitragen. EBA

Quellen: Monica Budowski: Armut. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020; Bundesamt für Statistik; Caritas Schweiz. Surprise 506/21

Vor Gericht

Freiheit for Future So euphorisch sind Reaktionen auf Gerichtsurteile selten: «Spektakulär!» «Historisch!» «Revolutionär!» «Postkolonial!» So bezeichneten Kommentator*innen einen Klima-Entscheid des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe von Ende April dieses Jahres. Die Richter*innen hätten nichts weniger als die Freiheit befreit, eine Neukonzeption der Grundrechte vorgenommen und nebenbei auch noch eine Staatsphilosophie des sich international solidarisch verhaltenden Staates entworfen. Die Quintessenz des Verdikts klingt dramatisch: Das deutsche Klimaschutzgesetz ist in Teilen verfassungswidrig und nicht mit den Grundrechten vereinbar. Die unmittelbaren Folgen sind fast banal: Die Gesetzgeberin wurde verpflichtet, bereits Ende 2022 detaillierte CO2-Reduktionsziele für die Zeit nach 2030 festzulegen, statt erst 2025. Das hatte die Regierung innert einer Woche nach Bekanntgabe des Urteils erledigt. Und ist dabei weiter gegangen als erwartet: Deutschland will 2045 CO2-neutral sein, statt wie bisher 2050. Zu diesen Nachbesserungen im Klimaschutzgesetz verpflichtete das Gericht die deutsche Regierung, nachdem verschiedene Umweltorganisationen, so etwa Greenpeace und die jungen Klima-Aktivist*innen der Fridays-for-Future-Bewegung, Klage eingereicht hatten: Der Staat komme seinen Schutzpflichten gegenüber seinen Bürger*innen mit dem geltenden Gesetz nicht nach, insbesondere in Bezug auf die jüngeren Generationen. Der CO2-Ausstoss müsse viel schneller viel stärker reduziert werden.

Es sind denn auch die Sorgen der jungen Menschen, welche die Richter*innen in Karlsruhe unerwartet stark gewichten. Es gehe nicht an, schreiben sie in ihrer Begründung, dass man kurzfristig unter vergleichsweise milder Reduktionslast grosse Teile des CO2-Budgets verbrauche, wenn damit nachfolgenden Generationen schwerste Lasten aufgebürdet würden. Anders gesagt: Je weniger man sich heute einschränkt, desto drastischere Massnahmen werden künftig nötig sein, um die Erderhitzung zu bremsen. Oder noch salopper: Es ist nicht in Ordnung, wenn heutige Generationen darauf pochen, jede Woche ein neues Kleid «Made in Bangladesh» zu kaufen, dreimal im Jahr im Billigflieger in den Süden zu jetten, SUVs zu fahren und im Winter mit günstigem Heizöl das traute Heim zu wärmen. Nichtstun heute, sagt das Gericht, bedeute für die Menschen der Zukunft eine vor der Verfassung nicht zulässige Beschneidung der Grundrechte. Unsere heutige Freiheit dürfe nicht auf Kosten künftiger Freiheit gehen. Und praktisch jede Freiheit sei von diesen Emissionsreduktionsverpflichtungen betroffen. Denn: «Fast jeder Bereich des menschlichen Lebens ist mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und daher von drastischen Einschränkungen nach 2030 bedroht.» Für alle, die sich eine schärfere, ja radikale Umweltpolitik wünschen, ist dieses Urteil Anlass zur Freude. Für jene, die Umweltaktivismus als Klimahysterie abtun, ist das Urteil der Anfang einer Klimadiktatur. Auch solche Stimmen waren im Nachgang zum Urteil zu vernehmen. Sie klingen allzu vertraut.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: SOPHIA FREYDL

Verkäufer*innenkolumne

Was heisst «behindert»? Mein Autismus ist für mich selbst absolut keine Behinderung. Ich merke zwar, dass ich Autist bin. Ich sehe auf einer Landkarte sofort, wo ein Dorf ist, während andere suchen müssen. Oder ich brauche schon gar keine Karte. Das, was mich einschränkt, ist aber, dass ich eine IV-Rente und keine abgeschlossene Ausbildung habe. Ich stosse an Grenzen deswegen. Insofern, ja, ist es ein klarer Nachteil, behindert zu sein. Bei der Post und den SBB habe ich schon angefragt, ob sie jemanden mit guten Geografiekenntnissen brauchen können. Aber das ging nicht. Sie wollten niemanden mit IV. Und vor allem niemanden ohne Schulabschluss. Ab wann gilt man denn als «behindert»? Dann, wenn man von der IV lebt? 1. Man kann auch Universitätsdozentin oder Starsänger sein, wenn man blind oder fast blind ist. Wie die sehbehinderte Thurgauer Kantonsrätin Barbara Müller, die einen Doktortitel hat. Oder wie Stevie Wonder, der blind ist und ein Weltstar. 6

2. Man kann auch Modeschöpfer, Wis­ sen­schaftler oder Popstar sein, wenn man Autist ist. Karl Lagerfeld war Autist, etliche Wissenschaftler*innen haben autistische Züge. Susan Boyle, die die englische Version von MusicStar gewonnen hat, ist Autistin. Und Robbie Williams ist möglicherweise Autist. Das hat er jedenfalls einmal über sich selbst gesagt. 3. Auch Diabetiker können Eishockey­ profi sein. Wie Caryl Neuenschwander. 4. Es geht auch im Rollstuhl, Anwalt und dazu noch FDP-Nationalrat zu sein. Wie der verstorbene Marc F. Suter gezeigt hat. 5. Auch wenn man HIV-positiv ist, kann man NBA-Basketballstar sein: Magic Johnson. 6. Der Schauspieler und Theaterleiter Daniel Rohr hat ADHS. Ich kenne viele Beispiele von bekannten Persönlichkeiten, die eine Einschränkung haben. Liegt es daran, dass sie für

mich eine Vorbildfunktion haben? Dass es mir hilft, wenn ich sehe, dass andere trotz Behinderung Erfolg haben? Nein. Ich kann sie mir einfach gut merken. Ich bin Autist, ich kann vieles auswendig. «Behindert» heisst aus Sicht vieler Menschen, dass einem etwas fehlt. Dazu kommt, dass viele den Begriff als Schimpf­ wort brauchen. Fragt jemand: «Wer ist Robert?» Heisst es: «Der Behinderte.» Oft musste ich einschreiten, wenn jemand «behindert» als Schimpfwort benutzte. Denn er oder sie beleidigt damit alle, die es sind oder als solches gelten.

MICHAEL HOFER, 41, verkauft Surprise seit 2011 am Neumarkt Oerlikon. Er wurde noch vor dem Kindergarten mit frühkindlichem Autismus diagnostiziert. Nächsten Februar kandidiert er für die SP Winterthur für das Stadtparlament. Er nimmt an Klimastreiks teil und schreibt regelmässig Leserbriefe an Schweizer Tageszeitungen.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 506/21


Die Sozialzahl

Direkte Demokratie in der Klimakrise

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: EIDGENÖSSISCHE ABSTIMMUNGEN. DETAILLIERTE ERGEBNISSE. NEUCHÂTEL, 2021.

Von der Klimakrise sind alle betroffen. Also sollten auch alle Be­ wohner*innen mitbestimmen können, wie die Klimapolitik in ihrem Land gestaltet wird. Das dem in der Schweiz in keiner Weise so ist, kann am Beispiel der Abstimmung vom 13. Juni 2021 über das CO2-Gesetz illustriert werden. Die von einer brei­ ten Allianz von Bundesratsparteien, Umweltorganisationen und Wirtschaftsverbänden befürwortete Vorlage wurde mit ei­ nem knappen Mehr von 51,6 Prozent der Stimmenden bei einer hohen Stimmbeteiligung von 59,7 Prozent abgelehnt. Die Differenz zwischen der Anzahl der Ja- und der Nein-Stimmen betrug 103 114 Stimmen. Sie gaben den Ausschlag und verhinder­ ten so, dass die Schweiz zu einem Instrumentarium gekom­ men wäre, das geholfen hätte, die Klimaziele zu erreichen, zu denen sich das Land verpflichtet hat. Welche prozentuale Bedeutung kommt nun den 1 671 150 Per­ sonen zu, die mit ihrem Nein die Richtung der Klimapolitik entscheidend beeinflusst haben, wenn wir sie in Relation zu den Stimmberechtigten, der Schweizer Bevölkerung und der Gesamtbevölkerung setzen?

zählte das Bundesamt für Statistik 6 462 819 Personen dazu. Gemessen an dieser Bevölkerungszahl betrug der Anteil der ablehnenden Mehrheit noch 26 Prozent. Doch auch die ausländische Bevölkerung wird die Folgen des Neins zum CO2-Gesetz zu spüren bekommen. Rechnen wir auch diese Menschen dazu, kommen wir auf eine Gesamtbe­ völkerung von 8 680 890 Personen. Der Anteil der Nein-Sa­ ger*innen zum CO2-Gesetz beträgt dann noch 19 Prozent! Da­ bei müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit noch immer nicht alle Personen, die in der Schweiz leben, berücksich­ tigt haben. So fehlen viele Diplomat*innen, aber auch Asylsuchende, die weniger als ein Jahr in der Schweiz sind, sowie die Sans Papiers. Eine Minderheit von knapp einem Fünftel der Menschen in der Schweiz hat also den klimapolitischen Kurs für die nächsten Jahre bestimmt, weil die einen nicht abstimmen gingen und die anderen nicht stimmberechtigt waren. Wer möchte, dass die Abstimmungsresultate den Willen der Bewohner*innen dieses Landes besser abbilden, muss sich nicht nur für ein Stimm­ rechtalter 16 engagieren, sondern vor allem auch dafür einset­ zen, dass die ausländische Bevölkerung an solchen Abstim­ mungen teilnehmen kann. Einem Viertel der Bewohner*innen dieses Landes in wichtigen Fragen die Mitentscheidung zu verweigern, ist kein gutes Zeichen für die gesellschaftliche Teilhabe und die politische Integration in diesem Land.

Stimmberechtigt waren an diesem Abstimmungssonntag 5 509 334 Schweizer*innen, die älter als 18 Jahre waren. Der Anteil der Nein-Sager*innen beträgt in diesem Vergleich 30 Prozent. Kinder und Jugendliche werden unter den Folgen der Klimakrise besonders leiden. Ihre Stimme kam nicht zu Gel­ tung. Zählen wir sie zu den Stimmberechtigten, kommen wir zur schweizerischen Wohnbevölkerung. Ende März 2021

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Anteil Nein-Stimmen zum CO2-Gesetz im Verhältnis zu den Bevölkerungsgrössen

8 680 890 :

Gesamte Wohnbevölkerung

6 462 81 9 : 5 509 334 :

Schweizerische Wohnbevölkerung

3 287 720 :

Stimmende beim CO2-Gesetz

1 6 7 1 150 :

Nein-Stimmen

Stimmberechtigte

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Gefährliche Software Freiheitsentzug In Schweizer Gefängnissen entscheiden Algorithmen und Prognosesoftware über die Gefährlichkeit von Gefangenen. Die Programme gelten als objektiv und unvoreingenommen. Wissenschaftlich überprüft wird das kaum. TEXT  FLORIAN WÜSTHOLZ

Als Andrea für neun Monate in einem Gefängnis im Kanton Zürich landet, wird er, wie seine Mithäftlinge, getestet: Sind weitere Abklärungen nötig, um seine Gefährlichkeit für andere einzuschätzen? Ein flächendeckend eingesetzter Algorithmus rechnet und spuckt den Buchstaben A aus. Der fiktive Andrea hat Glück. Denn der Buchstabe bedeutet, dass kein weiterer Abklärungsbedarf besteht. Die «validierten, statistischen Risikofaktoren» sind nicht erfüllt. Kommt beim sogenannten FastScreening-Tool (FaST) ein B oder gar ein C heraus, führen die Behörden mit der betroffenen Person weitere Tests und Befragungen durch. Damit soll herausgefunden werden, ob nach der Freilassung ein Risiko für weitere schwere Straftaten besteht. Die Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Zürich bewerben diesen Prozess als «objektiv, einfach und schnell». Für die Betroffenen entscheidet er über Freiheit oder Gefangenschaft. Surprise 506/21

Die anschliessenden Tests sollen Fragen beantworten wie: Welche Gefangenen sind gefährlich? Wer muss sich einer Therapie unterziehen? Wer könnte nach der Freilassung rückfällig werden und vielleicht eine noch schwerwiegendere Tat begehen? Alle diese Fragen sind Teil des «risikoorientierten Sanktionenvollzugs» (ROS) – ein Modell, das seit 2018 fast in der gesamten Deutschschweiz zum Einsatz kommt. Dabei nutzen die Behörden unterschiedliche Softwareprogramme, um Prognosen zu erstellen. Ein wichtiges solches Programm ist Fotres, das «forensisch operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System». Es wurde 2005 vom forensischen Psychiater Frank Urbaniok mitentwickelt und wird bis heute von seiner Privatfirma vertrieben. Die Software errechnet auf der Grundlage von Akten und den Aussagen des*der Gefangenen gegenüber Gutachterinnen, Therapeuten oder Bewährungshelferinnen

einen Punktewert, der seine*ihre Gefährlichkeit wiedergeben soll. Auf der informationsarmen Website verspricht Fotres, das Resultat würde «risikorelevante Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensweisen und Einstellungen» abbilden und könne herausfinden, ob eine Therapie die Risikobereitschaft beeinflussen könne. Zudem würden sich diese Therapien mit Fotres dokumentieren und evaluieren lassen. Im Gefängnis kommt ebenfalls die «revidierte Psychopathie-Checkliste» (PCL-R) zum Einsatz. Durch sie werden Merkmale wie «Promiskuität», «oberflächliche Gefühle» oder «viele kurzzeitige ehe(ähn)liche Beziehungen» erfasst, mit Zahlenwerten versehen und gewichtet. Wer die Schwelle von 25 Punkten überschreitet, kann kaum mit Straflockerungen oder einer Freilassung rechnen. Ein Verfahren, das scharf kritisiert wird. «Je nachdem, wer den Betroffenen testet, kann es gut und gern bis zu sechs Punkte Unterschied machen», 9


sagte Marianne Heer, Luzerner Oberrichterin und Strafrechtsprofessorin, 2017 in einem Interview mit der Wochenzeitung WOZ. Während bei der einen Psychiaterin 22 Punkte herauskommen und für den Gefangenen damit die Freiheit lockt, sind es bei einer anderen 28 Punkte und er wird womöglich für immer weggesperrt. Heer ist nicht die einzige Kritikerin des Vollzugssystems, das sich auf Algorithmen und Prognosesoftware stützt. Auch der Zürcher Psychiater Mario Gmür sagte gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit, dass Menschen dadurch nicht mehr bloss für ihre Taten bestraft würden, sondern für ihre «Marotten und Vorlieben». Wer geschiedene Eltern, Freude an Sex oder eine Klasse wiederholt hat, kriegt bei Fotres Minuspunkte. Denn: Die Prognoseinstrumente wollen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls mittels Informationen aus der Vergangenheit vorhersagen – und untergraben damit

Strafmodelle, die «an den Besserungs­ willen des Täters appellieren», wie Gmür in der Schweizerischen Ärztezeitung schreibt. Tatsächlich glaubt Gmür, dass Fotres und andere Instrumente «regelmässig missbraucht würden, indem sie im psychiatrischen Gutachten als Testverfahren deklariert und auf den Einzelfall angewendet werden». Ein «Bauchgefühl-Paradox» Tatsächlich gibt es nur wenige Studien, welche die Aussagekraft von Fotres überprüft haben. 2011 kamen Forschende der Universität Ulm zum Schluss, dass «die Gefahr einer Pseudosicherheit» bestehe, weil die Ergebnisse je nach Person, welche die Software bedient, sehr unterschiedlich ausfallen können. Ein anderer Artikel aus demselben Jahr bestätigte dagegen die Validität der Software – verfasst wurde er von Mitarbeiter*innen von Firmengründer Urbaniok. Ein vernichtendes Fazit zieht eine

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2020 in der Zeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie veröffentlichte Studie: Fotres wurde «bislang wenig und vor allem kaum unabhängig beforscht». Von einer breiten wissenschaftlichen Validierung könne «keine Rede sein». Ob Fotres wirklich nützt, könne entsprechend nicht nachgewiesen werden. Jene, die täglich mit Fotres und Co. arbeiten, sehen das anders. Die Programme seien nachvollziehbar und transparent, weil die Gewichtung der unterschiedlichen Kriterien bekannt sei. Das fand Monika Simmler, Assistenzprofessorin an der Hochschule St. Gallen und SP-Kantonsrätin, 2020 in einer systematischen Studie über den Umgang mit Algorithmen im Justizsystem heraus. Befürworter*innen sagen, Algorithmen hätten gegenüber Menschen Vorteile. Deren klinische Urteile liessen sich nur «schwer widerlegen». Zudem könnten Algorithmen «die Willkür menschlicher Entscheide eliminieren», da sie «transparent und nach den Regeln der Logik entscheiden, anstelle sich von subjektiven Wahrnehmungen beeinflussen zu lassen». In der Schweiz richten Algorithmen noch nicht über Freiheit oder Gefangenschaft; noch immer entscheiden am Ende Menschen. Doch Simmler und ihre Mitautor*innen beschreiben ein «Bauchgefühl-Paradox»: «Auf die Frage hin, wie gehandelt würde, wenn der Algorithmus ein anderes Resultat liefere als das persönliche Empfinden, geben fast alle an, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen.» Stimmt der Algorithmus hingegen mit der eigenen Wahrnehmung überein, verleiht er dem gefällten Urteil eine «unabhängige» und «objektive» Legitimation. Die Vorstellung ist, dass vermeintlich objektive und standardisierte Programme subjektiven und individuellen Einschätzungen von Fachleuten überlegen sind. Die Realität ist eine andere: Die Prognoseprogramme sind wissenschaftlich nicht unabhängig überprüft. Die Resultate variieren je nach Psychiater*in, welche die Software bedient. Und am Ende entscheidet meist doch das Bauchgefühl. Das zeigt auch das Beispiel des in Kanada entwickelten VRAG, mit dem das Risiko für Gewalttaten eingeschätzt werden soll. Hier wird etwa nach «Ärger in der Schule» gefragt, wobei zwischen «keiner», «wenig» und «viel» entschieden werden kann. Ob die Eltern im Surprise 506/21


ARTWORK: BODARA GMBH

Rassistische Software? Nicht nur in der Schweiz entscheiden Algorithmen über Freiheit oder Gefangenschaft. In den USA schätzt die Software COMPAS seit einigen Jahren das Risiko für weitere Straftaten ein – und zwar oft bereits vor der Verurteilung, um zum Beispiel die Höhe der Kaution festzulegen. ProPublica, eine NGO für investigativen Journalismus, analysierte den dahintersteckenden Algorithmus 2017 und fand heraus, dass bei Schwarzen das Rückfallrisiko zu hoch eingeschätzt wird. Die Herstellerfirma bestreitet dies. In Katalonien nutzen Gefängnisse seit elf Jahren den Algorithmus RisCanvi bei der Entscheidung, ob Gefangene auf Bewährung freikommen. Zwar entscheiden am Ende immer noch Menschen, doch das Resultat stimmt sehr oft mit dem Vorschlag der Software überein. Nur eine Studie hat bisher untersucht, ob der nicht veröffentlichte Algorithmus überhaupt dazu taugt, das Rückfallrisiko richtig einzuschätzen. Dabei zeigte sich, dass bei vier von fünf Menschen fälschlicherweise ein Rückfall vorhergesagt wurde. FW

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Kindesalter anwesend waren, lässt sich mit «ja» oder «nein» beantworten. Aber wie lässt sich objektiv entscheiden, ob jemand «viel» oder «wenig» Ärger in der Schule hatte? Und ab wann gelten die Eltern im Kindesalter als «abwesend»? So schnell fliessen subjektive Einschätzungen in die Algorithmen ein. Tausende Tests pro Jahr Es ist kein Wunder, dass das Schweizer Bundesgericht bereits 2015 Fotres, VRAG und PCL-R eine deutliche Absage erteilte. Standardisierte Prognoseinstrumente seien «für sich allein nicht geeignet, eine fundierte individuelle Gefährlichkeitsprognose tragfähig zu machen». Es brauche vielmehr eine «differenzierte Einzelfallanalyse». Dennoch werden die Programme in der Schweiz jährlich bei tausenden Gefangenen angewendet. Aktuelle und transparent kommunizierte Zahlen gibt es nicht. Das Fernsehen SRF zeigte jedoch, dass zwischen 2016 und 2018 in zwölf Deutschschweizer Kantonen über 4500 Menschen mit dem FaST-Algorithmus getestet wurden. Vier von zehn wurden in die Kategorie B oder C eingeteilt.

All das gibt Angela Müller von der NGO AlgorithmWatch Schweiz zu denken. Nebst zweifelhaftem wissenschaftlichen Nutzen und mangelnder Transparenz zum Einsatz gibt es auch grundrechtliche Probleme. Müller sieht die Gefahr von Abschreckungseffekten: «Betroffene könnten aus Angst vor einer schlechteren Bewertung, die Lockerungen im Strafvollzug unwahrscheinlich machen würde, davon absehen, ihre Rechte wahrzunehmen.» Entsprechend führt AlgorithmWatch Schweiz ROS & Co. in ihrem neusten Bericht über die automatisierte Gesellschaft als Negativbeispiele auf. Wer sich nicht von Algorithmen und Prognosesoftware durchleuchten und bewerten lassen will, gilt als uneinsichtig und widerspenstig. Wer wieder frei sein will, muss kooperieren.

Hintergründe im Podcast: Radiomacher Simon Berginz redet mit Florian Wüstholz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk 11



Auf der Suche nach Würde Wohnen An den Rändern der Gross-

städte Chiles besetzen Menschen leere Grundstücke. Nicht allen gefällt das. TEXT  MALTE SEIWERTH  FOTOS  CATERINA MUÑOZ RAMÍREZ

Santiago de Chile

CHILE

Soledad Terán wollte den Kindern, wie sie ihre Enkel nennt, ein anständiges Zuhause bieten. «Meine vorherige Wohnung war viel zu eng und zu teuer», sagt sie, ein enges Hinterhofgebäude mit zwei Zimmern. Mehrere dieser Häuschen reihten sich aneinander. Es gab Drogen- und Gewaltprobleme im Quartier. Einmal kam in der Nacht die Polizei, sie stürmte alle Häuser auf der Suche nach einem Bewohner. «Das war kein Leben dort», sagt Terán. Dann hörte die 60-Jährige vor eineinhalb Jahren von einem besetzten Grundstück, sie bewarb sich beim Gründungskomitee und bekam ein sandiges Viereck. Der Vorbewohner hatte es verlassen, ihm war es zu viel Arbeit, ein Haus zu bauen, und zu viel Unsicherheit, jederzeit geräumt werden zu können. Terán aber liess sich dort nieder, in der Nähe des Stadtflusses Mapocho, im Westen von Santiago de Chile. Vor zwei Jahren besetzten Bewohner*innen der angrenzenden Armenviertel das brachliegende Gelände – am 17. Mai, daher der Name «Toma 17 de Mayo». Surprise 506/21

Über 80 000 Familien leben derzeit landesweit in solchen «Tomas» oder «Campamentos», wie die illegal besetzten und bebauten Landstücke in Chile genannt werden. Seit Beginn der Pandemie hat ihre Zahl um 20 Prozent zugenommen, die dort ansässigen Hausgemeinschaften sogar um mehr als zwei Drittel. Der Name «Toma» kommt vom Verb «nehmen» (tomar) und stellt die Selbstbezeichnung für die neu entstandenen Wohnviertel dar. Die Wirtschaftskrise, angetrieben durch die Pandemie, hat die Zahl von Wohnungslosen in Chile explodieren lassen. Pia Palacios von der Stiftung Un Techo para Chile (Ein Dach für Chile) zeigt sich besorgt über die aktuelle Situation: Die Wirtschaftskrise habe dazu geführt, dass viele Menschen schlichtweg ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen konnten. Die Pandemie mache ein Problem sichtbar, das lange Zeit ignoriert wurde, sagt Palacios. Sie holt zur Erklärung historisch weit aus. Seit den 1990er-Jahren sei der Bau von Wohnungseigentum subventioniert worden, ohne die Qualität, Lage oder Infra13


struktur zu beachten. «Die Folge sind stark segregierte Viertel, abgeschnitten von der Stadt und der öffentlichen Infrastruktur.» Der Zugang zu Subventionen ist bis heute sehr res­ triktiv. Man braucht ein Startkapital von mehreren Tausend Franken. In der Praxis erhalten vor allem Familien und gerade einmal sieben Prozent der Bewerber*innen einen positiven Bescheid. Die Regierung ignoriert derweil den Mietmarkt und eine integrale Planungspolitik im Wohnungsbau. Es entstanden Wohnviertel an den Stadträndern. Abgeschnitten von der öffentlichen Infrastruktur lebt hier der arme Bevölkerungsteil der chilenischen Gesellschaft. Schiessereien, Drogenkriminalität und fehlende Perspektiven sind an der Tagesordnung. Terán wollte dieser Umgebung entfliehen, den Kindern einen sicheren Wohnraum geben und die Gewissheit haben, bei Verlust der Arbeit nicht auf die Strasse gesetzt zu werden. Sie entschied sich für eine Toma. Der Vorteil war auch, dass sich die besetzten Gebiete häufig näher am Zentrum befinden als die neuen Siedlungen. Dies liegt daran, dass sich die Grundstücksbesitzer*innen bislang weigerten, ihre Ländereien zu verkaufen. So, wie bei der Toma 17 de Mayo: Zwar liegt sie am Rand der Stadt, doch die Verbindungen sind gut. Die Bewohner*innen vermuten, dass die Besitzerin auf eine Wert­ steigerung spekuliert hat und deswegen die Parzelle brachliegen liess. Die Lage, neben dem Flughafen und der Autobahn, ist ideal für den Bau von Lagerhallen oder Büros. Vom Grundstück aus hört man das Rauschen der vorbeirasenden Autos. Es ist heiss und trocken. Der Eingang ist durch ein grosses Metalltor geschützt. Teráns Haus ist ein einfacher Bau aus Holzbalken und Spanplatten. Well­ bleche grenzen ihren Garten zur Strasse ab. Das Haus hat grosse Zimmer und ist spärlich eingerichtet, an der Wand hängt ein Bild mit der Jungfrau Maria. Terán hat weder fliessendes Wasser noch ausreichend Strom. Das ganze Viertel zapft behelfsmässig eine angrenzende Stromleitung an. In der Nacht sinkt die Stromspannung, zum Teil gehen dann die Fernseher aus. Terán zeigt auf eine Waschmaschine, «für die Schleuderfunktion reicht der Strom fast nie», sagt sie. Ein Wasserkanister versorgt Küche und Bad. Umgerechnet zehn Franken zahlt die ältere Frau pro Auffüllung. Der Kanister reicht höchstens eine Woche. Für Menschen ohne Vorratskanister oder mit wenig Geld steht an jeder Strassenecke ein öffentlicher Wassertank zur Verfügung, der von der Gemeinde einmal wöchentlich aufgefüllt wird. Allgemein haben nur sieben Prozent der Menschen in den Tomas Zugang zu Wasserleitungen. Zwischen Armut und Solidarität Die zehn Franken für das Wasser sind auch für die alleinerziehende Grossmutter ein Vermögen. Damit könnte sie für eine Woche genügend Brot zum Essen kaufen. Vor der Pandemie bereitete sie Sandwiches für einen Strassen14

«Wir wollen Frauen dabei unterstützen, gegen ihre gewalttätigen Männer vorzugehen.» SOLEDAD TER ÁN

händler zu, doch das Geschäft ist mittlerweile eingegangen. Wie fast alle Bewohner*innen der Toma hält sich Terán mit Gelegenheitsjobs und der staatlichen Nothilfe über Wasser. Die meisten arbeiten informell, ohne feste Anstellung oder Vertrag, viele in den Häusern der Reichen als Handwerker oder Hausangestellte. Die Armut bestimmt einen grossen Teil des Lebens in der Toma. Es sind Streitereien, meist über die Verteilung des Wassers, aber es gibt auch viel Solidarität und Selbsthilfe, Student*innen bieten Kurse an und Bewohner*innen der benachbarten Viertel bringen Essen vorbei. Zu Beginn der Pandemie gründeten die Frauen der Siedlung eine Suppenküche für alle, die sich kein Essen mehr leisten konnten. Später machten sie daraus eine Genossenschaft. Heute produzieren sie gemeinsam Konserven und backen Brot. Die Genossenschaft besteht ausdrücklich nur aus Frauen, so Terán. Es geht ihnen darum, zusammen Geld zu verdienen, aber auch eine Gemeinschaft zu schaffen. «Wir wollen Frauen dabei unterstützen, gegen ihre gewalttätigen Männer vorzugehen», erzählt die Frau. Regelmässig gebe es Vorfälle von häuslicher Gewalt. In zwei Surprise 506/21


Vorerst ein Dach über dem Kopf, das sei das Wichtigste, sagt Soledad Terán (Bild oben). Und dass die Kinder in der Siedlung Spiel- und Lernmöglichkeiten haben (links). Das grösste Problem sei fliessendes Wasser; für jene ohne Geld stehen öffentliche Kanister zur Verfügung (unten).

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Armut prägt den Alltag der Leute in der Siedlung (Bild oben). Sie sind auf sich selbst angewiesen, Hilfe von den Behörden kommt keine. Eine Kooperative schaut fürs Nötigste. Sie besteht nur aus Frauen, die sich um Sanitäres kümmern (oben rechts) oder um den Verkauf von Hygieneartikeln (rechts).

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«Das Recht auf ein Dach überm Kopf muss über dem Recht auf Privateigentum stehen.» NICOL AS DACCARE T T

Fällen hätten es die Frauen gewagt, gegen ihre Ehemänner Anzeige zu erstatten. Als die Polizei nicht eingriff, warfen sie ihre Männer mit Hilfe ihrer Nachbar*innen aus der Siedlung. In der Toma kümmern sich die Bewohner*innen um alles selber. Die Besetzung wird von einem Komitee geleitet, das den Strassenplan anfertigte und die Grundstücke verteilte. Man plante sogar ein Zentrum mit einem Fussballplatz, einer Schule, einem Amphitheater und einem Saal für Aktivitäten. Nach zwei Jahren steht etwa die Hälfte der vorgesehenen Infrastruktur. Auch für die Sicherheit sind die Bewohner*innen selber verantwortlich. Die Polizei bleibt der Siedlung fern. Dies hat auch mit Menschenrechtsverletzungen seit der Protestwelle vom Oktober 2019 zu tun. Damals ging die Polizei so brutal gegen die Bevölkerung vor, dass diese jegliches Vertrauen verlor. «Ich traue meinen Nachbar*innen mehr als jedem Polizisten», sagt Terán. «Wer Mist baut, wird bei uns rausgeschmissen», erläutert sie trocken Surprise 506/21

das Sicherheitskonzept der Toma. Das sei schon mehrfach passiert, bei Männern, die ihre Frauen misshandeln, bei Kriminellen, die in der Siedlung mit ihrer Waffe herumschiessen, oder Typen, die mit Drogen handeln. Terán ist stolz auf das Erreichte in der Siedlung. Sie geht glücklich durch die Strassen ihres Viertels. Und gibt zu, dass es nicht immer einfach war. «Doch heute ist es schön, hier mit meinen Nachbar*innen zu leben, es gibt viele gemeinsame Aktivitäten und Solidarität.» Der grosse Saal im Zentrum der Siedlung ist ein Symbol dafür, dort fanden vor der Pandemie gemeinsame Abendessen statt. Neben den Eingang wurde ein Brett angenagelt. Daran hängt der Stundenplan der Erwachsenenbildung sowie eine Liste mit Aktivitäten für die Kinder. Im Garten eines Nachbarn findet gerade ein Theaterworkshop statt. Die Nachbarskinder laufen im Kreis, hüpfen über herumliegende Balken und spielen Fangen. Strafrechtliche Verfolgung Wie lange das Projekt noch läuft, ist allerdings unklar. Die Besitzerin der besetzten Parzelle klagt derzeit mithilfe von Anwälten gegen die ungebetenen Bewohner*innen. Diese möchten das Land eigentlich kaufen; jede Hausgemeinschaft hat etwa 1200 Franken in einen gemeinsamen Topf gelegt. Das Angebot des Zusammenschlusses lehnt die Besitzerin aber ab. Ihre Anwälte stehen dem rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera nahe und verfolgen einen kompromisslosen Kurs: Die Siedlung soll nicht nur geräumt werden, man will die Besetzer*innen strafrechtlich verfolgen. Tatsächlich wird derzeit im Parlament ein Gesetzesprojekt diskutiert, welches die Strafen erhöhen und die Räumung von besetzten Grundstücken erleichtern soll. Es wäre das Aus für Besetzungen in Chile. Dagegen wehrt sich Nicolas Daccarett vom Architekt*innenkollektiv Habitar Colectivo. «Das Recht auf ein Dach über dem Kopf muss über dem Recht auf Privateigentum stehen», sagt er. Auf lange Sicht müsse die chilenische Verfassung dem Eigentum eine soziale Komponente beimessen. Daccarett meint, Besitzer*innen dürften nicht länger ihre Ländereien brachliegen lassen und auf Wertgewinn spekulieren. Nur so könne das Grundrecht auf Wohnen umgesetzt werden. Sein Ziel ist es, Wohnbaugenossenschaften wie in Uruguay zu gründen. Dort kauft der Staat Ländereien und fördert die Bildung von Genossenschaften, die später selber Stadtviertel entwerfen und bauen. So könne das Recht auf Wohnraum deutlich besser umgesetzt werden als durch private Unternehmen oder dem Staat. Die Gemeinschaft, so Daccarett, könnte ihre Stadtviertel anhand der eigenen Interessen entwerfen und verwalten. Die Besetzerin Terán blickt in eine ungewisse Zukunft. Sie hat weder einen Plan B noch Geld, um wieder eine Wohnung zu mieten. «Ich habe niemanden, der mir helfen kann. Ich hoffe auf Gott, dass er mich davor bewahrt, auf der Strasse zu landen.» 17



Willst du nicht lieber eine Lehre machen? Essay Der Autor ist dankbar, studiert zu haben, obwohl das nicht alle wollten. Es macht ihm aber Sorgen, wie wenige Arbeiter*innenkinder die Uni schaffen. TEXT  BENJAMIN VON WYL ILLUSTRATION  MELANIE GRAUER

Willst du nicht lieber eine Lehre machen? Gut, du kannst auch nach der Kanti noch eine Lehre machen. Wäre nicht Wirtschaft das bessere Fach? Was willst du damit schon werden? Lehrer? Wie lange willst du eigentlich noch studieren? Ihr Bezirksschülerinnen und Bezirksschüler seid die Elite von morgen. Ja, aber es wäre komplett vergeben, wenn Sie nicht an eine Uni gingen, Benjamin, Sie sind ein Kopfmensch, ein Intellektueller. Sie sind also nur an einem Kunststudium interessiert, wenn Sie daneben halbtags arbeiten können? Mein Vater ist gelernter Karosseriespengler. Hätte ich einen handwerklichen Beruf ergriffen, hätte ihn das gefreut. Ich bin aber so ungeschickt, dass ich mir bis 30 schon einige Finger abgeschnitten hätte. Aber dann hätte ich doch auch das KV machen können? Auch dabei wäre ihm wohler gewesen. Doch ich ging an die Kantonsschule, gehörte dort zu jenen in der Klasse, die sehr viel redeten und mit jedem Fremdwort um sich warfen, das irgendwie zu passen schien. Es konnte mir nicht schnell genug gehen, zu den Menschen mit den Fremdwörtern, zum Bildungsbürger*innentum zu gehören. Heute hat mein Vater eine Lastwagen-Garage, und ich kann nicht mal Auto fahren. Während des Studiums war ich der fidelste Bildungsbürger: viel reden in den Seminaren, viele Namen von Büchern nennen, Querverbindungen und waghalsige Thesen aufstellen. So wie das manche – nicht alle – Professoren und Dozenten ebenfalls taten (ich glaube, es ist vor allem ein Männerphänomen). In diesem Reden, bei dem man sogar über Samy-Deluxe-Songs so spricht, als wären es Surprise 506/21

symbolistische Bilder, und klarmacht, dass man sowieso die Grenzen von allem Geschriebenen und Geschaffenen erkennt, ist unwichtig, ob man tatsächlich was sagt. Dass ich dann doch nur kurz studierte, fünf Semester, und nur bis zum Bachelor, bereue ich nicht. Sowieso habe ich gerade eine vergleichsweise bequeme gesellschaftliche Position als freischaffender Journalist und Autor und bin über die Massen gesegnet mit Privilegien und Anerkennung. Den Grund, weshalb ich trotzdem diesen Text schreibe, sehe ich in der Statistik. Denn es ist ungewöhnlich, dass ich einen Uniabschluss habe – obwohl ich ein Mann bin, weitgehend hetero und meine Eltern Schweizer*innen sind. 2019 untersuchte das Bundesamt für Statistik «intergenerationelle Bildungsmobilität», ein Wortungetüm, 19


das wohl viele ausschliesst. Und genau darum ging es in der Untersuchung: Wie viele Kinder von Menschen, die eine Lehre gemacht haben, haben einen Uniabschluss? Wie viele machen Matur? Die Zahlen erschüttern mich: Fast 85 Prozent der Studiertenkinder in meinem Alter haben eine Matur, drei von vier mindestens den Abschluss einer höheren Fachschule und fast zwei Drittel einen Hochschulabschluss. Dagegen gehöre ich zu den nur 23,7 Prozent mit Uniabschluss, deren Eltern eine Berufslehre machten. Wenn die Eltern gar keine Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit absolvierten, sind es sogar nur 15,8 Prozent. Die Untersuchung gibt eine Unschärfe von etwa fünf Prozent an. Und der Ausschluss endet natürlich nicht mit dem Abschluss, es wird weiter gesiebt, bis an die Spitze des Bildungsbürger*innentums: Einer Studie der deutschen Vertretungsprofessorin Christina Möller zufolge hatten 2017 nur 11 Prozent der Professoren und 7 Prozent der Professorinnen in Nordrhein-Westfalen Arbeiter*innen oder Langzeitarbeitslose als Eltern. Es wird aber auch dazwischen gesiebt. Nun kommen mir die Geschichten in den Sinn von all den Menschen, die mir nahestehen oder nahestanden und nicht zu diesen erlauchten 23,7 Prozent gehören: Arbeiter*innenkinder mit Bock auf Bildung, Viellese-Attitüde und -Begeisterung, die es aber nicht bis zum Abschluss schafften. Weil es einen Unterschied macht, ob man zuhause vorgelebt bekommt, wie man auf Prüfungen lernt oder Arbeiten schreibt. Weil es einen Unterschied macht, ob das Zuhause als Lebensinhalt anerkannt wird oder nicht. Weil es einen 20

Unterschied macht, ob man neben Uni oder Mittelschule arbeiten muss oder nicht. Und nein: Es ist nicht dasselbe, ob man arbeiten muss oder ob es halt noch ein schöner Ausgleich zum Unileben ist, im Kulturclub ab und zu an der Garderobe zu stehen. Mein bester Freund kann zwar aus dem Gedächtnis aus dem Briefwechsel existenzialistischer Philosoph*innen zitieren und war lange an der Uni, aber einen Abschluss hat er nicht. Mein*e Mitbewohner*in hat die Matur nachgeholt, das Studium dann aber abgebrochen. Ein sehr enger Freund am Gymnasium, den seine kosovarische Familie zum Aufsteiger erkoren hat, brach das Wirtschaftsstudium nach einem halben Jahr ab. Die Erinnerungen an die bangen Momente Ende Oberstufe. Eine Zehntelnote hat meiner damals besten Freundin gefehlt für den Fachmittelschulschnitt. Sie machte dann eine Lehre als Coiffeuse. Viele dieser Menschen haben sich gesellschaftliche Anerkennung erkämpft. Heute schreiben sie beispielsweise Kolumnen und haben Ämter. Sie werden gehört, haben ein Netzwerk und kulturelles Kapital. Doch wenn ein Job verloren geht, fehlt die Salbung eines Abschlusszertifikats. Plötzlich ist da wieder eine Glasdecke, und zum Bewerbungsgespräch gibt es bei aller Anerkennung keine Einladung, wenn im Feld «Anforderungen» halt «Hochschulabschluss» steht. Surprise 506/21


Nein, ich will lieber die Kanti machen. Ja, klar, natürlich geht das immer noch mit einer Lehre danach, theoretisch. Vielleicht würde ich mehr verdienen, aber das interessiert mich nicht. Lehrer will ich eigentlich wirklich nicht werden. Verdammt nochmal, ich studiere erst anderthalb Jahre. Das waren alles Dinge, die ich so oder so mal gesagt habe. Einige Dinge häufiger, andere nur einmal. Aber wenn mein Leben ein Filmtrailer wäre, zusammengefasst auf neunzig Sekunden, kämen diese Sätze vor. Es waren wichtige Entscheidungen. Sie haben Schranken zwischen mir und meinen Eltern aufgebaut. Statt Filme mit Mel Gibson oder Meg Ryan (oder beiden) habe ich plötzlich das Werk von Jean-Luc Godard geschaut. Mir war dabei klar, dass manche im Bildungsbürger*innentum weltfremd sind. Dass einige Stützräder brauchen, um sich im realen Leben zu orientieren. Oder um sich den weniger Gebildeten verständlich zu machen. Ein bisschen wie Heilige in einer Religion – allerdings empfand ich die Heiligkeit dieser Professor*innen als rational, mit wissenschaftlicher Arbeit und dem schönen Wahren, dem wahren Schönen begründet. Dass ein gebildetes Elternhaus bei meinen Mitstudierenden oft mit dem profanen Schönen einherging, war mir ebenfalls klar: ein Ferienhaus im Tessin oder auch Ecuador; Reisen, drei, sechs, zwölf Monate. Oder dass man Stipendien bekommt, weil die Familie – funny story – halt eigentlich zu den aristokratischen Bernburgern gehört. Oder dass es Stress nimmt, wenn die Eltern sagen: lieber in Ruhe studieren. Mach doch den Master an einer Universität im Ausland. Egal, wenn das vielleicht teurer ist. «Es gibt keine Genies!», wurde mir in einem meiner Uniseminare beigebracht. Keine Dozent*innen sagen, dass sie sich besser fühlen, über andere erheben, als Intellektuelle inszenieren und anderen nicht auf Augenhöhe begegnen. Doch sie müssen sich gar nicht aktiv über andere erheben: So lange es etwas Erstrebenswertes ist, die Perspektive dieser Person zu erlernen, vielleicht sogar ihren Weg, solange man in ihrer Position sein will, begegnet man ihr halt nicht auf Augenhöhe. Und womöglich legen dozierende Uniassistent*innen und Postdocs eben gerade deshalb Wert auf ihre Distinktion, ihren bildungsbürgerlichen Auftritt, weil sie selbst in prekären Anstellungsverhältnissen oder beruflichen Sackgassen stecken. Dann ist das Bildungsbürger*innentum die Alternative, das, was eine*n befreit von etwas, das man als elterliche Enge wahrnimmt. So schnell wie möglich, so weit wie möglich weg von zuhause. Wo Paulo-Coelho-Bücher im Regal stehen. Wo Mel Gibson als wirklich toller Filmemacher gilt. Wo ein Abend nicht deshalb ruiniert war, weil jemand einfach nicht verstehen wollte, dass man für eine Gesellschaftsanalyse Foucault gelesen haben muss. Dort war ein Abend ruiniert, wenn die Katze eine Zimmerpflanze umgegraben und reingekackt hat. Eine Weile habe ich tatsächlich geglaubt, dass Theaterschaffende privat moralische Entscheidungen so reflektiert treffen, wie sie moralische Fragen auf der Bühne darstellen. Ich habe tatsächlich geglaubt, dass auch ihr Surprise 506/21

Publikum – also eben die Bildungsbürger*innen – eine höhere Ethik vertritt. Letztlich bessere Menschen sind. Das tönt lächerlich, wenn ich das aufschreibe, aber so stark war diese Anziehung und mit ihr einhergehend die Polarisierung zwischen dem, was ich kannte, und dem bildungsbürgerlichen Versprechen. Dabei bedeutet Bildung in der Schweiz nicht zwingend Macht. Zwar war bis heute bloss ein einziger Bundesrat, Willi Ritschard, Arbeiter. Doch die Studierten mag man auch nicht in der Schweiz mit ihrer niedrigen Gymnasialquote. Seit ich geboren bin, wettern SVP-Politiker*innen auf die «classe politique», das «juste milieu», die «Bildungselite» oder wie sie es gerade wieder verschlagworten. Kulturausgaben, Universitätsetats sind unter Dauerbeschuss. Die Rechte münzt «Die da oben» gegen «Die da unten» um: Statt um Besitz geht es bei ihnen oft um Bildung. Sie reden mit der – kleiner werdenden – Mehrheit der Nichtstudierten gegen die Studierten an. Ich verdiene heute weniger, als ich wohl verdienen würde, hätte ich eine handwerkliche Lehre gemacht. Vielleicht bleibt das auch so. Wahrscheinlich werde ich nie so viel verdienen wie Professor*innen, aber bin dankbar, keiner zu sein. Ich kann gut mit ihnen, verstehe ihre Bücher. Wenn ich ins Unigebäude eintrete, fühle ich mich wohl. Ich würde behaupten, ich kann mich in ihre Probleme hineindenken – aber auch in jene meines Vaters. Und das ist der Vorteil, das krasse Potenzial der Arbeiter*innenkinder: Wir können uns in mehr Welten, Ausdrucksweisen, Wertvorstellungen hineinversetzen. Das kann man in keinem soziologischen Uniseminar lernen. Aber anstatt dass dieser Wert anerkannt wird, spürte ich im Studium einen Druck, all das abzulegen und mich neu beschriften zu lassen. Das erzkatholische Weltbild meiner Grossmutter allerhöchstens noch zu sezieren, statt mit ihr zu sprechen, zu diskutieren und etwas mitzubekommen. Erst seit ich die Grenzen der akademischen Welt erkannt habe, bin ich diese Arroganz wieder los. Und ich glaube nicht, dass die Anziehung und die Arroganz allein aus mir selbst herauskamen. Von all den fiesen Fragen hat mich die Frage «Wie lange willst du eigentlich noch studieren?» am härtesten getroffen. Ich habe zweieinhalb Jahre studiert, seit sieben Jahren arbeite ich. Die Frage hat mein Vater gestellt, ich nehme es ihm schon lange nicht mehr übel. Er hat das Beste gewollt. Doch seit ich die Statistik angeschaut habe, ärgere ich mich schon: Dass mein Vater diese Fragen gestellt hat, ist kein Zufall. Wir leben in einer Klassengesellschaft. 21


«Ein Ort, wo ich plötzlich nichts mehr kaufen muss» Festival Matthias von Hartz und Sarah Wendle vom Zürcher Theater Spektakel sagen,

wieso Politik ins Theater gehört. Und warum es trotzdem unterhaltsam sein soll. INTERVIEW  DIANA FREI

Sarah Wendle, Matthias von Hartz, Sie haben in Ihren Medienmitteilungen zum Theater Spektakel stark auf die sozialen Probleme im internationalen Kontext hingewiesen, die die Pandemie mit sich gebracht hat. Ich lese da ein grosses Mitteilungsbedürfnis heraus. Woher kommt es? MvH: Ich glaube, unser Grundimpuls kommt daher, dass der Kontakt mit internationalen Künstler*innen uns eine andere Perspektive aufdrängt, als wir sie sonst im Alltag in Zürich haben. Wir alle haben in der Vorbereitung auf unterschiedlichen Ebenen mit Menschen auf anderen Konti22

nenten zusammengearbeitet. Da kriegt man schon mit, dass es vielleicht nicht die relevanteste Frage ist, ob die Restaurantterrassen nun offen sein sollen oder nicht. In den letzten eineinhalb Jahren hat sich der Diskursraum aber derart auf das Überleben in der eigenen Stadt oder im eigenen Land verengt, dass man froh ist, wenn man eine andere Perspektive einnehmen kann. Wir haben als Festivalleitung das Gefühl, darauf hinweisen zu müssen, dass eine extreme Ungleichheit herrscht, die nicht neu ist, aber in diesem Thema auf besonders abstruse Art und Weise deutlich wird. Wir wollen deshalb auch in unseren Dis-

kursformaten Themen wie Verteilungsgerechtigkeit oder Impfgerechtigkeit eine Plattform geben. Und wie schlagen sich die Themen in den Theaterproduktionen nieder? MvH: Wir haben kein Stück eingeladen, das unmittelbar die Pandemie thematisiert. So funktioniert Theater ja sowieso nicht, es ist zu langsam für die unmittelbare Aktualität. Das Projekt von Mapa Teatro aus Bogotá wird aber thematisieren, wie es den Menschen in Kolumbien zur Zeit geht. Und es gibt durchaus Projekte, die einen expliziteren Bezug zur Pandemie-Situation haSurprise 506/21


glaube doch, dass Frauen sich dieser Themen mit einer anderen Offenheit, auch mit einem anderen Mut annehmen. Sie thematisieren den Umgang mit dem eigenen Körper ebenso wie den Leistungsdruck und gesellschaftliche Erwartungen. Etwa die argentinische Choreografin Marina Otero, die mit Mitte 30 ihren Körper bereits über jede Schmerzgrenze hinweg beansprucht hat und sich nun auf der Bühne von sechs splitternackten Männern darstellen lässt, während sie am Rand steht und ihre Lebensgeschichte erzählt.

Wie feiern wir das Leben – und wie die Toten? Die Installation «Arrivals + Departures» kann das Publikum mit Namen von jüngst geborenen oder gestorbenen Menschen bestücken (Bild rechts). Voll im Galopp: Western-Oper «Burt Torrido» (oben).

BILD(1): JESSICASCHÄFER, BILD(2): TOM MCCAUGHAN

ben. Für «Not Standing in Place» haben Künstler*innen andere eingeladen, Monumente für die Landiwiese zu erstellen. Für heute, für Zürich. Manche davon praktizieren ein Gedenken an das letzte Jahr. Die Installation «Arrivals + Departures» besteht aus Ankunfts- und Abfahrtstafel, wie man sie vom Flughafen oder Bahnhof kennt. Man kann sie selbst interaktiv mit Geburts- und Sterbedaten bestücken, wenn man jemandes gedenken möchte. Das sind Beispiele eines sehr konkreten Umgangs mit Tod oder Verlust des letzten Jahres. Das Thema Fragilität ist sehr zentral. SW: Das war keine bewusste Entscheidung, hat sich aber über die Monate hinweg in unseren Programmentscheidungen als Thema herauskristallisiert, ja. Auf der Bühne des «Nord» zeigen wir über die Dauer des Festivals insgesamt vier Stücke von Frauen, also von Choreografinnen oder Regisseurinnen, die sich alle mit Fragen der Verwundbarkeit, Verletzlichkeit, aber auch Widerstandskraft auseinandersetzen. Ich würde nicht behaupten wollen, dass das «weibliche» Themen sind, aber ich Surprise 506/21

Frau Wendle, Sie haben beim Theater Spektakel die kaufmännische Leitung inne und waren vorher Programmleiterin Sachbuch beim Zürcher Rotpunktverlag, der politisch links ausgerichtet ist. Was haben Sie davon an Themen und Interessen ans Theaterspektakel mitgebracht? SW: Kurz gesagt ist es wohl einfach eine Neugier auf die Welt. Fragen von globaler

Vielfalt ohne Ausschluss Mehr Uraufführungen gab es selten am Theater Spektakel: Zehn Weltpremieren kommen zur Aufführung und insgesamt über dreissig Projekte. Auf der Saffa-­ Insel wird Akrobatik auf der Höhe der Zeit gezeigt, am Ufer legt ein kolumbianisches Schiff an und in der Werft wird eine Western-­ Oper gesungen. Portugiesische Frauen tanzen Bolero, während Avatare aus Hongkong ihren Weg auf die Bühne der Roten Fabrik finden. An einigen Spielorten wird ein Covid-Zertifikat verlangt. Es gibt eine kostenlose Testmöglichkeit vor Ort. Die Open-Air-Veranstaltungen, die etwa einen Drittel des Programms ausmachen, lassen sich grösstenteils ohne Zertifikat besuchen. Um die kulturelle Teilhabe nicht am Geld scheitern zu lassen, werden SoliTickets vergeben. Wer sich den Vorstellungsbesuch nicht leisten kann, schreibt an contact@theaterspektakel.ch oder ruft an auf 044 415 15 50 und gibt an, was sie oder er gerne sehen möchte. DIF Zürcher Theater Spektakel, Do, 19. August bis So, 5. September, rund um die Landiwiese Zürich; dezentrale Spielorte im Tanzhaus Zürich, in der Gessnerallee und einzelnen anderen Orten in der Stadt theaterspektakel.ch

Gerechtigkeit, aber auch ganz einfach von anderen Lebensrealitäten waren für mich schon immer sehr präsent. Der Blick hierauf war in meiner früheren beruflichen Station zentral, und beim Theater Spektakel erlebe ich viele Berührungspunkte. Wir sind eine Plattform für internationales, auch aussereuropäisches Tanz- und Theaterschaffen. Die gesellschaftlichen Realitäten in anderen Ländern werden in den Arbeiten unmittelbar greifbar. Die Programmation ist immer die Entscheidung, wem man eine Stimme gibt. Beim Theaterspektakel ist der globale Süden sehr präsent, es sind Länder mit politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Wieso? MvH: Zum einen liegt es in der Tradition des Festivals. Es wurde in den 1980er-Jahren gegründet, als der Welthandel bestimmend war und Fairtrade-Bewegungen aufkamen. Da wollte man eine internationale Gegenöffentlichkeit schaffen. Zum anderen hat mein Vorgänger, Sandro Lunin, sehr lange in Afrika recherchiert und kuratiert, daraus ergab sich ein grosser Schwerpunkt. Und mir ist es jetzt wichtig, diese Linie aus einer postkolonialen Per­ spektive heraus fortzusetzen. Ich habe schon vorher in Deutschland daran gearbeitet, und die Schweiz und Deutschland sind sich darin ähnlich, dass man sich erst mal auf der Oberfläche einredet, man sei ja gar keine Kolonialmacht gewesen. Um beim genaueren Hinschauen festzustellen, dass am Hafen Hamburg am meisten europäischer Kolonialhandel abgewickelt wurde, und über Schweizer Handelshäuser fand das genauso statt. Die Verstrickungen sind mittlerweile relativ offensichtlich. Das waren sie vor vier Jahren für viele aber noch nicht. Hier hat sich etwas verändert. In den letzten Jahren sind auch Queer-Themen, Rassismus, Postkolonialismus, Inklusion und Barrierefreiheit sehr präsent geworden. Stimmt der Eindruck? SW: Es hat sicher damit zu tun, dass es um Gruppen geht, die lange marginalisiert wurden, und damit, dass zunehmend – und zu Recht – ein gewisser Druck aufgebaut wird. Man stellt fest, dass es einfach nicht mehr geht, dass eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft den Diskurs derart dominiert. Es geht um Teilhabe am Spre23


chen und darum, Sichtbarkeit herzustellen. Wir möchten ein Festival für alle sein. Das ist leichter gesagt als getan, aber wir bekennen uns klar zu diesem Anspruch und stellen uns kritische Fragen, wie wir diesem Ziel näherkommen. MvH: Ich glaube, es ist auch wichtig klarzumachen, dass der Theaterbetrieb – und damit meine ich vor allem die Stadtund Staatstheater in Deutschland, Österreich und der Schweiz – ein Betrieb ist, der auf den eigenen Sprachraum fixiert ist. Ein wahnsinnig wenig internationaler Laden im Vergleich schon nur zu jedem Kunstverein in einer Provinzstadt. Das liegt zum einen an der Sprachbasiertheit von Theater, zum anderen aber an seinen Strukturen und seinem Selbstverständnis. Dass jetzt mal Druck seitens marginalisierter Gruppen entsteht, ist höchste Zeit. Ich denke, wir überrepräsentieren bestimmte Themen im Verhältnis zu Bevölkerungsanteilen. Aber es braucht die Brenngläser, unter denen Sichtbarkeit für Themen hergestellt wird, die lange vernachlässigt wurden. Wieso gehört die Politik ins Theater? MvH: Mein Anspruch ans Theater wäre grundsätzlich, dass wir, als öffentlich geförderte Institutionen, Gesellschaft reflektieren sollten – könnten – müssten. Wenn man sich im urbanen öffentlichen Raum aufhält, spürt man permanent den Druck des Kapitalismus. Gehe ich dann in eine Kulturinstitution, fühle ich mich davon regelrecht befreit. Da ist ein Ort, wo ich plötzlich nichts mehr kaufen muss. In dem Moment fällt mir immer auf, was das für eine Chance ist. Das Theater sollte ein Ort gesellschaftlicher Reflexion sein, egal, wie politisch das dann auch ist.

«Es geht um Teilhabe und Sichtbarkeit.» SAR AH WENDLE, 38, studierte an den Universitäten Köln und Buenos Aires u.a. Geschichte und Politikwissenschaften. Ab 2013 war sie beim Rotpunktverlag Lektorin, Programmleiterin Sachbuch und kaufmännische Leiterin. Seit 2020 hat sie die Co-Leitung und Kaufmännische Leitung des Zürcher Theater Spektakels inne.

Gleichzeitig ist Theater etwas Sinnliches. Gibt es auch Produktionen, die vor allem emotional funktionieren? SW: Es steht sicher nicht überall gross «Achtung, political content!» vorne drauf. Es sind auch leichte, sehr unterhaltsame Stücke dabei. Trotzdem findet man in vielen Produktionen ein politisches Substrat, auch Themen wie Umweltzerstörung oder Klimaveränderung fliessen ein. Und selbst in «Danse Macabre» von Martin Zimmermann – auf einer grossen Bühne für ein breites Publikum gedacht – geht es im Kern um marginalisierte Gruppen und Menschen am Rande der Gesellschaft. MvH: Bei allem Politische-Themen-­vorsich-her-Tragen, das ich praktiziere, darf man nicht vergessen: Am Ende arbeiten wir in der Unterhaltungsindustrie. Ich lade keine Stücke ein, die nur inhaltlich gut sind und ansonsten langweilig. Nature Theater of Oklahoma etwa machen ein Western-­ Musical. Da geht es sehr wohl trotzdem um Geflüchtete und um Umweltzerstörung. Aber erst mal ist das Kunst, und das gilt für

FOTOS: KIRA BARLACH

«Wir müssen ein Ort der gesellschaftlichen Reflexion sein.» MAT THIAS VON HART Z, 51, hat Ökonomie und Regie studiert. Er war u.a. Co-Leiter des Freie-Szene-Festivals Impulse und inszenierte an verschiedenen Stadt- und Staatstheatern. Seit 2018 Co-Leitung und Künstlerische Leitung des Zürcher Theater Spektakels.

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die meisten Produktionen, die wir eingeladen haben. Mapa Teatro zeigt ein Stück über Gewalt und Bürgerkrieg, von der Form her ist es aber am ehesten eine Revue. Wir haben wenig Brecht’sches Lehrstück. Wir haben aber sehr viel Unterhaltung mit politischem Content. Sie integrieren auch Diskursformate und Debatten, Stammtische, moderierte Gespräche. Reicht das Geschichtenerzählen im Theater nicht mehr? MvH: Diese Formate wollen etwas anderes. Es gibt sie, weil wir denken, dass das postkoloniale Programm eine Reflexion verdient. Als ich vor vier Jahren nach Zürich kam, gab es nicht viele Orte, an denen solche Gespräche öffentlich stattfanden. Man kann aber in einem mainstreamigeren kulturellen Ambiente Leute erreichen, die mit dem Seminar oder der Ringvorlesung an der Uni nicht erreicht werden. Insofern ist das auf der einen Seite eine Popularisierung von Diskursen, die die Kulturveranstaltung auch ein Stück weit als Vehikel nimmt, um einen Rahmen dafür zu bieten. Und auf der anderen Seite versuchen wir mit unseren Stammtischen die Brücke zu schlagen zwischen der Geschichte über die lokale Aktivistengruppe, die gegen Mining-Konzerne kämpft, und der bestehenden Realität. Es ist der Versuch, zu signalisieren, dass die Erzählung im Zuge von globalen Macht- und Konzernstrukturen durchaus mit einem realen Akteur vor Ort verbunden ist. Kunst muss das nicht können. Die lokale Relevanz und Anbindung machen wir deshalb durch Debatten und Gespräche deutlich.

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FOTO: CINEWORX

Als die Blauhelme tatenlos zuschauten Kino Im Drama «Quo Vadis, Aida?» sieht eine UN-Übersetzerin 1995

in Srebrenica das Massaker herannahen. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Juli 1995. Der Bosnienkrieg wütet bereits seit drei Jahren und spaltet die Ethnien. Die bosnisch-serbische Armee zieht die Schlinge um die Kleinstadt Srebrenica, die in einem Talkessel liegt, immer enger zu. Die meisten Serb*innen sind bereits geflüchtet. Die Stadt wird zu einer Enklave – und damit für die dort verbleibende bosnisch-muslimische Bevölkerung zu einer Falle. Aida (Jasna -Duričić), die vor dem Krieg Lehrerin war, arbeitet jetzt als Übersetzerin für die hier zum Schutz der Zivilbevölkerung stationierten niederländischen Blauhelme. In dieser Funktion begleitet sie Kommandant Thom Karremans und Major Robert Franken an Verhandlungen und erfährt aus erster Hand, dass sich die Lage in ihrer Heimatstadt weiter gefährlich zuspitzt. Sie befürchtet das Schlimmste für ihren Mann und ihre beiden fast erwachsenen Söhne. Von den Soldaten will sie wissen, ob die Leute nicht besser aus der Stadt fliehen sollten. Sie antworten ihr, die Menschen seien hier sicher. Eine folgenschwere Fehleinschätzung: Die bosnisch-serbischen Truppen dringen in die von den Vereinten Nationen errichtete Schutzzone und starten das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das am Ende über 8000 Muslimen das Leben kostet. Karremans fordert erfolglos Luftunterstützung der NATO an. Wenige Tage später drängen sich in der brütenden Sommerhitze Tausende Geflüchtete auf einem Gelände der UN-Schutztruppen in der Nähe von Srebrenica. Es gibt kaum Wasser oder Nahrung. Unter ihnen befindet sich auch Aidas Familie. In der fragilen Sicherheit der Schutzzone versuchen sie gemeinsam, sich für eine Flucht zu wappnen. Doch es kommt anders: Bewaffnete serbische Soldaten spazieren an den in ihren kurzen Hosen lächerlich wirkenden Blauhelm-Wachposten vorbei in das Gelände – unter dem Vorwand, nach bosniakischen Soldaten zu suchen, die Kriegsverbrechen begangen hätten und sich hier verstecken könnten. Männer und Jungen werden von ihren Familien getrennt und in Bussen abgeführt, während die Blauhelme tatenlos zuschauen. Surprise 506/21

Aida versucht verzweifelt, ihren Mann und die Söhne in der Kommandozentrale der UN-Funktionäre zu verstecken. Das unerbittlich erzählte Drama der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić verwebt das Schicksal ihrer eindrücklich von Jasna -Duričić gespielten Hauptfigur Aida mit den Akteuren des Massakers: neben dem zögerlichen Colonel Karremans auch mit General Radko Mladic, dem «Schlächter von Bosnien», der 2017 für seine Gräueltaten vom UN-Kriegstribunal zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Žbanićs persönliche Betroffenheit äussert sich in «Quo Vadis, Aida?» in der dramatischen Zuspitzung der Ereignisse und in den symbolträchtigen Bildern – schon zu Beginn etwa, als ein Panzer die Stimmung eines friedlichen Sommermorgens zunichte macht. Oder als ältere Frauen vor Skeletten trauern, die in einem Massengrab gefunden wurden. «Nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heisst das nicht, dass sie nicht geschehen können», lässt sich Žbanić im Pressedossier zitieren. Mit «Quo Vadis, Aida?» knüpft die 1974 in Sarajevo geborene Filmemacherin auch an ihren ersten Langspielfilm «Grbavica» an, in dem ein bosnisches Mädchen herausfindet, dass sie das Ergebnis einer systematischen Vergewaltigung ist. «Grbavica» gewann an der Berlinale 2006 den Goldenen Bären. «Quo Vadis, Aida?» war 2020 für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert und lief erfolgreich an zahlreichen Filmfestivals auf der ganzen Welt. Ende Juli dieses Jahres hat der scheidende UN-Gesandte für Bosnien und Herzegowina ein Gesetz erlassen, welches die Leugnung des Völkermordes in Srebrenica unter Strafe stellt, was derzeit für viel politischen Zündstoff sorgt. Die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen. «Quo Vadis, Aida?», Regie: Jasmila Žbanić, mit Jasna Ðuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler u.a., Bosnien und Herzegowina 2020, 104 Min. Läuft zurzeit im Kino. 25


BILD(1+2): MUEHLERAMA M.VOGELZANG, BILD(3): FESTIVAL DE L’AUBE, BILD(4): ZERMATT TOURISMUS

Veranstaltungen Zürich «Hunger. Eine Ausstellung über Mangel und Überfluss», bis März 2022, Di bis Sa 14 bis 18 Uhr, Mi bis 21 Uhr, So 10 bis 17 Uhr, Mühlerama, Mühle Tiefenbrunnen, Seefeldstrasse 231. hungerausstellung.ch

setzen. An drei inszenierten Inseln dreht sich alles um die Kernthemen Reden, Schweigen, Zuhören, illustriert durch Objekte aus der Sammlung des bildungsgeschichtlichen Museums. Und durch Berichte von Zeitzeug*innen, die bewusst machen, was Wortmeldungen mit Machtverhältnissen zu tun haben. Die Atmosphäre vergangener Zeiten lässt sich im historischen Schulzimmer nachfühlen. DIF

Zermatt «NEUE PERSPEKTIVEN. Frauen in Zermatt – gestern und heute», Sonderausstellung, Mo bis So, 15 bis 18 Uhr, Kirchplatz. zermatt.ch/museum

Da ist zunächst die Installation der niederländischen Eating-Designerin Marije Vogelzang, die «Hunger Appreciation Station». Hier kann man sich Gedanken über die eigene Beziehung zum Essen machen. Die Ausstellung «Hunger» thematisiert aber auch die ganz grossen Bögen – die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse auf unser Essverhalten. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Hungergefühl und Sättigungsmechanismen werden untersucht, politische Fragen rund um die Ernährungsunsicherheit besprochen, dabei mögliche Lösungen für ein nachhaltigeres Ernährungssystem mitgedacht. Und: In persönlichen Geschichten erzählen zig Schweizer*innen von ihren Erlebnissen in Zusammenhang mit Hunger, Mangel und Verzicht. Da sind Armutsgeschichten dabei, aber auch einfach emotionale Erinnerungen. Eine Auswahl davon findet sich auch im Online-Blog. DIF

Basel und Umgebung «Festival de l’Aube», Filmfestival, Mo, 23. bis Mo, 30. August, kult.kino camera und Neues Kino Basel, Fachwerk Allschwil, Marabu Gelterkinden, ref. Kirchgemeindehaus Pratteln. aubefilmfestival.ch Die vielschichtige Realität wird im Film zum poetischen Raum der Freiheit. Das ist das Anliegen des noch jungen Festival de l’Aube, das es erst seit drei Ausgaben gibt. Unter dem Programmtitel «Die Peripherie» werden Filme aus dem Irak, aus Algerien, Afghanistan, Marokko, Iran, Ägypten und Europa gezeigt, die eine postkoloniale und kompromisslose Auseinandersetzung mit der Realität leisten. Das Festival setzt sich mit dem Orientalismus-Diskurs des Literaturwissen-

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schaftlers Edward Said auseinander, der sich für eine bessere Ver­ständigung zwischen dem Westen und der arabischen Welt einsetzte. Das Filmprogramm wird ergänzt durch eine Lesung des ira-

Sinn und Zweck des Matterhorn Museum ist es, die Tourismusgeschichte von Zermatt zu dokumentieren, wobei natürlich die Erstbesteigung des Matterhorns vom 14. Juli 1865 zentral ist. Schon vor 150 Jahren war eine Frau, die Britin Lucy Walker, oben. Genau hundert Jahre später durften die Frauen hierzulande dann nebst Bergsteigen auch stimmen und wählen. Zum Jubiläum von beidem – der ersten Frau auf dem Matterhorn und dem Wahl- und Stimmrecht – befasst sich die Ausstellung «NEUE PERSPEKTIVEN. Frauen in Zermatt – gestern und heute» mit der Rolle der Frau in der Zermatter Ge­

kischen Schriftstellers Usama Al Shahmani, eine Buchausstellung beim Lenos-Verlag Basel zur arabischen Literatur und eine Vorschau auf die Ausstellung der Afrika-Bibliographien Basel. DIF

Köniz «Jitz rede-n-ig!», ­Ausstellung, Mi bis Sa, 14 bis 17 Uhr, ab Di, 17. August, bis September 2022, ­Schulmuseum Bern (smb), Muhlernstrasse 9. schulmuseumbern.ch Wer kommuniziert wie im Klassenzimmer? Wie war das früher, wie ist es heute? «Jitz rede-n-ig!» thematisiert erwünschte und unerwünschte Formen von Lärm und Stille im Unterricht und regt dazu an, sich mit Formen der demokratischen Teilhabe auseinanderzu-

schichte und Gegenwart. Es geht um die soziale Ordnung im 19. Jahrhundert, aber auch um heutige Fragen zu Gleichstellung. Ein zentraler Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass gerade die Narrative in Museen (wie auch in Geschichtsbüchern) oft voller Klischees sind und alte Rollenbilder in unsere Zukunft transportieren. Die Kuratorinnen wollen diese Bilder aufbrechen. DIF

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war – wirkt der Umstand, dass ein gros­ ser Teil des Platzes zum Parkieren von Autos verwendet wird, die andernorts längst unter die Erde verbannt wurden. Da passt auch die Telefonzelle, die im Schat­ten lauschiger Bäume auf Menschen wartet, die sie benutzen wollen und zu bedienen wissen. Nur die Mitte des Platzes vor den mächti­gen Säulen des Bahnhofs ist den Fussgänger*innen vorbehalten. An der Seite warten die von den Angeboten der Share-Economy bedrohten Taxis. Immerhin die Sammelstelle für getrennte Abfälle dient als Treffpunkt, wahrscheinlich, weil sich dort auch die Aschen­ becher befinden. Hier wird mit einer längst vergessenen Eleganz geraucht. Ob dieser Platz in ein paar Jahren immer noch gleich oder völlig anders aussehen wird, hängt wohl davon ab, wie weit sich das Neue durchsetzt, sich das Alte als resistent erweist oder alles ganz anders kommt.

Tour de Suisse

Pörtner in Biel/Bienne Surprise-Standorte: Bahnhofplatz Einwohner*innen: 54 988 Sozialhilfequote in Prozent: 11,5 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 33,8 Berühmtester Bieler: Schriftsteller Robert Walser (1878–1956)

Zwei in Hawaii-Hemden und Bermuda­shorts gekleidete Saxophonisten hornen ebenso ungefragt wie gnadenlos auf den Aussenbereich eines Fastfood-­ Restaurants ein, das Mitarbeiter*innen sucht, die motiviert, flexibel und aufgestellt sind. Fast möchte man die Musiker auf diese Möglichkeit des Broterwerbs aufmerksam machen – motiviert und auf­ gestellt wirken sie durchaus –, denn mit der Strassenmusik ist es so eine Sache. Ist sie in einigen Ländern fester Teil der Musiktradition, mangels Übungsräumen und Konzertlokalen oder weil das Publikum nicht Eintritt zahlen und konsumieren, sondern höchstens ein paar Münzen entbehren kann für eine musikalische Darbietung, ist sie hierzulande in einer Zeit aufgekommen, in der Musik nur selten zu hören war und wenn, dann in den Geschmacksrichtungen klassisch oder volkstümlich. Surprise 506/21

So boten Strassenmusiker*innen eine willkommene Abwechslung und Bereicherung. Sie mussten allerdings so gut sein, dass die Leute stehen blieben, zuhörten und etwas in den Hut warfen. Ein Publikum zu wählen, das sich der Darbietung nicht entziehen kann, ist so etwas wie Falschspiel. Nicht im musikalischen Sinne. Heutzutage herrscht kein Mangel an Musik, eher ein Überangebot, in fast allen Innenräumen wird man beschallt. Was der Heavy-Metal-Gitarrist Michael Schenker bemerkte, der seit über dreissig Jahren ausser der eigenen keine Musik hört, ausser beim Hosenkauf, wo Musik ebenso unvermeidlich wie entbehrlich ist. Auf dem Bahnhofplatz spielt keine Musik, um Almosen bittet ein Bettler mit Krückstock. Schon fast ein bisschen aus der Zeit gefallen – oder aus der Zeit stammend, als Strassenmusik populär

Auf dem Bahnsteig lächelt ein als Wer­ bestar gepriesener Mann, der laut der Liste auf dem Plakat schon fast alles war ausser Strassenmusikant und den schönen Begriff der Cervelat-Prominenz verkörpert wie kaum jemand. Das Infocenter für Nahverkehr und Tourismus des einst durch die Expo ins Rampenlicht gerückten Drei-Seen-Landes wirkt verlassen. Beliebt ist hingegen das Bänkchen, das aus einen Beton-i mit i-punkt besteht, das so angebracht wurde, dass es aussieht, als sei es aus der Wand gefallen. Im Café gegenüber gibt es keine Strassenmusik, dafür ist ein auf Lautsprecher gestelltes Handygespräch über ein missratenes Tref­ fen zu hören.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern

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Anwaltskanzlei Fraefel, Zürich

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

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Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Cantienica AG, Zürich

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Echtzeit Verlag, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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artune ag - Architektur und Kunst

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Nachhaltig programmiert, ZimaTech GmbH

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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AdaptIT GmbH, Rapperswil-Jona

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Brockenstube Au-Wädenswil

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Rentabus.ch

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CONTACT Arbeit, Bern / Biel / Thun

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billbox AG: billbox.com

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Mediation: www.respektvolle-loesungen.ch

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Stereus, Trubschachen

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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Wir alle sind Surprise #Strassenmagazin

#499: Schnellzug ins Gefängnis

#501: «Unlautere Zahlenzaubereien»

«Kann nur wenig damit anfangen»

«Mir geht jedes Verständnis ab»

«Das Problem nicht thematisiert»

Ich nehme wahr, dass die politische Gesinnung der Heftli tendenziell eher (oder manch­ mal sogar sehr) linksorientiert ist. Ich persönlich kann sehr wenig mit dieser politischen Richtung anfangen. Ich würde mir wünschen, dass die Artik­el ausgewogener sind re­­­spektive beide Seiten angemessen vertreten werden. Ich unterstütze sehr ungern die Ver­breitung von linkem Gedankengut, indem ich diese Heftli kaufe. Ich werde auch in Zukunft davon absehen, sollte sich in nächster Zeit nicht bald eine Richtungsänderung ergeben. R. HENKE,  ohne Ort

Die Artikel rund ums Thema Schwarzfahren im ÖV sind mir sehr sauer aufgestossen. Wer den ÖV benutzt, nimmt eine Dienstleistung in Anspruch, die etwas kostet. Daran ändert auch eine prekäre finanzielle Situation nichts. Wer kein Geld hat, kann auch nicht gratis in ein Restaurant essen gehen oder ein Kino besuchen. Wenn ein Gefängnisaufenthalt mehr kostet als ein GA, was soll denn die Schlussfolgerung davon sein? Allen notorischen Schwarzfahrer*innen einfach grosszügig ein GA zu schenken? Das wäre eine Ohrfeige für alle, die einen gültigen Fahrausweis lösen. Sie würden als Vollidiot*innen hingestellt. Und was ist denn so falsch an einer Bestrafungslogik? Wer zahlt denn am Ende die Einnahmeausfälle durch Schwarz­fahrten? Die Steuerzahler*innen. Mit der gleichen Argumentation müsste selbst bei Schwerverbrecher*innen das Strafverfahren sofort eingestellt werden, da Haft, Pflichtverteidiger*innen und Prozesse eh nur viel Geld kosten. Mir geht jedes Verständnis dafür ab, wenn notorische Schwarzfahrer*innen als die armen Opfer dargestellt werden und Verständnis für ihr asoziales Verhalten erwartet wird.

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B. GNOS,  Allschwil

Rätsel aus Ausgabe 504 Lösungswort: PASTAWASSER Die Gewinner*innen werden benachrichtigt.

R. GOT TARDI,  Bern

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Etikette statt Gemeinnutz? In diesem interessanten Interview wird leider das Problem der «Gesundheits»-INDUSTRIE (Pharmafirmen!) gar nicht thematisiert. Der Gesundheits-­ APPARAT ist das Vehikel – mit dessen Hilfe die Pharma ihre Riesen-GEWINNE macht.

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sophia Freydl, Melanie Grauer, Amy Hetherington, Michael Hofer, Catarina Muñoz Ramírez, Malte Seiwerth, Florian Wüstholz, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 700 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: JAMES BRAUND

Internationales Verkäufer-Porträt

«Sie sind heute aber adrett» «Ich bin in der Nähe von Mount Gambier aufgewachsen, in einer Region im Südosten Südaustraliens. Dort bin ich bis zur zwölften Klasse zur Schule gegangen. Allerdings hatte ich auf die Schule überhaupt keine Lust. Danach habe ich lange Zeit in Weinbergen gearbeitet, habe Äpfel gepflückt und war sogar Moderator einer Radiosendung. Mein Familienleben war nicht sonderlich gut. Meine E ­ ltern haben mich kaum unterstützt, weder in der Schule noch danach. Deshalb zog ich mit achtzehn zu meinen Grosseltern. Als sie ein paar Jahre später starben, verliess ich mein Zuhause. Ich fand es an der Zeit, aufzubrechen und für mich selbst zu sorgen. Also entschied ich mich, nach Melbourne zu ziehen. Ich kannte jemanden, der schon vor Jahren dorthin umgezogen war. Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen: Es war der 5. Mai 2001, ein Samstag, als ich in Melbourne ankam. Ich arbeitete als Erstes in einer Telekommunikationsfirma – da fand ich mich nicht so gut zurecht –, dann trug ich Zeitungen aus und verteilte Werbeflyer, später ging ich im Auftrag von Organisationen von Tür zu Tür und sammelte Geld für wohltätige Zwecke; darin war ich ziemlich gut. Ich war auch bei Kentucky Fried Chicken als Frittierkoch tätig und habe sogar ein Zeugnis als Büroan­gestellter. 2004 verlor ich meinen Job im Büro eines kleines Unternehmens. Damals lebte ich allein in einer Wohnung in Frankston. Mit der Zeit fiel es mir schwer, das Geld für die Miete aufzubringen. Ich hatte wirklich zu kämpfen und, ganz ehrlich, ohne Orte wie die Gassenküche hätte ich nicht gewusst, wie ich zu meinem Essen komme. Das war auch die Zeit, als ich mich bei den Leuten von The Big Issue meldete. Ich weiss noch, wie ich mir am ersten Tag sagte: ‹Ok, Daryl, wenn du keine Hefte verkaufst, ist das nicht weiter schlimm, denn du fängst ja gerade erst an.› Aber dann lief es richtig gut. Ich hatte wieder etwas Geld und konnte mir manchmal sogar ein Stück Pizza leisten. Mit der Zeit durfte ich im Supermarkt Lebensmittel einkaufen, ich kam einigermassen über die Runden, konnte meine Rechnungen bezahlen und sogar einen Teil meiner Schulden begleichen. Es gab mir ein gutes Gefühl, wieder ein regelmässiges Einkommen zu haben. Irgendwie ist das auch eine Sache der Würde, wenn du merkst, dass du für dich selbst sorgen kannst. Und so hat sich mein Leben zum Guten verändert. Ich habe weniger finanzielle Sorgen, kann mehr unternehmen und weiss, dass ich mich jederzeit an die Leute von The Big Issue wenden kann, falls etwas schiefgeht. 2018 habe ich sogar begonnen, Psychologie zu studieren. Ich interessiere mich sehr für die unterschiedlichen Therapieformen und lerne, wie Men30

Lange Zeit war Daryl arbeitslos, musste unten durch. Heute studiert der Mann mit dem aparten Filzhut Psychologie und hat eine gute Portion Selbstvertrauen.

schen denken und fühlen, je nachdem, wie sie aufgewachsen sind, was sie erlebt haben oder welchen k ­ ulturellen Hintergrund sie haben. Das Studium hilft auch mir selbst: Ich bin daran gewachsen und habe heute mehr Selbstvertrauen; tatsächlich bin ich schlauer, als ich mir das selbst je zugetraut habe. Das Studium hilft mir, nicht nur andere Menschen besser zu verstehen, sondern auch mich selbst. Ich bin jetzt an meinem ­Master in Sozialpsychologie und hoffe, dass ich später auf diesem Gebiet eine Arbeit finde. Wenn ich das Strassenmagazin verkaufe, was ich immer noch tue, sprechen mich manchmal Leute an und sagen, wie toll sie meine Kleidung finden. Ich nenne den Stil viktorianischedwardianisch. Das ist so eine Art viktorianischer Gothic. Ich war mal Teil dieser Gothic-Szene. Dazu gehörte eine ganz bestimmte Ästhetik, die mich immer schon ansprach. Besonders viele Komplimente bekomme ich für meinen Filzhut, den ich wirklich gerne trage. Dann sagen die Leute zu mir: ‹Sie sind heute aber adrett› oder ‹Das sieht sehr modisch aus.› Darüber freue ich mich sehr.» Aufgezeichnet von AMY HETHERINGTON Übersetzt von KL AUS PETRUS Mit freundlicher Genehmigung von THE BIG ISSUE AUSTR ALIA / INSP.NGO

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

D N I S WIR F U A R WIEDE ! TOUR

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfek­ tionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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