Neun Ideen, wie im ÖV alles anders sein könnte Statt jeden Franken umzudrehen, könnten die Verkehrsunternehmen auch den ServicePublic-Gedanken ins Zentrum rücken – für Benutzer*innen und Angestellte. TEXT BENJAMIN VON WYL
Digital muss nicht inhuman sein «Logisch macht es mir in dem Beruf nichts aus, zu abgefuckten Zeiten und auch mal morgens um drei zu arbeiten. Ich springe auch immer wieder ein, zum Beispiel als letztes Jahr plötzlich zu wenig Lokführer verfügbar waren. Ich bin gerne effizienter, weniger Leerfahrten liegen mir am Herzen, aber im neuen digitalen Planungstool kann ich meine Wünsche nicht mal eingeben. Ich bin ein Mensch, keine Nummer, come on», sagt ein Lokführer.
FOTO: KEYSTONE/CHRISTIAN BEUTLER
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Endlich faire Löhne – für alle! «Meine 71 000 Franken pro Jahr sind ja noch ok, aber die SBB hat ein riesiges Niedriglohnproblem», sagt ein Lokführer gegenüber Surprise. Diejenigen, welche die Züge reinigen, verdienen zum Teil beinahe 30 000 Franken weniger als er. Das Reinigungspersonal in einer Sektion, in der er arbeitete, habe bis zur Pandemie sogar das Desinfektionsmittel selbst bezahlen müssen. «Wer Spiegel putzen muss, auf die Fremde mit ihrer Scheisse geschrieben haben, desinfiziert sich gerne. Es wäre nicht zu viel verlangt, dass der Arbeitgeber das zahlt.» Vor zwei Jahren wollte die SBB dem Reinigungspersonal die Zulage fürs Toilettenputzen – 1 Franken 50 pro Stunde – streichen. Die extra bezahlten Toilettenschichten seien beliebt, kein Wunder: Manche in der Reinigung verdienen nur 3300 Franken im Monat. Nach Kritik hat sich der damalige SBB-CEO mit seinem Jahreseinkommen von einer Million Franken erweichen lassen. Sein Nachfolger Vincent Ducrot verdient nun weniger, aber noch immer viel mehr als ein*e Bundesrät*in.
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… und faire Arbeitsbedingungen Über 30 000 Menschen arbeiten für die SBB, um die 1000 ohne festen Arbeitsvertrag. Wer drei Jahre lang für die Bahn arbeitet, hat Anrecht auf eine unbefristete Festanstellung – so ist es im Gesamtarbeitsvertrag geregelt. Schon vor einigen Jahren machte die Gewerkschaft SEV der Bahn Vorwürfe: «SBB unterläuft die Vereinbarung zur Anstellung der temporären Mitarbeitenden systematisch» und dokumentierte, wie manche kurz vor ihrem Recht auf eine Anstellung «zufällig» entlassen wurden. Warum gibt es bei einem staatlichen Unternehmen eigentlich Temporäranstellungen und tiefe Löhne? Die SBB sei auf «eine gewisse Flexibilität im Personalkörper» angewiesen. Ohne sie könnten «saisonale Schwankungen und Spitzen in den Bereichen Unterhalt, Bau und Reinigung nicht abgedeckt» werden, oder in der Pandemie, wo «Unterwegsreinigungen und Führerstanddesinfektionen» wichtiger wurden, schreibt ein SBB-Sprecher auf Anfrage. Der Bund lege «die strategischen und finanziellen Ziele jeweils für vier Jahre fest». «Die SBB soll dabei die betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten nutzen und die Produktivität weiter verbessern.» Das bedeutet wohl: Der Staat will es so, wie es ist.
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