Flucht von Alcatraz Das ist die Geschichte von einem, der schon sein ganzes Leben lang gefangen war. Gefangen in sich selber. Der so viel Kraft gehabt hätte und so glücklich gewesen wäre, hätte er sich befreien können von all den inneren Zwängen und Hemmungen. Gerade kürzlich hatte er es wieder gespürt, es war beim Fussballspielen mit seinen Arbeitskollegen, er schoss ein wunderschönes Tor, eine Direkt abnahme, alle jubelten ihm zu, aber er winkte nur ab, als wollte er sagen, hört schon auf, so verrückt war das jetzt auch wieder nicht. Und nachher wollten sie ihn feiern für dieses Tor und ihm ein Bier spendieren, aber er erfand eine Ausrede und ging. Innerlich zerriss es ihn beinahe, aber er konnte einfach nicht anders, da stand etwas im Weg, eine unsichtbare, mächtige Mauer. Er setzte sich zu Hause aufs Sofa und stellte den Fernseher ein. Da lief Flucht von Alcatraz mit Clint Eastwood. Und er hatte eine Idee. Tags darauf kaufte er nach der Arbeit in einem Bastelshop Tapetenkleister und Luftballons. Zu Hause bastelte er sich einen Kopf aus Papiermaché, genau wie Clint Eastwood im Film, und malte ihn vor dem Spiegel an, bis er ungefähr sein Ebenbild in der Hand hatte. Und dann, in der Nacht darauf – es war Vollmond –, da haute er ab. Ging in den Kleidern zu Bett, schlüpfte mitten in der Nacht ganz leise unter der Decke hervor, legte den Kopf aufs Kissen, stopfte mit Kleidern die Decke aus, damit es aussah, als läge er noch immer im Bett, ging auf Zehenspitzen zum Fenster, knüpfte drei Leintücher zusammen und stieg hinaus. Die Luft war kühl und klar. Er warf einen letzten Blick zurück, auf sich selber dort im Bett. Dann seilte er sich ab und lief los, auf und davon. Er lief und lief, durch die Strassen, über die Wiesen, durch den Wald, bis er sich sicher war, dass ihn niemand mehr ver24
folgte. Auf einer wunderschönen Lichtung sank er völlig ausgepumpt ins Gras, lag auf dem Rücken und schaute in den unendlichen Sternenhimmel. Und fing plötzlich an zu grinsen, übers ganze Gesicht, hörte nicht mehr auf, es schüttelte ihn richtig am ganzen Körper, und dann fuhr es aus ihm hinaus, eine Mischung aus Schrei und Jauchzer, er erschrak über diese Stimme, die hatte er von sich selber noch nie gehört, so tief und voll, und er sprang auf und tanzte wie ein Derwisch über die Lichtung, warf die Kleider von sich und tanzte und sprang splitternackt umher, legte sich hin, sprang wieder umher, bis zum Morgengrauen. Erst als er wieder vor seiner eigenen Wohnung stand, fiel ihm ein, dass er ja gar keinen Schlüssel bei sich hatte und sein Schlüssel von der Innenseite her steckte. Erst eingesperrt, dann ausgesperrt, dachte er. Und einen Augenblick lang war es, als würde sein gehemmtes, sein eingesperrtes Ich wieder die Überhand gewinnen, aber dann nahm er Anlauf, stiess einen Schrei aus und drückte die Türe ein, als wäre sie aus Papier.
RALF SCHLATTER, 1971 in Schaffhausen geboren, lebt in Zürich als Autor und Kabarettist im preisgekrönten Duo schön&gut. Zu seinen Werken gehören die Romane «Federseel», «Sagte Liesegang», «Steingrubers Jahr» und «Muttertag», der Erzählband «Verzettelt», der Lyrikband «König der Welt». «Flucht aus Alcatraz» stammt aus seinem neuen Buch «43 586 – Ein Schweizer Decamerone», eine Geschichtensammlung mit Rahmenhandlung. Darin enthalten sind auch all seine in den bisherigen Surprise-Literaturnummern publizierten Texte.
Surprise 529/22
PORTRÄTBILD: RUTH GRÜNENFELDER
TEXT RALF SCHLATTER