3 minute read
Eine Patientengeschichte: Die Rettung der Milchkuh Scarlett
Die Rettung von Milchkuh Scarlett: Eine Behandlung mit schwierigen Entscheidungen
Im Sommer 2021 verletzt sich eine hochträchtige Milchkuh schwer am Sprunggelenk.
Die Behandlung ist schwierig und hat eine schlechte Prognose. Besitzer und Tierärzt*innen
müssen entscheiden: Soll das Kalb oder das Muttertier gerettet werden?
Für Scarlett sah es gar nicht gut aus. Mitte Juli 2021: Die Milchkuh verbringt den Sommer auf der Alp und hat eines Morgens eine klaffende Wunde am Sprunggelenk ihres rechten Hinterbeins. Die Wunde sieht bös aus, sie sondert nicht nur Blut, sondern auch eine gelbliche, klebrige Flüssigkeit ab – Gelenkflüssigkeit, so der Verdacht des behandelnden Tierarztes. Er überweist Scarlett an die Nutztierspezialist*innen des Universitären Tierspitals. Dort bestätigen Röntgen- und Ultraschalluntersuchungen die Befürchtung: Im Sprunggelenk sind Lufteinschlüsse sichtbar, und das wiederum bedeutet, dass die Gelenkkapsel eröffnet, also eingerissen ist. Diese lässt sich zwar wieder zunähen, doch das Problem liegt in der starken Entzündung, die sich durch solche Öffnungen bildet.
Schlechte Heilungschancen «Entzündungen im Sprunggelenk haben schlechte Prognosen», sagt Assistenztierärztin Rebecca Rudnik, die bei der Behandlung der Milchkuh von Anfang an mit dabei war. Die Hälfte der betroffenen Tiere erholt sich davon nicht. Wenn die Entzündung nicht abklingt, greift sie bald auch die Knochensubstanz an. Die Tiere leiden Schmerzen und können kaum mehr gehen. Sie müssen notgeschlachtet oder eingeschläfert werden.
Um herauszufinden, wie schlimm die Entzündung bei Scarlett ist, nehmen die Tierärzt*innen eine Probe der Gelenkflüssigkeit und bestimmen darin die sogenannte Zellzahl, ein Mass für die Stärke einer Entzündung. Bei Scarlett ist diese Zahl hoch. «In solchen Fällen müssen wir rasch handeln, wenn wir dem Tier eine Überlebenschance geben wollen», sagt Rudnik. Das Gelenk muss gespült und die Wunde gesäubert und verschlossen werden. Doch Scarlett ist ein Spezialfall: Das Zuchttier ist zu diesem Zeitpunkt acht Monate trächtig, steht also vier bis sechs Wochen vor dem Geburtstermin. Der Kuh wird das Liegen für den Eingriff schwerfallen, weil sie das zusätzliche Gewicht ihres Kalbs drücken wird. Darum wird das Tier für den Eingriff nicht nur unter Lokalanästhesie, sondern in Vollnarkose gesetzt. «Damit war die Chance höher, dass wir das Gelenk gründlich reinigen konnten», erklärt Rudnik. Denn die Spülung des Sprunggelenks ist besonders schwierig, weil es eine komplexe Anatomie hat: Es besteht nicht aus einem, sondern aus mehreren Gelenken und enthält Hohlräume, die sich nur schwer erreichen lassen. Häufung im nassen Alpsommer Im Sommer 2021 wurden gehäuft Kühe und Rinder mit Gelenkverletzungen ins Universitäre Tierspital überwiesen. Ein Grund war der viele Regen. So rutschten die Tiere häufiger auf nassen Steinen oder im Morast aus oder stürzten ab. Bei Scarlett entstand die Verletzung wahrscheinlich dadurch, dass ihr Bein zwischen zwei Steinen eingeklemmt war. In der Operation reinigt das Tierspital-Team nun die Wunde von Ästchen und Dreck, der bis unter die Sehnen gedrungen ist, und säubert die Wundränder. Dann wird das Gelenk gespült, um Dreckpartikel zu entfernen. Schliesslich vernähen die Spezialist*innen die Gelenkkapsel, die darüber liegenden Muskelfasern, Unter- und Oberhaut.
Rebecca Rudnik, Assistenztierärztin an der Klinik für Wiederkäuer des Universitären Tierspitals
In der Zeit nach dem Eingriff bekommt Scarlett Antibiotika ins Blut und direkt ins Gelenk. Und zunächst bessert sich ihr Zustand: Sie belastet das Bein und die Entzündung klingt ab. Doch nach einer Woche dreht sich die Situation. Die Wunde schwillt an und die Zellzahl, die sich nach der Operation halbieren sollte, steigt und steigt. Zudem zeigt eine Ultraschalluntersuchung, dass sich im Gelenk Fibrin gebildet hat. Fibrin ist ein faserartiges, klebriges Entzündungsprodukt und lässt sich nicht ausspülen. «Wir mussten eine Entscheidung treffen», sagt Rudnik. Soll die Geburt frühzeitig eingeleitet werden, sodass immerhin das Kalb eine bessere Überlebenschance hat? Die Besitzer entscheiden sich dagegen. Stattdessen wollen sie, dass alles getan wird, um das Muttertier zu retten.
Darum öffnet das Tierspital-Team die Gelenkkapsel in einem zweiten Eingriff erneut und entfernt den Fibrinbelag mit Pinzette und Spülung. Und jetzt endlich geht es Scarlett nachhaltig besser. Gelenkkapsel und Wunde heilen gut und die Entzündung flammt nicht wieder auf. «Wir waren so froh», sagt Rebecca Rudnik heute. «Für solche Geschichten lebt man als Tierärztin.» Bald kann die Kuh nach Hause. Ihr Kalb bringt sie gesund zur Welt.