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ÜBERSICHTSARBEIT
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Sichelzellkrankheit: Symptome, Ursachen und Behandlung
ie Sichelzellkrankheit (Sickle Cell Disease, SCD) ist eine autosomal-rezessiv vererbte Störung der Hämoglobinsynthese, bei der anstelle des physiologischen Hämoglobins (HbA) das Sichelzellhämoglobin (HbS) gebildet wird. HbS polymerisiert bei Sauerstoffmangel und zwingt die Erythrozyten in eine starre Sichelform. Die verformten Blutkörperchen verklumpen miteinander, Gefäßverschlüsse und starke Schmerzen in verschiedenen Organsystemen sind die Folge. Die Erkrankung ist nur bei homozygoten Trägern des Sichelzellgens (HbSS) voll ausgeprägt, heterozygote Träger bilden neben dem HbS auch HbA in ausreichender Menge, sodass sie selbst nicht erkranken, es sei denn, sie haben vom anderen Elternteil eine weitere Mutation geerbt, etwa für Hämoglobin-C (HbSC) oder Thalassämie (HbSβ) [1, 2]. Epidemiologie
Weltweit weisen etwa 4 % der Bevölkerung das Sichelzellmerkmal heterozygot auf. Die höchste Prävalenz findet sich in Afrika mit bis zu 25 % und die niedrigste in Europa mit unter 1 % [2]. Für heterozygote Merkmalsträger hat der Trägerstatus keinen Krankheitswert, sie geben die Genveränderung aber an ihre Nachkommen weiter. Rein statistisch gesehen hat ein Elternpaar aus zwei heterogenen Merkmalsträgern 25 % gesunde Nachkommen, 50 % Nachkommen mit heterozygotem Sichelzellmerkmal und 25 % Nachkommen, die das Merkmal homozygot besitzen und deshalb eine manifeste SCD erleiden [3]. Weltweit werden jährlich mindestens 300.000 Kinder mit einer
Brigitte Söllner, Erlangen
SCD geboren [4]. In Deutschland liegt die Inzidenz bei 1 – 2 : 10.000 Neugeborenen [5]. Durch Zuwanderung aus Gebieten mit hoher SCD-Prävalenz steigt die Anzahl der Patienten mit SCD seit Jahren kontinuierlich an, derzeit leben hierzulande etwa 2.000 – 3.000 SCD-Patienten [6]. Ursache und Pathophysiologie
Das normale Hämoglobinmolekül (HbA) des Erwachsenen besteht aus 2 α- und 2 βAminosäureketten. Bei der SCD ist die β-Hämoglobinkette durch eine Punktmutation im HBB-Gen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 11 verändert, sodass an der Postion 6 der β-Globin-ProteinUntereinheit die Aminosäure Glutaminsäure durch Valin ersetzt wird. Das daraus resultierende Sichelzellhämoglobin (HbS) polymerisiert im desoxygenierten Zustand, in dem eine hydrophobe Seitenkette frei liegt, zu langen Bündeln, wodurch die Eryzthrozyten die charakteristische Sichelform annehmen und außerdem einer vorzeitigen Hämolyse unterliegen [4]. Die starren, sperrrigen Erythrozyten blockieren vor allem kapilläre und postkapilläre Blutgefäße, zumal sich auch das Adhäsionsverhalten der Sichelzellen verändert
JOURNAL PHARMAKOL. U. THER. 1/2021 · 30. JAHRGANG
[7]: Durch das bei der Hämolyse freigesetzte ex trazelluläre Hämoglobin bildet sich ein proinflammatorisches Milieu, in dem auf Gefäßendothelzellen und Thrombozyten vermehrt Adhäsionsmoleküle wie das P-Selektin exprimiert werden. Dieses bindet an P-Selektin-Glyko-protein-Ligand-1 (PSGL-1) auf Leukozyten sowie an PSGL-1-like-Rezeptoren auf den Sichelzellen [8]. Die erhöhte Interaktion zwischen den Zellen untereinander und mit dem Endothel führt zu Gefäßverschlüssen, den vasookklusiven Krisen (VOC), die sehr schmerzhaft und komplikationsträchtig sind. Die Gefäßokklusionen können in allen Organen auftreten, dort zu einer dauerhaften Schädigung bis hin zum Tode führen [9]. Die am schwersten verlaufenden Formen der Sichelzellerkrankung sind die homozygote Erkrankung (HbSS, „Sichelzellanämie“) und die Sichelzell-β-Thalassämie (HbSβ). Diagnose
Eine frühe Diagnose ist die Voraussetzung für die rechtzeitige Implementierung lebensrettender therapeutischer Maßnahmen. Idealerweise wird die Diagnose durch das Neugeborenen-Screening gestellt; ein Neugeborenen-Screening per Trockenbluttest ist in © VERLAG PERFUSION GMBH