Stolpersteine in Hameln und im LK Hameln-Pyrmont

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2021 ISBN 978-3-95954-106-0 Umschlagfotos: Titel s. S. 53 Innenseite s.S. 80


Bernhard Gelderblom

Stolpersteine

in Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2021


INHALT Vorwort 8 Zur Einführung 10 Zum Projekt von Gunter Demnig 11 Zwei Stolpersteinverlegungen in Hameln 2013 und 2018 19

Hameln, Pyrmont Bäckerstraße, Münsterkirchhof und Fischpfortenstraße Fischpfortenstraße 18 – Martha Cohn Bäckerstraße 58 – Ida Oppenheimer Bäckerstraße 47 – Moritz und Elise Blankenberg und ihre Tochter Lotte Bäckerstraße 45 – Familie Friedheim Bäckerstraße 25 – Gustav Behrendt Münsterkirchhof 13 – Die Eheleute Karl und Paula Bernstein Osterstraße Osterstraße 5 – Henriette Herz Osterstraße 7 – Johanne Michaelis Osterstraße 7 – Ida Weinberg Osterstraße 13 – Moses Moritz und Erna Marcus und ihre Tochter Ruth Osterstraße 36 – Die Schwestern Helene und Meta Bloch Pferdemarkt, Ritterstraße, Baustraße und Emmernstraße Pferdemarkt 8 – Rieka Katz und ihre Söhne Karl und Walter Pferdemarkt 8 – Paula Cahn Ritterstraße 1 – Familie Keyser / Schenk Emmernstraße 28 – Familie Hammerschlag Baustraße 16 – Albert und Bertha Jonas und ihre Kinder Else, Arthur und Anneliese

30 31 32 33 34 35 37 38 39 39 41 44 46 47 50 52


Alte- und Neue Marktstraße und Große Hofstraße Neue Marktstraße 13 – Familie Frankenstein Neue Marktstraße 14 – Rosa Culp, Sophie Friedheim und Ingrid Friedheim Alte Marktstraße 52 – Georg Reichmann Große Hofstraße 1 – Die Eheleute Elias und Henrietta Birnbaum

61 62

Nördlich der Altstadt – Erichstraße, Domeierstraße und 164er Ring Erichstraße 1 – Adolf Englender Domeierstraße 22 – Die Schwestern Adele und Selma Löwenstein 164er Ring 35 – Moritz und Bertha Hohenstein und ihre Tochter Ilse

63 66 67

56 59

Östlich der Altstadt – Deisterstraße, Kaiserstraße, Königstraße und Ohsener Straße Deisterstraße 45 – Max und Margarete Birnbaum und ihre Kinder Grete und Alfred Kaiserstraße 21 – Albert und Luise Blank und ihre Töchter Eva, Hilde und Ursula Königstraße 2 – Die Eheleute Salomon und Henriette Kamenetzky und ihre Kinder Hermann und Eva Ohsener Straße – Willy Nega

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Klütviertel Pyrmonter Straße 29 – Ernst Jahn

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Tündern Werder 16 – Emilie und Alice Jonas

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Bad Pyrmont Rathausstraße 1-1A – Sally und Anna Abraham und ihre Kinder Edith und Hans Brunnenstraße 10 – Israel und Anna Heymann und ihr Sohn Rudi Bahnhofstraße 51 – Laura Lichtenstein und ihre Kinder Hedwig, Fritz und Berta Noch ausstehende Verlegungen

69 71 78

88 89 90 93


Bad Münder und Hachmühlen Stadt Bad Münder Wallstraße 2 – Henny und Frieda Hammerschlag 98 Obertorstraße 5 – Hedwig Chana und Eugen Herze 100 Vor dem Oberntore 8 – Helene Ney 102 Obertorstr. 5 – Hermann und Sophie Friedheim und ihre Tochter Ingrid 103 Hachmühlen Dorfstr. 20 – Walter Kosterlitz

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Flecken Salzhemmendorf Hemmendorf Alte Heerstraße 12 – Emilie Catzenstein und ihre Töchter Elsa, Margarete und Aenny Alte Heerstraße 49 – Karoline Plaut und ihre Tochter Klara Alte Heerstraße – Familie Zeckendorf Salzhemmendorf Kampstraße 9 – Robert und Elfriede Davidsohn, ihr Sohn Erich und Juliane Guttmann Hauptstraße 2 – Moritz und Gertrud Heilbronn

110 113 115 118 124


Hessisch Oldendorf und Hemeringen Stadt Hessisch Oldendorf Lange Straße 25 – David und Lina Blumenthal und ihre Kinder Erik und Lieselotte Lange Straße 56 – Julius, Rosa und Else Blumenthal Lange Straße 63 – Louis, Jenny und Martha Blumenthal Lange Straße 77 – Julie Blumenthal Lange Straße 95 – Familie Löwenstein

130 131 132 133

Hemeringen Hemeringer Straße 37 – Hugo und Herta Wildau

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Register der Namen

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Literatur

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Vorwort Stolpersteine – eine Initiative gegen das Vergessen Im Landkreis Hameln-Pyrmont wurden Stolpersteine zuerst in Bad Pyrmont verlegt. Dort war der „Arbeitskreis 27. Januar“ bereits im Jahre 2005 aktiv. Hameln schloss sich seit 2013 mit insgesamt fünf Verlegeterminen an, der letzte 2018. Bad Münder und Salzhemmendorf folgten 2015 bzw. 2016. Für Aerzen, Coppenbrügge und Emmerthal haben sich bisher keine Initiativen zur Verlegung von Stolpersteinen gebildet. Im weiteren Verlauf des Jahres 2021 werden sich Hessisch Oldendorf und Hemeringen anschließen. Insgesamt erinnern Stand Januar 2021 im Landkreis Hameln-Pyrmont 115 Stolpersteine an Menschen, die dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Davon gelten 113 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, zwei sind Nichtjuden gewidmet. Nimmt man die Orte Hessisch Oldendorf und Hemeringen dazu, dann erhöht sich die Zahl auf 133. Diesen Stand gibt die vorliegende Broschüre wieder, die über die Orte der Stolpersteine und die Biographien der Betroffenen informieren will. Die Verlegung der Stolpersteine hat in den beteiligten Orten in der Regel große Zustimmung gefunden. Stets fanden sich Spenderinnen und Spender, die für den finanziellen Rückhalt sorgten. Ihnen allen ist für ihre Unterstützung herzlich zu danken. Viele Spenderinnen und Spender haben auch persönlich an der Verlegung der Steine teilgenommen. Vor allem hat das Projekt zu zahlreichen Reaktionen von Seiten der Opfer geführt. Überlebende Angehörige äußerten ihren Dank, dass ihrer Familienangehörigen in dieser Form ein kleines Zeichen der Erinnerung gesetzt worden ist. Einige stellten Dokumente aus ihrem Besitz zur Verfügung. In sechs Fällen haben überlebende Angehörige auf Einladung der Initiatoren an der Verlegung teilgenommen und dafür teilweise weite Reisen auf sich genommen. Zur Verlegung der Steine für Familie Jonas am 26. November 2013 in Hameln kamen Frank Jones aus Großbritannien, Ruth Torode aus Irland und Ute Siegeler mit ihrem Sohn aus Borken in Westfalen. Ruth Torodes im Jahre 2021 geschriebener Rückblick auf das Ereignis ist auf Seite 20f in der vorliegenden Broschüre abgedruckt. Angehörige waren ebenso anwesend, als Steine für Rosa Culp, Sophie Friedheim und Ingrid Friedheim gelegt wurden und als Willy Nega und Ernst Jahn „ihre“ Steine erhielten. Der Installation der Stolpersteine für Robert, Elfriede und Erich Davidsohn sowie für Juliane Guttmann in Salzhemmendorf wohnten zahlreiche Angehörige aus Großbritannien bei. Zur Verlegung der fünf Steine für Familie Blank kamen zehn Personen aus den USA, Großbritannien und Polen nach Hameln. Die Ansprache, die Geoffrey Harris damals im Hamelner Hochzeitshaus hielt, ist auf den Seiten 25 -27 nachzulesen. 8


Oft gelang es trotz teilweise jahrelanger Bemühungen nicht, Angehörige ausfindig zu machen bzw. Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Hier ist damit zu rechnen, dass Familien komplett vernichtet wurden oder jeden Kontakt in ihre alte Heimat ablehnen. Dem Projekt kam im Landkreis Hameln-Pyrmont zugute, dass durch eine Reihe von Publikationen die für das Verlegen von Stolpersteinen notwendige historische Recherchearbeit bereits geleistet worden war. Die Titel finden sich im Literaturverzeichnis am Ende dieser Broschüre. Zu den Vorarbeiten zählt auch die Ausstellung „Vor 70 Jahren: Der Weg der jüdischen Familien Hamelns in die Vernichtung“ von Bernhard Gelderblom, die vom 17. Oktober bis 16. November 2012 in der Synagoge der Liberalen Jüdischen Gemeinde in der Hamelner Bürenstraße gezeigt werden konnte. Anders als in den übrigen Gemeinden des Landkreises Hameln-Pyrmont war das Projekt in Hameln umstritten. Die liberale jüdische Gemeinde hat dagegen eingewandt, dass nun die Opfer erneut mit Füßen getreten und ihre Würde erneut verletzt würde. Für die Befürworter des Projekts in Hameln war es schmerzhaft, dass es nicht möglich war, die Differenzen durch Gespräche beizulegen. Den Ausschlag dafür, die Stolpersteine in Hameln auch gegen den Einspruch der liberalen jüdischen Gemeinde zu verlegen, gab die Tatsache, dass zahlreiche Jüdinnen und Juden das Projekt für ihre Angehörigen wollten und die einstimmige Verabschiedung des Projekts durch den Stadtrat. Eine Stärke des Projekts Stolpersteine ist das positive Echo, das es unter jungen Menschen findet. Schulklassen und kirchliche Jugend- und Konfirmandengruppen haben an Verlegungen teilgenommen und sind an der Pflege der Steine beteiligt. Sie vor allem sollen sich durch diese Broschüre angesprochen sehen. Auch soll sie dazu beitragen, dass das Stolperstein-Projekt in der hiesigen Öffentlichkeit präsent bleibt, und als Anregung für weitere Verlegungen dienen. Grundsätzlich abgeschlossen ist das Projekt an keinem der hier dargestellten Orte. Abschließend geht ein Dank an jene, die den Druck dieser Broschüre ermöglicht haben. Geldgeber sind die Bürgerstiftung Weserbergland, die Stadt Hameln, der Landkreis Hameln-Pyrmont, der Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln, die Städte Bad Münder und Bad Pyrmont sowie der Flecken Salzhemmendorf. Mario Keller-Holte habe ich für die Mühe der Korrektur zu danken, Silke Schulte vom Stadtarchiv Hameln für das Vorantreiben des Buchprojekts, Erik Hoffmann für das Kapitel Hessisch Oldendorf sowie Olaf Piontek und Joachim Schween für die Fotografien der Verlegungen in Hameln. Bernhard Gelderblom für den Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln im Februar 2021 9


Zur Einführung Im Jahre 1993 begann der Künstler Gunter Demnig in den Straßen seiner Heimatstadt Köln „Steine gegen das Vergessen“ zu verlegen, „Stolpersteine“, wie er sie nannte. Sie sollten an frühere Nachbarn erinnern, die als Juden, Sinti oder Roma, Euthanasieopfer, Homosexuelle, politisch oder religiös Verfolgte unter dem NS-Regime verschleppt und ermordet wurden. Das Projekt, das immer auch Kontroversen hervorruft und umstritten ist, hat sich mit mittlerweile mehr als 75.000 Steinen (Stand 2020) zum weltweit größten dezentralen Mahnmal gegen den Nationalsozialismus entwickelt. An über 800 Orten in Deutschland und in rund 200 ausländischen Städten hat Gunter Demnig bereits Stolpersteine verlegt.

Stolpersteine für Familie Blankenberg in der Bäckerstraße in Hameln, verlegt am 28. März 2014

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Zum Projekt von Gunter Demnig „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sagt Gunter Demnig. Die kleinen Denkmäler im Straßenraum – Pflastersteine im Format 10 x 10 cm mit einer Messingoberfläche – tragen eine Inschrift aus wenigen Wörtern. Sie beginnt in der Regel mit „HIER WOHNTE“. Es folgen der Name und die Daten der Verfolgung und zumeist des Todes. Gunter Demnig legt Wert darauf, dass es sich bei den Stolpersteinen um ein Kunstprojekt handelt, über dessen Rechte er verfügt. Er definiert die Bedingungen, unter denen jemand einen Stein bekommt und entscheidet letztlich auch über die Inschrift. Die wichtigste dieser Bedingungen ist, dass Stolpersteine grundsätzlich vor der letzten frei gewählten Wohnung der späteren Opfer verlegt werden, und zwar im öffentlichen Raum auf dem Fußweg. Die Steine liegen also nicht etwa vor den sog. „Judenhäusern“, welche die deutschen Städte seit 1939 einrichteten und in denen Juden auf allerengstem Raum leben mussten, und auch nicht vor Gefängnissen, Zuchthäusern oder Konzentrationslagern. Stolpersteine sollen Passanten zu einem kurzen Innehalten und Gedenken an Menschen bewegen, bevor die Nationalsozialisten sie zu Opfern machten, in der Situation also, als sie noch ein selbstverständlicher Teil der Einwohnerschaft waren.

Der Künstler Gunter Demnig anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen am 27. September 2018 in Hameln in der Kaiserstraße 21 Foto Joachim Schween 2018

Der Künstler Gunter Demnig während der Verlegung, links am 27. September 2018 in der Kaiserstraße 21, rechts am 26. November 2013 in der Baustraße 16 Fotos Joachim Schween 2013 und 2018

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Heraus aus der Trauerecke. Sehr persönliche Anmerkungen zum Streit um die Stolpersteine für ermordete Juden. Von Sergey Lagodinsky Süddeutsche Zeitung vom 18. August 2015 Dass Meyer und Rosa Katz bei mir um die Ecke gewohnt hatten, erfuhr ich erst, als ich auf ihre Namen getreten bin. Rosa war 1885 in Berlin geboren, Meyer war einen Tick jünger und kam aus Wilna im Russischen Reich. Ich bin gerade in die verschlafene Friedrichshainer Ecke [= im Osten Berlins] gezogen und war auf dem Weg zum Edeka. Plötzlich entdeckte ich die Namen auf dem Stolperstein. Was für eine Entdeckung! Ich sah meine Gegend plötzlich mit anderen Augen. Sie erzählte mir Geschichten vom Leben, von der Liebe und letztendlich vom Tod und von der Leere. Ich versuchte mir, Rosa und Meyer in meiner Straße vorzustellen. Wie sahen sie aus? Hatten sie Kinder, die es geschafft hatten wegzuziehen? Und was für einen Schmerz mussten sie empfunden haben, als sie am 3. März 1943 diese Straße verließen, um nach Auschwitz abtransportiert zu werden? Unter den Blicken ihrer Nachbarn, die aus diesen Fenstern auf diese Straße schauten. … Der Stolperstein war nur eine Zündung, die Gedenkstätte ist in meinem Kopf. Der Stolperstein rüttelt mich auf. In meinem Versuch, mir die spärlich beschriebenen Nachbarn vorzustellen, will ich mehr wissen. … In der nächsten Sekunde stelle ich fest, 61 sogenannte „Osttransporte“ brachten 35.000 Berliner Juden in die Vernichtung. Weitere 123 Transporte fuhren nach Theresienstadt, dort überlebten nur elf Prozent. Von 66.000 Juden, die in Berlin zu Beginn des Krieges lebten, überlebten nur 7000. Ich gehe die Liste der Transporte durch. Der erste Zug fuhr im Oktober 1941 von Grunewald nach Lodz, danach fuhren viele nach Minsk und Riga, von Juli 1942 an auch direkt nach Auschwitz. Unter Nummer 33 finde ich den Zug, der Berlin-Moabit am 3. März 1943 verlassen hat. Rosa und Meyer Katz wurden also an diesem Tag mit 1724 weiteren tatsächlich direkt nach Auschwitz gebracht. Sie müssen den Bahnhof in Auschwitz-Birkenau einen Tag später erreicht haben. All das ergibt die akribisch geführte Transportliste der Nazis. Ich tippe ihre Namen in die Datenbank für Schoah-Opfer des israelischen Museums Yad Vashem ein. Dort erscheinen alleine elf Berliner mit dem Namen Rosa Katz. Eine von ihnen ist Rosa aus Friedrichshain, die als Rosa Arndt geboren wurde. Ihr Todestag ist ungeklärt. Bei ihrem Mann ist es anders: Er starb am 28. April 1943. … Ich will wissen, wie sie aussahen, was sie arbeiteten, ich suche nach Bildern im Archiv des Holocaust-Museums in Washington, ich suche überall. Ich finde nichts mehr.

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Mir verbleibt nur der Stolperstein in meiner Straße. Und das Gefühl, meine Gegend von nun an mit zwei Schatten zu teilen. Unglaublich, was eine kleine Messingplatte auslösen kann. Alle reden davon, dass wir gerade für die junge Generation nach Anschlusspunkten zur Erinnerung an die grausame deutsche Geschichte suchen sollten. Es wird bemängelt, dass die Geschichte der Verbrechen der Deutschen ihre eigene neue Generation – ob deutschstämmig oder migrantisch – nicht mehr erreicht. Wieso sollen sie sich auch betroffen fühlen – für die einen sei diese Geschichte zu weit weg, für die anderen zu fremd, lautet die übliche Unterstellung. Doch diese Unterstellung greift zu kurz. So als ob sich Interesse und Betroffenheit nur über die eigene Biografie oder über Familiengeschichten herstellen ließen. Dabei ist die Sache viel einfacher: Die Bezüge sind unsere Straßen, unsere Wohnungen und Arbeitsstätten. Viele von uns leben in Häusern, die jüdischen Menschen gehörten, wir schlafen in Zimmern, in denen ihre Kinder geschlafen haben, wir machen die Türe auf, die sie geschlossen haben, wir betreten die Pflastersteine, die sie betraten, als sie zur Arbeit oder zur Schule gingen. Oder zur Sammelstelle für die Transporte nach Auschwitz. … So wie das jüdische Leben früher und der jüdische Tod danach, so ist auch die Geschichte darüber in Deutschland überall. Sie füllt unsere Städte und bedeckt unseren Boden. Die Stolpersteine sind die Merkposten dafür. Sie sind unsere Trauer, unser schlechtes Gewissen und sie sind die letzten Erinnerungen an das, was Deutschland früher war. Im Guten wie im Schlechten. Wer sagt, dass Erinnerung hart erarbeitet werden muss? Wer sagt, dass es immer Trauer-„Arbeit“ sein muss? Reicht nicht manchmal ein Blick, ein Stein, eine Berührung? Und muss diese Berührung mit der Hand sein? Wer sagt, dass wir Geschichte nicht treten, nicht auf ihr laufen, nicht uns auf sie stützen dürfen? Auf jüdische Namen treten? Ich trete nicht auf die Messingpaletten, ich stolpere über sie. … Diese Geschichte gehört zum Bild unserer Städte. Sie gehört aber nicht in die Ghettos der Gedenkstätten, sondern überall hin, weil Juden, bevor sie in die Ghettos und KZs gedrängt wurden, auch überall lebten. Wie Meyer und Rosa in Friedrichshain. Jetzt gibt es dort ihre Namen. Sergey Lagodinsky lebt als Jurist und Publizist in Berlin. Er wurde im russischen Astrachan geboren und kam 1993 als jüdischer Zuwanderer nach Deutschland.

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Wer erhält laut Gunter Demnig einen Stein? Es sind die Menschen, die der Verfolgung der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Die wichtigsten Personengruppen sind Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Opfer der Euthanasie, Homosexuelle, politisch Verfolgte. Gedacht wird auch der Menschen, die unter dem Druck der damaligen Umstände vor der nahen Deportation ihrem Leben selbst ein Ende setzten. Seit einigen Jahren legt Demnig Steine auch für Menschen aus den genannten Personengruppen, denen die Flucht gelang, insbesondere für überlebende Familienangehörige, also zum Beispiel für Kinder, die von ihren Eltern ins sichere Ausland geschickt werden konnten, für Jugendliche, die nach Palästina gingen, aber ihre Eltern zurücklassen mussten, für die wenigen KZ-Überlebenden. Demnig legt Steine auch für geflüchtete Familien, die selbst keine unmittelbaren Opfer zu beklagen haben. Diese Erweiterung des Personenkreises rechtfertigt Demnig damit, dass das Trauma der faktischen Enteignung und der Flucht aus Deutschland häufig bis in die dritte Generation nicht verwunden ist. „Überlebende“ leiden unter dem Verlust ihrer Angehörigen lebenslang und fühlen sich schuldig. Damit Gunter Demnig aktiv wird, müssen vor Ort folgende Voraussetzungen geschaffen worden sein. • Zur Organisation der Verlegung braucht es eine örtliche Initiative. • Der Rat muss dem Projekt zugestimmt haben. • Historische Recherchen zu möglichen NS-Opfern sind zu leisten. • Die Finanzierung – möglichst aus privater Hand – muss gesichert sein. Bevor Gunter Demnig einer konkreten Verlegung und der Formulierung der Inschrift zustimmt, überprüft sein Team die historische Recherche. Stärken des Projekts Stolpersteine brechen die einzigartige historische Dimension des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens auf die unterste Ebene individuell erlittenen Unrechts herunter. Nach dem Ableben der Zeitzeugen geschieht Erinnerung am ehesten durch Bindung an bestimmte Menschen und Orte. Der regionalen Aufarbeitung der Geschichte kommt deswegen eine besondere Bedeutung zu. Die grausamen Tatsachen haben sich nicht fernab jeglicher Zivilisation irgendwo im „Osten“ abgespielt, sondern hier und im Nachbarort und an unzähligen anderen Orten in Deutschland und Europa. Geschichte, die an einen uns vertrauten Ort gebunden wird, rückt uns auf den Leib. Dieser an den eigenen Alltag geknüpften Konfrontation mit Geschichte lässt sich nicht ohne weiteres ausweichen. 14


Gegenüber besonderen Mahnmalen, etwa am Ort einer zerstörten Synagoge, an denen zweimal im Jahr Kränze abgelegt werden und die sonst wenig besucht werden, dringen Stolpersteine in den Alltag und die Zentren der Städte ein. Sie sind ein bescheidenes Projekt, das nur geringe Kosten verursacht und das aufs Spektakuläre verzichtet. Das Projekt kann nicht fertig eingekauft werden, sondern es entwickelt sich schrittweise und über Jahre, lebt von der Beteiligung vieler Bürgerinnen und Bürger, ist ehrenamtlich und lässt sich relativ unbürokratisch realisieren. Es erlaubt die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern, sowohl bei der Zeremonie selbst wie beim regelmäßigen Reinigen der Stolpersteine. Das Stolpersteinprojekt fordert das Bekenntnis eines Ortes zu seiner Geschichte ein und gibt Anlass zur potentiell fruchtbaren kontroversen Diskussionen. Schwächen des Projekts Die Stolpersteine sind in Deutschland nicht unumstritten geblieben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich lange kritisch zu dem Projekt geäußert. Ihm missfiel, dass die kleinen Mahnmale auf den Bürgersteigen betreten werden können und so die Würde des Gedenkens an die Opfer beleidigt werde. In München gibt es aus diesem Grund keine Stolpersteine. Für die Todesopfer der Nationalsozialisten werden dort stattdessen an Hauswänden Erinnerungstafeln angebracht, allerdings nur dann, wenn deren Angehörige dies ausdrücklich beantragen. Falls der Hauseigentümer das ablehnt, werden die Tafeln an Stelen befestigt und auf öffentlichem Grund vor dem Haus errichtet. Auch in Hameln hat sich die liberale jüdische Gemeinde in diesem Sinne gegen das Projekt gewandt, während auf der anderen Seite die orthodoxe Kultusgemeinde das Projekt befürwortet und die Verlegungen eng begleitet hat. Seit einigen Jahren hat der Zentralrat der Juden in Deutschland seine Haltung gegenüber den Stolpersteinen geändert und sich grundsätzlich positiv zum Projekt gestellt. 2015 formulierte der damalige Präsident Josef Schuster: „Die kleinen Messingsteine lassen uns immer wieder mitten im Alltag innehalten: Wir beugen uns hinunter, um den Namen lesen zu können. Wir verbeugen uns vor den Menschen, die den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Und uns wird bewusst: Sie lebten hier, mitten unter uns.“ (Dewezet vom 19. Februar 2015) Ein weiterer Nachteil des Projekts mag die notwendige Kürze der Inschriften sein. Sie bieten nur wenig Information und können deswegen kaum mehr als Betroffenheit erzeugen. Örtliche Begleitpublikationen oder eine Website können hier aber leicht Abhilfe schaffen.

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In Deutschland wird von den Stolpersteinen gern als von einem Versöhnungsprojekt gesprochen. Wie weit reicht die Versöhnung, die das Projekt Stolpersteine mit sich bringt? Ist mit Blick auf die Bedeutung der Vernichtung der Juden überhaupt möglich, von Versöhnung zu sprechen? Der folgende Text bezieht sich nicht speziell auf das Projekt Stolpersteine, sondern geht darüber hinaus. Er ist einem Interview des evangelischen Magazins Chrismon mit Max Czollek und Michel Friedman entnommen (Chrismon. Das evangelische Magazin Nr. 1, 2021, S. 27). Max Czollek ist Politikwissenschaftler und Lyriker, Michel Friedman ist Jurist und Publizist. Beide vertreten die Meinung, dass es zwischen den Opfern und den Tätern und deren Angehörigen keine gemeinsame Erinnerung geben kann. Michel Friedman: Die Ausgangslage, die Perspektive ist eine fundamental andere. Um Auschwitz zu begreifen, muss man die Täter in den Mittelpunkt stellen. Statt untereinander darüber zu reden und mit der nächsten Generation zu reflektieren, haben die Täter überwiegend geschwiegen – und viele wurden in die Machtstrukturen der Bundesrepublik übernommen. Wenn sie nicht geschwiegen hätten, hätten sie sich ihrer Verantwortung stellen müssen. Und da geht es nicht nur um die KZ-Aufseher, sondern auch darum, wem das Bild gehörte, das bei uns im Wohnzimmer hängt. Woher kommt unser Silberbesteck? Die allermeisten Menschen, die ich in den vergangenen 60 Jahren getroffen habe, angefangen bei meinen Lehrern und den Eltern meiner Freunde, sagten: Auschwitz haben wir nicht gewollt. Das glaubte ich ihnen. Aber die Gewalt hat früher begonnen, als Lokomotivführer Juden nach Auschwitz brachten, als die Konferenz am Wannsee stattfand, als am 9. November 1938 überall Synagogen brannten. Am Anfang waren Millionen in die Gewalt verstrickt. Max Czollek: Es gibt ein großes Missverständnis: Für die deutsche Seite zielt die Erinnerungsarbeit auf Versöhnung und Erlösung ab, oder, etwas kleiner gestapelt, auf Gutwerdung. Die jüdische Seite weiß, dass nie wieder alles gut wird. Diejenigen, die hätten versöhnen können, sind tot. Daran können die Lebenden auch nichts mehr ändern. Das Urversprechen der Integration an Juden im 19. Jahrhundert war ja: Wenn ihr euch anpasst, werdet ihr von Deutschland geschützt. Dieses Versprechen wurde gebrochen. Das vergessen wir nicht.

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Schließlich ist zu betonen, dass das Projekt Stolpersteine wichtige Opfergruppen nicht erfasst. Es sind dies vor allem die ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangenen, die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland deportiert wurden. Sie hatten in Deutschland keinen „freiwillig gewählten Wohnort“. Im Laufe der Jahre 1939 bis 1945 wurden allein in Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont mehr als 10.000 Ausländer zur Arbeit eingesetzt, in der Mehrheit zivile Arbeitskräfte, Frauen und Männer, die gegen ihren Willen nach Deutschland verschleppt wurden und zumeist aus Polen und der Sowjetunion kamen. Sie mussten in der Regel in bewachten Lagern leben. Hinzu kamen Kriegsgefangene, vor allem aus Polen, Frankreich, Belgien, Jugoslawien und der Sowjetunion, sowie italienische „Militärinternierte“. Aus diesem Personenkreis sind allein für Hameln-Pyrmont 438 Todesopfer zu beklagen. Für sie gibt es bis heute in Hameln und in Hameln-Pyrmont keinen Ort der Erinnerung.

Die Realisierung des Stolpersteinprojekts im Landkreis Hameln-Pyrmont Im Landkreis Hameln-Pyrmont wurden Stolpersteine zuerst in Bad Pyrmont verlegt. Dort begann der „Arbeitskreis 27. Januar“ als Träger des Projekts im Jahre 2005 mit den Verlegungen. Inzwischen liegen in Bad Pyrmont elf Steine. In Hameln wurden im Zeitraum von 2013 bis 2018 insgesamt 78 Stolpersteine verlegt. Träger des Projekts ist der „Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln“. In Bad Münder und im Münderschen Ortsteil Hachmühlen hat Gunter Demnig am 23. September 2015 acht Steine in den Boden eingelassen. Träger ist auf Anregung der Kirchen die Stadt Bad Münder. Im Flecken Salzhemmendorf liegen seit dem 19. April 2016 18 Steine, zwölf in Hemmendorf und sechs in Salzhemmendorf. Die Initiative ging auch hier von den Kirchen aus. Die Trägerschaft wurde dann vom Flecken übernommen. Insgesamt erinnern im Landkreis Hameln-Pyrmont Stolpersteine an 115 verfolgte Personen. Davon gelten 113 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, zwei sind Nichtjuden gewidmet (Stand Januar 2021). Die Verlegung geschah an allen Orten unter Beteiligung von Schülerinnen und Schülern bzw. von Konfirmandinnen und Konfirmanden. Das gilt auch für die regelmäßige Pflege der kleinen Messingplatten, die das Gedenken wachhält. Nach einem Beschluss der Stadt sollen im Verlauf des Jahres 2021 auch in Hessisch Oldendorf Stolpersteine verlegt werden. Der Ortsrat Hemeringen plant für 2021 ebenfalls eine Verlegung (Stand Februar 2021). 17


In keiner der hier behandelten Gemeinden ist die Verlegung abgeschlossen. Eine Fortsetzung ist erst möglich, wenn die notwendigen historischen Recherchen weitergeführt wurden. Eine Zusammenstellung der Publikationen zur Geschichte der NS-Opfer im Landkreis Hameln-Pyrmont enthält das Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Eine Liste mit den Namen und Schicksalen der Hamelner Opfer findet sich unter http://stolpersteine.geschichte-hameln.de/. Eine Auflistung der Stolpersteine in Hameln, Bad Pyrmont, Bad Münder und Salzhemmendorf bieten die entsprechenden Ortsartikel bei Wikipedia.

Die biographischen Texte Um die Lektüre flüssiger zu gestalten, wurden die biographischen Texte in der Regel als Familiengeschichte geschrieben, die nicht selten mehrere Generationen umfasst. Ehepaare erhalten auf diese Weise eine gemeinsame Darstellung. In Einzelfällen wurden Familienangehörige, die ein besonderes Schicksal hatten, mit einer eigenen Darstellung bedacht. Die Darstellungen sind unterschiedlich lang. Das ergab sich aus der Größe einer Familie, zwangsläufig aber auch aus der Quellenlage, die sehr unterschiedlich sein kann. Allen Darstellungen liegen zum einen intensive historische Recherchen in zahlreichen in- und ausländischen Archiven zugrunde, zum anderen nach Möglichkeit Kontakte zu überlebenden Angehörigen und Nachkommen der Opfer, die heute weltweit verstreut leben. Die biographischen Texte zu Hessisch Oldendorf hat Erik Hoffmann formuliert, die Texte zu allen übrigen Orten gehen auf Bernhard Gelderblom zurück.

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Zwei Stolpersteinverlegungen in Hameln 2013 und 2018 Zwei Stolpersteinverlegungen sollen besonders gewürdigt werden. Zu beiden waren Angehörige aus dem Ausland gekommen.

Die erste Verlegung in Hameln für Familie Jonas am 26. November 2013 Die erste Verlegung von Stolpersteinen in Hameln fand am 26. November 2013 vor dem Haus Baustr. 16 in Hameln statt. Dort hatten der Viehhändler Albert Jonas, seine Frau Bertha und seine drei Kinder Else, Arthur und Anneliese gewohnt. Nur Arthur war 1939 die Flucht nach England gelungen. Zur Verlegung waren die beiden Kinder von Arthur, Frank Jones und Ruth Torode gekommen, die heute in England bzw. Irland leben. Außerdem war Ute Siegeler aus Borken in Westfalen anwesend, die wie Bertha Jonas aus der Familie Rothenberg stammt. Von dieser Stolpersteinverlegung werden nachfolgend Ruth Torodes im Jahre 2021 verfasster Rückblick sowie die beiden Reden von Oberbürgermeisterin Susanne Lippmann und Bernhard Gelderblom dokumentiert.

Die Geschwister Frank Jones und Ruth Torode (in der Mitte), Ute Siegeler (rechts) mit ihrem Sohn und Gunter Demnig (links) Foto Joachim Schween 2013 19


Ruth Torode in der Rückschau auf den 26. November 2013 (geschrieben im Januar 2021): „Im November 2013, dem 75. Jahrestag der ‚Kristallnacht‘, wurden mein Bruder Frank und ich eingeladen, an der Installation von Stolpersteinen für unsere Familie teilzunehmen. Fünf Steine wurden vor dem ehemaligen Haus unseres Vaters Arthur Jonas gelegt: Für seine Eltern Bertha und Albert, für seine Schwestern Else und Anneliese und für ihn selbst. Zwei Steine wurden außerdem in Tündern vor dem Haus seiner Tante Emilie und ihrer Nichte Alice installiert. Aus der großen Familie Jonas war nur unserem Vater Arthur die Flucht aus Deutschland gelungen. Von unserer Kindheit an erzählten uns unsere Eltern Geschichten über die Familie Jonas und über die Tante unserer Mutter und ihren Onkel, den Arzt Dr. Siegmund Kratzenstein, die sie in die Jonas-Familie eingeführt hatten. Wir hörten von ihren Verwandten und Freunden, ihrer Arbeit, ihren Tieren und der Schönheit der umliegenden Landschaft Hamelns. Wir hörten aber auch von der Nazizeit, dem Schock der ‚Kristallnacht‘ und dem, was folgte: Die Verschleppung unseres Großvaters und Vaters in das KZ Buchenwald 1938, die Flucht unseres Vaters nach England 1939, die Kriegsjahre und die vergebliche Qual, die Schicksale geliebter Menschen aufzuspüren. Es war für uns sehr bewegend zu sehen, dass gute Leute so viel Mühen investiert hatten, um das Projekt Stolpersteine in Hameln durchzusetzen. Die Zeremonie selbst war eindrucksvoll: die körperliche Arbeit beim Installieren der Steine in den Bürgersteig, die knappen Worte, die auf jedem Stein eingraviert waren, Schülerinnen und Schüler, die kurze Biographien zu jeder Person lasen, das Platzieren weißer Rosen auf den Steinen am Schluss. Die Zeremonie in Tündern war noch eindrucksvoller, weil sie in der Dunkelheit stattfand und von Scheinwerfern beleuchtet wurde. In beiden Fällen erwärmte uns die Tatsache, dass trotz der herrschenden Kälte eine große Zahl von Menschen der Zeremonie beiwohnte. Die Bedeutung des Tages für uns war gemischt. Einerseits erinnerte er uns schmerzlich daran, wie viele Verwandte wir in Hameln und anderswo verloren hatten – uns bekannte Namen, aber auch Menschen, die wir nie getroffen hatten und nur von Fotos kannten. Aus Briefen, die sich glücklicherweise erhalten hatten, wussten wir, dass die Eltern unseres Vaters und seine Schwestern, bevor sie deportiert wurden, zumindest von der Ehe unserer Eltern und von Franks Geburt im Jahr 1941 erfahren hatten. Andererseits bedeutete der Tag aber auch etwas ganz wichtiges. Die Nazis hatten den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft genommen. Durch die Zeremonie der Stolpersteine erhielten die Deportierten und Vertriebenen die Anerkennung zurück, deutsche Bürger zu sein. Wir alle kennen die Plaketten an Gebäuden, die darauf hinweisen, dass dort einmal prominente Menschen gelebt hatten. Die Stolpersteine dokumentieren das Leben von prominenten, vor allem aber auch von ganz gewöhnlichen Menschen, die einst stolz darauf waren, deutsche Bürger zu 20


sein. Unsere Eltern wären froh darüber gewesen, dass sie eines Tages in Deutschland wieder so anerkannt werden würden. Nachtrag: Meine Tochter hat ihr jüdisches Erbe zurückerlangt und lebt jetzt in Israel. Mein Sohn hat die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerlangt und lebt jetzt in Deutschland. Für meinen Bruder Frank und für mich repräsentieren unsere Kinder und Enkel das Überleben und die Zukunft unserer beiden elterlichen Familien, die fast ausgelöscht wurden.“ Ansprache von Oberbürgermeisterin Susanne Lippmann: „Wir stehen hier vor einem ‚ganz normalen‘ Haus in der Baustraße. Nichts deutete bislang darauf hin, was hier geschehen ist. Dass die Familie Jonas, die hier bis Anfang der 1940er Jahre wohnte, deportiert wurde und zu Tode gekommen ist – das konnte niemand ahnen, der hier entlangging. Denn nun werden wir regelrecht auf das Schicksal der Familie Jonas gestoßen. Wir werden darauf aufmerksam gemacht, dass hier eine komplette Familie ausgelöscht wurde: Albert Jonas, seine Frau Bertha und die drei Kinder Else, Arthur und Anneliese. Fünf Stolpersteine werden heute an dieser Stelle verlegt, fünf Steine zum Gedenken an das schreckliche Schicksal einer Familie, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Die Steine helfen, die Opfer aus der Anonymität herauszuholen. Ihre Lebensgeschichte wird greifbar, sie erhalten ein Gesicht. Unübersehbar, fest im Pflaster verankert – fünf Steine, die uns zum Innehalten auffordern, zum Stehenbleiben und zum Nachdenken: Wie konnte all das vor unserer Haustür geschehen? Warum haben so viele Menschen weggeschaut? Und wie lässt sich so etwas in Zukunft verhindern? Die Steine sind weit mehr als nur Symbolik. Sie helfen uns, die Erinnerung an Menschen wachzuhalten, die unvorstellbare Grausamkeiten erleiden mussten – wie die Familie Jonas, aber auch die Familie Culp/Friedheim, vor deren Haus in der Neuen Marktstraße heute ebenfalls Stolpersteine verlegt werden. Und auch in Tündern werden wir ja anschließend noch zwei Stolpersteine setzen. Das Gedenken wird damit ‚in Stein gemeißelt‘. Niemand kann mehr unbedacht darüber hinweggehen, niemand kann mehr leugnen, vergessen und verdrängen. Das ist unsere Botschaft. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass Hameln ein sehr düsteres Kapitel seiner Geschichte angenommen hat. Und es ist auch ein wichtiges Signal an zukünftige Generationen: Niemals dürfen wir vergessen, was geschehen ist! Oberbürgermeisterin Susanne Lippmann (links) mit Wir müssen gleichzeitig den Bogen in die Zukunft spannen. einer Schülerin des Albert Einstein-Gymnasiums Wir sind aufgefordert, alles zu tun, damit Menschenverachtung, Hameln Foto Joachim Schween 2013 21


Hass und Gewalt nie wieder eine Chance haben. Rechtsextremes Gedankengut darf bei uns keinen Platz haben, die Saat soll bei uns nicht aufgehen. Das ist das Vermächtnis der Menschen, derer wir heute gedenken. Ich bin sehr froh, dass der ‚Erfinder‘ der Stolpersteine, der Künstler Gunter Demnig, heute nach Hameln gekommen ist, um bei der erstmaligen Verlegung von Stolpersteinen in unserer Stadt persönlich dabei zu sein. Wir sehen, was aus einer Idee werden kann – das Projekt ‚Stolpersteine‘ hat immer weiter Kreise gezogen, inzwischen finden wir europaweit mehr als 42.000 dieser Steine. Hätten Sie es selbst für möglich gehalten, dass Ihre Idee an so vielen Orten umgesetzt wird? Ich bin dankbar, dass nun auch Hameln dabei ist. Der Stadtrat hatte sich einstimmig dafür ausgesprochen, auch in unserer Stadt Stolpersteine zu verlegen. Und ich bin sicher: Diese Steine werden ein wichtiger Beitrag der Erinnerungskultur in unserer Stadt sein. Besonders freue ich mich, dass Bürgerinnen und Bürger mit ihren Spenden die Verlegung der Stolpersteine möglich gemacht haben. Sie engagieren sich damit für eine wichtige Sache – herzlichen Dank! Ich danke sehr herzlich den Familienmitgliedern der Opfer, die teilweise eine weite Reise auf sich genommen haben und uns heute auf diesem Weg begleiten. Sie geben uns die Chance zu zeigen, dass Deutschland heute ein anderes Land ist.“ Die Geschwister Frank Jones und Ruth Torode während der Verlegung Foto Joachim Schween 2013

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Ansprache von Bernhard Gelderblom: „Frau Lippmann hat soeben für die Stadt Hameln und für uns Bürgerinnen und Bürger gesprochen. Ich will versuchen zu sagen, welche Bedeutung die Stolpersteine für die Angehörigen haben. Die wenigen Überlebenden der Familie Jonas haben für die Menschen, die sie verloren haben, nie einen Grabstein setzen können, zu dem sie in ihrer Trauer hätten gehen konnten. Die Orte, an denen Albert und Bertha, Else und Anneliese Jonas ermordet worden sind, tragen Namen wie Auschwitz, Treblinka und Theresienstadt. Es sind Orte der Vernichtung, Unorte. Jetzt setzt Gunter Demnig unter unseren Augen zwar keine Grabsteine, aber Lebenszeichen. ‚Hier wohnte …‘ – so beginnt jeder Text auf einem Stolperstein. Hier in der Baustraße 16 hat die Familie Jonas gewohnt, hier war ihr Lebensmittelpunkt. Von hier aus sind Else, Arthur und Anneliese Jonas als Kinder zur Schule gegangen, haben sie ihre Ausbildung gemacht und ihre Berufe ausgeübt. Von hier aus aber hat sie auch die Stadtverwaltung ins ‚Judenhaus‘ Neue Marktstraße geschickt, bevor sie von der Gestapo ins Ghetto Warschau und ins Ghetto Theresienstadt verschleppt wurde. Ich möchte mich bei Euch bedanken, dass Ihr zu diesem Anlass heute zu uns nach Hameln gekommen seid. Liebe Ruth Torode aus Dublin, lieber Frank Jones aus London. Ihr seid beide Kinder von Arthur Jonas, dem als einzigem noch die Flucht nach London gelang. Liebe Ute Siegeler aus Borken in Westfalen. Sie stammen wie Bertha Jonas aus der Familie Rothenberg. Ihr habt diese Stolpersteine gewollt, habt Euch für sie eingesetzt. Für Euch mag sich damit, so möchte ich hoffen, eine schmerzliche Lücke schließen. Für uns birgt Eure Anwesenheit und die konkrete Erinnerung in Form der Steine den Keim zur Versöhnung.“

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Die Verlegung für Familie Blank am 27. September 2018 Die einst bedeutende Teppichfirma Otto Kuhlmann (oka) war 23 Jahre lang von Albert Blank mit Erfolg geführt worden. Dann wurde ihm seine jüdische Herkunft zum Verhängnis. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung wurde Blank faktisch gezwungen zu verkaufen. Mit seiner Frau und seinen drei Töchtern ging er in die Emigration. Den größten Teil des Kaufpreises blieb der Käufer schuldig. Auch nach dem Krieg erfuhr er keine angemessene Gerechtigkeit. Der „Ariseur“ ging unbelastet aus dem Entnazifizierungsverfahren heraus. Familie Blank hingegen schlug anstelle von Empathie Zweifel an der Berechtigung der Rückerstattungsforderung entgegen. Für die Blanks kam eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr infrage. Die Familie hatte – bis in die dritte Generation – die faktische Enteignung und die Flucht aus Deutschland nie verwunden.

Teilnehmerkreis der Stolpersteinverlegung (links); Schülerinnen und Schüler beim Niederlegen von Rosen (rechts) Fotos Olaf Piontek 2018

Nach einem langen Briefwechsel mit Bernhard Gelderblom kamen die Enkel zu der Entscheidung, der Verlegung der Stolpersteine zuzustimmen und zur Zeremonie nach Hameln zu kommen. Drei Enkel mit ihren Angehörigen, insgesamt zehn Personen, kamen aus den USA, Großbritannien und Polen nach Hameln. Das zweitägige Programm sah für den Nachmittag des 26. September 2018 den Besuch des Standorts der ehemaligen Teppichfabrik oka im Hefehof vor. Dort wurde die Gruppe vom Hausherrn Jobst-Walter Dietz empfangen und durch die weitläufige Anlage geführt. Anschließend gab es auf Einladung des Vereins für regionale Kultur- und Zeitgeschichte ein Abendessen mit den Angehörigen der Familie Blank und dem Künstler Gunter Demnig. Am nächsten Tag fand am Vormittag die Verlegung der fünf Stolpersteine durch Gunter Demnig vor ihrem ehemaligen Wohnhaus statt. 24


Die Angehörigen der Familie vor dem Haus Kaiserstraße 21 Foto Olaf Piontek 2018

Begleitet wurde die Verlegung durch Hamelns Bürgermeisterin Karin Echtermann, Schülergruppen der Viktoria-Luise-Schule mit ihrer Lehrerin Katharina Zabel, Vertreter der orthodoxen jüdischen Gemeinde Hamelns und des Vereins für regionale Kultur- und Zeitgeschichte. Zu jedem Stein der fünf Familienmitglieder las eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern die individuelle Biographie und legte eine Blume nieder. Anschließend besichtigten die Angehörigen auf Einladung der Eheleute Weise, den heutigen Eigentümern, das Haus, das ihr Großvater gebaut hatte. Danach hatte Bürgermeisterin Karin Echtermann die Angehörigen zum offiziellen Empfang im Hamelner Hochzeitshaus geladen. Dort hielt Geoffrey Harris im Namen der Angehörigen die folgende Rede: „Frau Bürgermeisterin Echtermann, Herr Gelderblom, Frau Maria Bergmann und Familie Nega, die Sie diese bedeutsame und emotionale Veranstaltung mit uns teilen, auch unseren Familien und Freunden einen ‚guten Morgen‘ und danke dafür, dass Sie alle hier sind, und auch vorher bei der sehr besonderen Zeremonie, die beim Elternhaus meiner Mutter stattfand. … Ich entschuldige mich dafür, dass ich jetzt nach nur zwei Worten Deutsch ins Englische wechsele, aber wenn das Leben anders gelaufen wäre, würde ich jetzt Deutsch fließend sprechen und in dieser wunderschönen Stadt wohnen. Für dieje25


nigen, die mich nicht kennen; mein Name ist Geoffrey Harris und ich bin der Enkel von Herrn und Frau Albert Blank, den ursprünglichen Eigentümern des Hauses in der Kaiserstraße 21. Ich möchte mich besonders bei Herrn Bernhard Gelderblom dafür bedanken, dass er diese Veranstaltung organisiert hat, die so wichtig für unsere Familie ist und auch für die ganze notwendige und schwierige Arbeit, die er über viele Jahre geleistet hat. Mein Dank gilt auch Frau Bürgermeisterin Echtermann, dafür dass sie der Veranstaltung die Würde ihres Amtes verlieh und auch freundlicherweise diesen Empfang in dem wundervollen Hochzeitshaus ausrichtet. Mein Dank gilt auch Herrn Gunter Demnig, dem Künstler, für seine Kreativität im Design der dezenten und rührenden Erinnerungen. Ich muss auch Herrn und Frau Weise, die Eigentümer der Kaiserstraße 21, erwähnen: Sie sind sehr verständnisvoll, gastfreundlich und einladend, und meine Familie schätzt das sehr. Meine Mutter, Eva Blank, war die älteste der drei Blank-Töchter. Sie verbrachte nur ihre ersten fünfzehn Lebensjahre in Hameln; anhand von Fotos, so glaube ich, war das eine glückliche Zeit, bevor die Geschichte dazwischenkam. Sie besuchte die Hermannschule und dann das Lyzeum, was, wie ich glaube, heute die ViktoriaLuise-Schule ist. Sie war ein äußerst tapferer und liebenswerter Mensch, und obwohl sie vor 16 Jahren gestorben ist, vermissen meine Schwester Barbara und ich sie noch sehr. Bis 1934 lebten unsere lieben Großeltern Albert und Luise Blank mit meiner Mutter und ihren Schwestern glücklich hier. Albert besaß und führte eine Teppichfabrik hier in Hameln im Gebäude, das heute ‚Hefehof‘ heißt. Im Angesicht einer immer schwieriger werdenden politischen Situation und mit viel Voraussicht hatte er keine Wahl, als das Geschäft zu verkaufen, und er verließ sein wunderschönes Haus und machte sich auf die gefährliche Reise nach England. Glücklicherweise schafften sie den ganzen Weg bis nach London. Seine Intuition ermöglichte es, dass Generationen folgen konnten und wir stehen jetzt vor Ihnen als Beweis dafür. Bei mir sind es meine Frau Deborah und unsere Söhne Dan und Ben. Für ihre Kinder, meine Enkel, hat gerade wieder die Schule in London nach dem langen Sommer angefangen und daher können sie nicht bei uns sein. Katya, die Tochter meiner Schwester Barbara, und ihre Familie sind heute bei uns. Meine Cousins Yvonne und Roland sind die Kinder der Schwester meiner Mutter, Hilde Blank, und sie werden von Yvonnes Ehemann Paul begleitet. Es gibt viele Menschen, die bei den Feierlichkeiten nicht anwesend sein können, am traurigsten ist die Abwesenheit meiner Schwester, die unpässlich ist. Das Schicksal für viele Mitglieder unserer erweiterten Familie war tragischerweise anders. Viele fanden ihren Tod in den Lagern einschließlich Auschwitz-Birkenau; und daher sagen wir ‚Niemals wieder‘. Wir sind dankbar, dass die Familie

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Blank die schwierige Entscheidung traf, das Land zu verlassen, und heute gedenken und feiern wir sie dafür. Es ist allzu traurig, dass in Europa und besonders in dem Vereinigten Königreich die schwarzen Wolken von Intoleranz und Vorurteil nie richtig verschwunden sind, und sie scheinen jeden Tag dunkler zu werden. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, dass die nächste Generation, die heute durch die wunderbaren Kinder der Viktoria-Luise-Schule vertreten war, hier sind, um über diese Geschehnisse zu lernen. Ich bedanke mich bei Ihnen allen nochmals.“ Im Anschluss hatte die Viktoria-Luise-Schule zu einem Mittagessen und einer Führung durch die Schule und die Hermannschule (damals Volksschule, heute zur Viktoria-Luise Schule gehörig) eingeladen. Beide Schulen hatten die Töchter von Albert und Luise Blank besucht und waren dort wegen ihrer jüdischen Herkunft völlig isoliert gewesen. Den Abschluss des Besuchs der Angehörigen der Familie Blank bildete ein Besuch am Mahnmal für die zerstörte Synagoge und in der Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde Hamelns in der Bürenstraße. Einige Wochen nach der Verlegung hat die Geoffrey Harris aus der Rückschau auf den Besuch in Hameln in einer Mail an Bernhard Gelderblom vom 23. Oktober 2018 formuliert: „… it seemed appropriate to bring some closure to what felt like an open wound” („Mir schien es angebracht, die Gelegenheit zu nutzen, um etwas, was sich wie eine offene Wunde anfühlte, zu verschließen.“).

Geoffrey Harris bei seiner Ansprache im Hamelner Hochzeitshaus Foto Olaf Piontek 2018

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HAMELN Am 26. Juni 2013 beschloss der Rat der Stadt Hameln einstimmig, sich an dem Erinnerungsprojekt „Stolpersteine“ zu beteiligen. Vorausgegangen war eine längere, teilweise kontroverse Diskussion. Anders als die orthodoxe jüdische Gemeinde Hamelns lehnte die liberale jüdische Gemeinde das Projekt mit dem Argument ab, mit der Verlegung der Steine im Straßenraum würden die Opfer noch einmal mit Füßen getreten. Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass der Rat geschlossen für das Projekt stimmte. Er legte als Bedingung fest, dass kein Angehöriger sich gegen eine Verlegung aussprechen dürfe. Laut Ratsbeschluss führt der Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln die erforderlichen historischen Recherchen zu dem Schicksal des Menschen durch und spricht den Text des Stolpersteins mit dem Künstler Gunter Demnig ab. Die Recherchearbeit hat Bernhard Gelderblom für den Verein übernommen. Aufgabe des Stadtarchivs ist die Vorbereitung der erforderlichen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen der Verlegung und die Information der Eigentümer, Nutzer und Bewohner der Häuser, vor denen Stolpersteine verlegt werden. Nach der Verlegung gehen die Stolpersteine in das Eigentum der Stadt Hameln über. Die Herstellungs- und Verlegungskosten von 120 Euro für einen Stein werden komplett durch Spenden von Privatleuten und Initiativen aufgebracht. Die Verlegungen, zu denen mehrfach auch Angehörige von Opfern eingeladen werden konnten, wurden regelmäßig von Schülerinnen und Schülern der Hamelner Schulen begleitet. Das regelmäßig erforderliche Reinigen der Steine hat ebenfalls der Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln übernommen. Kooperationspartner sind die Evangelische Jugend, Schulen und politische Parteien Hamelns. In Hameln wurden seit 2013 Stolpersteine verlegt. Fünfmal – am 26. November 2013, am 28. März 2014, am 29. Januar 2015, am 19. April 2016 und am 27. September 2018 – hat Gunter Demnig Hameln besucht und insgesamt 78 Stolpersteine im Hamelner Stadtgebiet verlegt (Stand September 2018).

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fortenstraße Fischp 18

Bäckerstraße

58

47 45

Münsterkirchhof

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Bäckerstraße, Münsterkirchhof und Fischpfortenstraße Fischpfortenstraße 18 – Martha Cohn

Das Hutgeschäft von Martha und Hertha Cohn in der Bäckerstraße 56, undatiert Sammlung Bernhard Gelderblom

Martha Cohn führte mit ihrer älteren Schwester Hertha ein kleines Geschäft für Hüte und „Damenputz“ in der Bäcker­ straße 56. Die kranke Schwester starb 1937. Der einzige noch lebende Angehörige, ihr Bruder Erich, war zu dieser Zeit schon in die USA geflüchtet. Ganz allein musste sie sich um die Bestattung der Schwester kümmern. Die Bestattung musste heimlich vor sich gehen. Für einen jüdischen Toten von einem Tischler einen Sarg zu bekommen, war schwierig. Martha musste das Geschäft aufgeben und wohnte nun in der Fischpfortenstraße 18. Sie lebte kümmerlich von Näharbeiten sowie von Übersetzungen ins Englische und Französische. 1940 musste sie auf Anordnung der Stadtverwaltung ins „Judenhaus“ Neue Marktstraße 13 ziehen. Sie bewohnte dort zwei kleine, schräge Dachkammern mit Blick auf die Hummenstraße. Eine Zeitzeugin berichtete, dass sie als Kind im Auftrag ihrer Eltern Martha Cohn öfter Näharbeiten und Lebensmittel brachte. Besuche im „Judenhaus“, Hilfeleistungen für Juden gar, waren gefährlich. Das kleine Mädchen wusste nichts von der Gefahr. Seine Eltern halfen trotzdem, hatten auch 1937 geholfen, als es so schwer war, einen Sarg für die verstorbene Schwester Hertha zu beschaffen. 30


Im Herbst 1941 eine Begegnung auf der Straße: Martha Cohn mit Davidstern, den sie mit der Handtasche zu verdecken sucht. Das Kind will grüßen, Frau Cohn blickt weg, tritt auf die Straße, will es nicht mit einem Gruß kompromittieren. Nachdem Martha Cohn im März 1942 von der Polizei die Aufforderung bekommen hatte, sich zum „Transport“ bereitzuhalten, bat sie die befreundete Familie, einige Bücher aufzubewahren. Die Bücher – jüdische Gebetsbücher und eine mehrbändige Ausgabe der Thora – seien ihr als Erinnerung an ihren Vater lieb und teuer. Nach dem Kriege möchte sie diese wieder abholen. 1942, im Alter von 47 Jahren, wurde Martha Cohn in das Ghetto Warschau deportiert. Wann sie ermordet wurde, ist nicht bekannt. Die Thora sowie die Gebetsbücher haben sich erhalten.

HIER WOHNTE

MARTHA COHN

JG. 1895 DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU ERMORDET

Bäckerstraße 58 – Ida Oppenheimer Ida Oppenheimer wurde am 6. September 1864 als Tochter der Eheleute Hermann und Henriette Oppenheimer in Hameln geboren. Ida Oppenheimer blieb unverheiratet. Die als Klavierlehrerin und „Liedbegleiterin“ von vielen Hamelnern hochgeschätzte Frau lebte zusammen mit ihrem Bruder, dem Musikalienhändler Wilhelm Oppenheimer, in der Bäckerstraße 58. Wilhelm Oppenheimer starb 1937. Die Wohnung in der Bäckerstraße 58 musste Ida am 1. August 1941 verlassen und in das „Judenhaus“ Neue Marktstraße 13 ziehen. Die 78jährige Ida Oppenheimer wurde am 23. Juli 1942 von Hameln aus über Hannover-Ahlem in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert. Sie kam dort am 24. April 1943 ums Leben. Die „Hofmusikalienhandlung“ Oppenheimer (links) in der Bäckerstraße 58, um 1925 Die Wohnung von Ida und Wilhelm Oppenheimer befand sich in der zweiten Etage. Foto Privatbesitz 31

HIER WOHNTE

IDA OPPENHEIMER JG. 1864 DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT TOT 24.4.1943


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