KOLUMNE
Unser Leben ist kompliziert geworden – oder doch nicht? Immer wieder müssen wir Entscheidungen treffen. Früher schien das relativ einfach zu sein. Es gab meistens zwei Möglichkeiten: Mache ich es so oder so? Und war die Entscheidung getroffen, ging es in diese Richtung. Es gab kaum ein Zurück! Und heute?
Peter Santschi Brienz
Heute leben wir in einer Zeit mit hohem Selbstbestimmungsgrad. Das hat riesige Vorteile. Jedoch verlangt diese Verbesserung von uns immer neue Entscheide. Zum Beispiel bei Bildung und Ausbildung läuft es ganz anders als früher. Nach altem System gab es in der vierten Klasse eine Sekprüfung. Dann war (bereits im Alter von zehn Jahren) eine Weiche gestellt. Später folgte die Gymerprüfung. Bei deren Nichtbestehen blieben automatisch viele Wege versperrt. Heute aber gilt im ganzen Bildungswesen das Prinzip der Durchlässigkeit. Je nach Reife, Motivation und individueller Ent-
wicklung können Weichen neu gestellt und Fehlentscheidungen korrigiert werden. Der ganze moderne Werdegang bis hin zur Erwachsenenbildung bietet immer wieder neue Wege, Schlaufen, Abkürzungen, Wiederholungen oder Alternativen an. Die Durchlässigkeit ist ein grosser Fortschritt für alle. Aber Achtung: Es geht nicht von selbst! Immer wieder müssen Entscheidungen getroffen werden und man muss sich im Labyrinth von Überund Unterführungen, Tunnels, Brücken und Schlaufen zurechtfinden. Das stellt an Jugendliche – aber besonders auch an Ältere – grosse Anforderungen. Die alte Weiche der Rothornbahn hat also im Werdegang von uns Menschen ausgedient. Zwar war sie einfach, übersichtlich und von eiserner Gültigkeit. Aber das heutige Leben stellt immer neue Anforderungen und verlangt Flexibilität. Kein junger Mensch kann nach der Berufslehre sagen: «So, das mache ich jetzt, bis ich sechzig bin.» Berufe verschwinden oder verändern sich so stark, dass die Anforderungen plötzlich komplett anders sind.
Durchlässigkeit eröffnet die Chance, neue Wege zu gehen, Dinge nachzuholen, die man verpasst hat und letztlich zu einer Tätigkeit zu finden, die Befriedigung, Freude und bessere Lebensmöglichkeiten bringt. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass die eiserne Weiche mit der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten nicht mehr zeitgemäss ist. Vielmehr muss sich der moderne Mensch das Bild der Autobahn-Verzweigungen zwischen der «Interstate»-Autobahn und dem Flughafen vor Augen halten. Es ist zwar verwirrend und unübersichtlich, aber es gibt ja Hilfen und Unterstützung. Und wenn man sich trotzdem verfahren hat, muss man halt einmal zurückkommen und ruhig eine Schlaufe machen. Das sagt sich natürlich einfach. Aber wenn Sie mit einer Geschwindigkeit von 80 Meilen pro Stunde auf der innersten linken Spur im dichten Verkehr fahren und Ihre Frau ruft: «Da vorne musst du rechts raus!», ist es mit der Ruhe vorbei. Und kaum fangen Sie mit dem Spurwechsel an, röhrt die laute Hupe von einem 40-Tönner hinter Ihnen los, der nicht daran denkt, Sie
«Man muss bereit sein, immer wieder Neues zu lernen, um sich im Labyrinth der Durchlässigkeit zurechtzufinden.»
82
BrienzInfo | September 2020