Kurzvorschau – Eine Reise nach Ostanatolien

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© 2018 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

Text: Barbara Traber / Hüsniye Kahraman-Korkmaz

Fotos: Barbara Traber

Gestaltung Titelbild: Rahel Gerber, Dominic Siegrist, Werd & Weber Verlag AG

Layout: Catherine Schubiger, PT-6150 Sobreira Formosa

Lektorat: Laura Scheidegger, Werd & Weber Verlag AG

Korrektorat: Madeleine Hadorn, Werd & Weber Verlag AG

ISBN 978-3-03818-190-3

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Inhaltsverzeichnis Hüsniye Kahraman-Korkmaz Auf der Suche nach meiner früheren Heimat 7 Politik: kein Gesprächsthema 11 Eine beinahe fremde Stadt 16 In der Gefahrenzone 27 Eine Partisanin aus der Schweiz 38 Ein eigener Friedhof für die Sippe 41 Heimat: Was ist das? 48 Barbara Traber «Fremdkehr» nach Ostanatolien 51 Ankunft und Enttäuschung 59 Schrecken und Schönheit 68 Keine Zukunft 79

Hüsniye Kahraman-Korkmaz

Auf der Suche nach meiner früheren Heimat

Gut 30 Jahre war ich nie mehr im Osten der Türkei gewesen. Im Herbst 2001, nachdem ich das Schweizer Bürgerrecht erhalten hatte, wurde es möglich, erstmals wieder in die Türkei zu reisen, vorerst allerdings nur in den Westen des Landes, und seither war wieder viel Zeit verstrichen. Schon sehr lange hatte ich immer Sehnsucht nach Erzincan gehabt und mir gewünscht, zu sehen, was sich dort in den letzten 35 Jahren verändert hat. In dieser Stadt in Ost anatolien habe ich die wichtigsten Jahre meines Lebens, meiner Jugend verbracht. Aber ich hatte all die Jahre immer Angst gehabt, in den Osten der Türkei zu reisen. Als mir mein Sohn ein Enkelkind geschenkt hatte und auch meine Tochter zu Hause ausgezogen war, hatte ich auf einmal viel Zeit zum Nachdenken. Es entstand eine gewisse Leere in meinem Leben, und ich merkte, dass die Vergangen heit nicht abgeschlossen war. Mein Mann jedoch wollte nicht in seine alte Heimat reisen; seit seiner Flucht ist er nie mehr dorthin zurückgekehrt. Auf einmal brachte ich den nötigen Mut auf, die Reise zu planen, obwohl ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei alles schlimmer geworden war. Ich wollte mich nicht länger einschüchtern lassen. Ich fühlte mich frei, und niemand brauchte mich hier wirklich. Ich wollte endlich die Realität in der Türkei, die ich in den Medien ständig mitverfolgt hatte, mit eigenen Augen sehen und erleben. In was für einem Zustand werde ich das Land vorfinden? Was hat sich dort verändert seit meiner Flucht?, fragte ich mich.

So beschloss ich eines Tages spontan, Flugtickets zu buchen; ich war schon immer eine Draufgängerin gewesen.

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Kenan, mein jüngerer Bruder, war in dieser Zeit gerade einen Monat lang bei mir in Thun in den Ferien. Wir machten zusammen viele Ausflüge in die Berge, und auch mein jüngster Bruder Musa kam auf Besuch. Wir drei Geschwister waren wieder einmal zusammen wie in früheren Zeiten.

Der grosse Tag war plötzlich da, und ich traf Barbara wie vereinbart am Bahnhof Thun. Ich war wegen meiner Sehbehinderung zum Teil auf ihre Hilfe angewiesen, vor allem in der Dunkelheit. Wir fuhren mit dem Zug nach ZürichFlughafen und übernachteten direkt am Airport, weil wir am nächsten Morgen sehr früh abfliegen würden. Mir kam alles vor wie ein Traum, und ich konnte immer noch nicht glauben, dass wir nun tatsächlich unterwegs waren. Ich habe Flugangst und hatte deshalb Edelweiss gebucht, eine Schweizer Fluggesellschaft, das schien mir sicherer zu sein. Alles ging jedoch gut, und ich spürte, dass ich bei Barbara, die reiseerfahren ist, in guten Händen war. Wir landeten mittags in Dalaman an der südwestlichen Mittelmeerküste, und ich atmete erleichtert auf und stellte fest: Ich lebe noch!

Nun folgte die Passkontrolle. Vorher hatte ich all die Jahre immer und überall Angst vor Beamten und Passkontrollen gehabt und jeweils innerlich gezittert. Doch diesmal blieb ich ruhig und wusste: Ich bin ein freier Mensch, mir kann nichts passieren mit meinem Schweizer Pass. Barbara liess mich vorangehen, damit sie sehen konnte, wie ich durch die Kontrolle kam. Der Zollbeamte stellte fest: «Sie haben sich vor neun Jahren einen Pass ausstellen lassen und sind trotzdem nicht in die Türkei gereist. Warum?»

Was soll ich antworten?, überlegte ich. Am besten sage ich gar nichts. Ich schwieg hartnäckig.

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Zu meiner Überraschung sagte er: «Bravo, dass Sie nun doch gekommen sind!»

Er kontrollierte zwar meinen Pass ganz genau, doch offenbar stand mein Name nicht im Personenkontrollsystem –und ich kam problemlos durch den Zoll. Die erste Hürde war genommen.

Als wir mit unseren Koffern aus dem Flughafengebäude traten – es war unerträglich schwülheiss –, erwartete ich, dort meine Halbschwester Ayten und ihren Mann zu sehen, die versprochen hatten, uns abzuholen. Aber es war niemand da. Endlich sah ich sie draussen von weitem winken. Es war verboten, ganz nahe am Flughafengebäude zu parken. Bei meinen Verwandten war ich gut aufgehoben, mein Schwager fährt sicher Auto, das wusste ich. Wir fuhren ungefähr eine Stunde weit in ihr Hotel oberhalb von Fethiye, fühlten uns dort willkommen als Gäste und wurden verwöhnt. Barbara wurde wie ein Mitglied der Familie behandelt. Am zweiten Tag besichtigten wir mit meinem Schwager antike Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, und auch Kenan traf nun mit seinem Auto aus Izmir ein.

Bei meinem Bruder fühlten wir uns in besten Händen, er ist ein ausgezeichneter, vorsichtiger Autofahrer. Wir hatten auf der ganzen Reise unterwegs zum Glück nie Probleme. Die nächsten zwei Tage würden wir nun sehr weit fahren. Es war mein Wunsch, Barbara ein touristisch attraktives Programm zu bieten, damit sie möglichst viel von der Türkei sehen konnte. Auch ich interessiere mich sehr für die Natur, für alte Kulturen und für Geschichte, die meist mit viel Schmerz und Leid verbunden ist. Immer schon hat es Völker gegeben, die vertrieben wurden und auf der Flucht waren. Die Völkerwanderungen der Gegenwart

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haben Ähnlichkeit mit der Geschichte meiner Vorfahren im Osten.

Zuerst fuhren wir nach Pamukkale. Diesen beeindruckenden Ort hatte ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Schade fand ich, dass es in Pamukkale so viel Schmutz und Abfälle gab, überall PET-Flaschen, Plastiksäcke und kaputte Strassen. Es wird viel zu wenig für den Tourismus getan, obwohl man Eintritt bezahlen muss, um die Kalksteinterrassen zu begehen.

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Politik: kein Gesprächsthema

Von Anfang an war mir klar, es sei besser, in der Türkei mit den Menschen nicht über Politik, die polarisiert, zu sprechen. Ich nahm mir vor, möglichst wenige Fragen zu diesem Thema zu stellen. Überall trafen wir nette, hilfsbereite Leute, die jedoch nicht über ihre politische Einstellung Auskunft geben wollten, sie hatten Angst, offen über die Situation im Land zu sprechen. Sie befürchteten, sie und ihre Familien würden überwacht, wären Repressionen ausgesetzt und könnten ihre Stelle verlieren oder gar inhaf tiert werden.

Am nächsten Tag waren wir elf Stunden im Auto unterwegs bis nach Kappadokien. Eine sehr weite, abwechslungsreiche Fahrt, beinahe «ans Ende der Welt», fand Barbara. Als wir die ersten Feenkamine in dieser einzigartigen Landschaft erblickten, rief sie aus: «Schau, Hüsniye, wie schön das hier ist!» Sie machte staunende Augen wie ein Kind. Auch für mich war das alles neu, obwohl ich schon Filme über Kappadokien gesehen hatte. Wir übernachteten in einem sauberen Hotel und fuhren am nächsten Morgen ins Ihlara-Tal. Dort machten wir eine Wanderung in der tiefen Schlucht, die mich ans Munzur-Tal in meiner Heimatprovinz erinnerte. Ich konnte kaum glauben, dass Menschen dort so viele christliche Kirchen ohne richtiges Werkzeug, mit ihren Händen in die Felsen gebaut hatten. Auch eine unterirdische Stadt in Derinkuyu besichtigten wir. Kenan nahm mich an der Hand und führte mich, ich sah in den finsteren Räumen tief unter dem Boden nicht viel, aber ich spürte, wie schwierig es einst für die Menschen gewesen sein musste, sich hier vor den Verfolgern zu verstecken.

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Im Freiluftmuseum in Göreme hatte es viele Touristen. Leider gibt man sich meiner Meinung nach zu wenig Mühe, den Tourismus richtig zu fördern und für Sauberkeit zu sorgen. Dort in der Gegend gibt es viele Töpfereien. Mir fiel jedoch auf, dass in den überall aufgestellten Tontöpfen kaum Pflanzen oder Blumen eingepflanzt waren. Den Türken ist es nur wichtig, das Innere ihrer Häuser zu schmücken und sauber zu halten. Wie es draussen vor der Tür aussieht, interessiert sie nicht. Ein Schock war der Zustand der WCs unterwegs, die oft schmutzig oder kaputt waren.

In Mittelanatolien fiel uns die extreme Trockenheit auf. Es war sehr heiss, es hatte seit langem nicht mehr geregnet, die Wiesen waren ganz ausgetrocknet und kupferfarbig geworden. Eine solche Trockenheit ist beängstigend. Ohne Wasser gibt es kein Leben. Das eigentliche Ziel unserer Reise – Erzincan und Tunceli – rückte allmählich näher. Die Moscheen und die türkischen Fahnen überall waren mir nicht neu, das kannte ich bereits: Eine Religion, eine Nation, eine Fahne, eine Sprache!, wird gepredigt. Man gibt zu viel Geld für prunkvolle Moscheen aus; man sollte besser in mehr Arbeitsplätze und vor allem auch in Schulen investieren, das wäre bitter nötig.

Das Versprechen der Regierung, die Türkei werde eine Demokratie, es werde alles besser, hat falsche Hoffnungen geweckt. Geändert hat sich nichts, im Gegenteil, es ist alles weit schlimmer geworden seit 1983, eine richtige Entdemokratisierung ist in Gang. Erdogan zeigt nun sein wahres Gesicht. Er hat sich langsam von unten hochgearbeitet, er ist nicht über Nacht Staatspräsident geworden. Die Türkei hat sich immer mehr zu einem autoritären Präsidialsystem entwickelt. Erdogan hat den muslimischen

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Prediger Fethullah Gülen mit seiner Gülen-Bewegung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht und ihn eigentlich für seine Zwecke ausgenutzt; er möchte die Linken und die Kurden vernichten.

In der Nacht vor unserer Ankunft in Erzincan konnte ich kaum schlafen. Es kam mir immer noch alles unwirklich vor. So viele Jahre war meine frühere Heimat unerreichbar gewesen – und nun würden wir tatsächlich in Erzincan ankommen, wir waren ganz nah am Ziel. Weder Kenan noch Barbara verriet ich, wie sehr ich auf einmal Angst hatte vor dem, was uns in Ostanatolien erwartete. Noch sechs Stunden – und dann sind wir in Erzincan, dachte ich ununterbrochen.

Wahrscheinlich wird sich nicht viel verändert haben, überlegte ich. Aber Barbara hatte mich gewarnt, ich müsse mich darauf vorbereiten, dass alles anders sein werde, sonst sei ich dann enttäuscht. Und schon jetzt unterwegs in den Osten kam mir vieles in der Türkei fremd vor. Die Nacht wollte kein Ende nehmen. Viele Emotionen und viele Erinnerungen kamen hoch. Ich hatte zudem plötzlich grosse Sehnsucht, meine Mutter und meine Genossen von früher wiederzusehen. In mir herrschte ein eigenartiges Gefühlschaos.

Nach dem Frühstück ging die Reise endlich weiter. Nach ungefähr sechs Stunden Autofahrt kamen wir an Refahiye vorbei, dem Verwaltungszentrum der Provinz Erzincan. Das war für mich auch eine fremde Stadt. Ich wusste, dass die Bevölkerung dort «gemischt» ist, das heisst aus Aleviten und Sunniten besteht. Jetzt wollte ich nur rasch weiter nach Erzincan. Es begann plötzlich stark zu regnen. Hier gab es auffallend viel Grün, viele Bäume. Bisher, in Mittelanatolien, hatte ich fast nur Trockenheit, Steppe, Steine gesehen. Ich kannte jedoch den Zustand der Strassen

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nicht und wusste nicht, was passieren würde bei heftigem Regen, ich hoffte, es würde nicht noch ein Unglück geschehen, bevor ich Erzincan endlich sehen würde. Diese Strecke – in umgekehrter Richtung – war ich vor über 30 Jahren mit dem Bus gefahren, allein mit meinem kleinen Sohn auf der Flucht in die Schweiz. Drei Jahrzehnte schienen so unglaublich rasch vergangen zu sein. Cemil, inzwischen längst erwachsen, ein Mann, war damals noch sehr klein gewesen, zweieinhalbjährig. Und ich war nun nicht mehr jung und unerfahren, sondern eine ältere, erfahrene Frau. Ich hatte mir früher gewünscht, mein ganzes Leben in meiner Heimat zu verbringen, aber das blieb ein Traum. Wir blieben in meiner Kindheit und Jugend nie lange an einem Ort, alle paar Jahre mussten wir umziehen, es schien, als gäbe es keinen festen Platz auf der Welt für uns. Es gibt viele Menschen, die bleiben ihr Leben lang am gleichen Ort, werden dort geboren und sterben auch dort, aber meine Grosseltern und Eltern gehörten immer zu einer Minderheit und mussten umherziehen. Warum gehörten wir zu einer Minderheit? Ich wollte nicht immer fremd bleiben und in Ungewissheit und Unsicherheit leben. Ich hätte lieber auch einmal zu einer Mehrheit gehört. Von weitem sah ich nun, dass wir uns endlich Erzincan näherten. Zuerst erblickte ich die Berge auf beiden Seiten, die Stadt liegt in der Ebene, eingerahmt von Bergketten. Ich hatte die Namen der Berge vergessen, aber den Munzur, den höchsten, wichtigsten Gipfel in Erzincan, nicht. Das Munzur-Gebirge bildet die Grenze zwischen Erzincan und Tunceli. Es war ein besonderer Moment, meine Stadt nun von weitem zu sehen. Ich war erfüllt von starken Gefühlen, die jäh hochstiegen, ich hätte am liebsten gleichzeitig weinen und laut herausschreien mögen: Ich bin endlich

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zurück in meiner Stadt! Ich konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Es gab viele Dörfer, viel Grün in der Umgebung von Erzincan, das war immer noch gleich. Zumindest die Landschaft hatte sich nicht verändert, und ich freute mich darüber und erwartete, auch die Stadt sei noch immer gleich wie früher. Aber dann … Zuerst hielten wir kurz eingangs Ula an. Kenan wusste, dass mir dieses Dorf viel bedeutete, und wir sahen uns um. In Ula hatte ich mich einst öfters illegal mit meinen Genossen getroffen und Theater gespielt. Die Dorfbewohner waren sehr neugierig gewesen, sie hatten zum ersten Mal in ihrem Leben ein Theaterstück gesehen, und es hatte ihnen gefallen. Aber wir konnten damals nicht weitermachen, es war verboten. Wir fuhren nun an den Rand des Dorfes, das eine kleine Stadt geworden war, es gab nicht mehr nur kleine, bescheidene Häuser, sondern grosse Wohnblocks.

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Eine beinahe fremde Stadt

Wir kamen Erzincan nun rasch näher, und ich musste feststellen, dass sich alles verändert hatte. Es gab neue Gebäude, neue Quartiere, sogar eine Universität; früher hatte es hier nur eine Hochschule gehabt. Noch bevor wir im Zentrum eintrafen, kam mir alles unbekannt vor, und es machte mir Angst. Ich hatte mir fest vorgenommen, einmal einen Tag lang ganz allein in Erzincan herumzugehen und alles wieder neu zu entdecken. Aber das war nun eine völlig andere, beinahe fremde Stadt. Wo sind wir? Ist das wirklich Erzincan?, fragte ich mich bang. So unglaublich viel Verkehr, schlecht gebaute Häuser, wegen der Erdbebengefahr nur dreistöckig gebaute Wohnblocks. Die Hauptstrasse im Zentrum gab es zwar noch, aber sie war zweigeteilt, und in der Mitte musste man beim Überqueren der Strasse über ein ziemlich hohes Hindernis aus Beton steigen, was für alte und behinderte Menschen sehr schwierig ist.

Ich könnte hier nicht mehr leben, dachte ich erschrocken, das ist für mich zu schwierig, es gibt zu viele Hindernisse. Es machte mich traurig. Ich suchte das Geschäft, wo ich gearbeitet hatte, und fand es nicht. Vor 30 Jahren hatten wir für unsere Hochzeit einen Saal gemietet. Auch den fand ich nicht mehr. Überall sah ich unzählige Plakate und grosse Leuchtreklamen, und die Geschäfte waren auffällig angeschrieben. Erzincan hatte zu meiner Zeit 60 000 Einwohner, jetzt 139 000. Ein Schock. Alles kam mir sehr fremd vor, und ich fühlte mich verloren. Was ist passiert mit dir, meiner Stadt? Hast du dich derart verändert?, fragte ich mich. Während der 30 Jahre, die ich in Thun verbracht hatte, war dort alles ungefähr gleich geblieben, vor allem im Zentrum. In Erzincan

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waren viele Leute während des Erdbebens ausgewandert, viele jedoch zurückgekommen. Und alles war anders. Ich finde hier nichts Vertrautes mehr, musste ich mir eingestehen, ich kann nicht allein auf die Strasse, ich finde mich nicht mehr zurecht, bin verloren, völlig fremd. Ich habe Angst vor den Leuten, auch sie sind alle fremd, ich kenne niemanden mehr, nur ein Schwager wohnt noch hier, aber wo genau, weiss ich nicht. Erst einmal versuchte ich, durchzuatmen. Das war mein Ziel gewesen: Erzincan. Und nun traf mich die Erkenntnis wie ein Schock: Die Stadt ist mir fremd geworden. Was ist passiert? Ich konnte und wollte es zunächst nicht glauben. Ich war völlig durcheinander, fassungslos, voller Schmerz und fremdelte wie ein kleines Kind. Nein, das konnte nicht wahr sein! Ich wollte meine vertraute, meine geliebte Stadt wiederhaben. Wo war meine Vergangenheit geblieben? Zumindest ein Stück davon musste ich hier doch finden. Ich hatte mich damals nicht richtig von Erzincan verabschieden können, hatte überstürzt abreisen müssen. Fast wie eine Verbrecherin war ich heimlich aus der Stadt verschwunden. Niemand hatte erfahren dürfen, dass ich in die Schweiz flüchtete. Ich hatte mir aber nichts zuschulden kommen lassen, ich war nur eine junge, verunsicherte, deprimierte Mutter mit einem kleinen Kind, und ich wollte dieses zu seinem Vater in die Schweiz bringen.

Und nun kam ich über drei Jahrzehnte später zurück; man hätte mich für eine europäische Touristin halten können. Ich möchte, dass du auf mich stolz bist, Erzincan, sprach ich meine Stadt in Gedanken an, als wäre sie eine Person. Früher bin ich hier eine junge Frau ohne Selbstbewusstsein gewesen, krank und schwach. Jetzt komme ich als eine Andere zu dir zurück, ich bin nicht mehr die gleiche

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Hüsniye. Du sollst stolz auf mich sein. Ich habe mich verändert wie du, auch du bist nicht gleichgeblieben. Ich muss dich so akzeptieren, wie du nun bist, aber ich hoffe, hier doch noch ein Stück von mir zu finden. Vielleicht versöhnen wir uns dann. Ich bin nicht gekommen, um etwas zu kaufen oder zu konsumieren, sondern um meine Gefühle zu prüfen. Bedeutest du mir nach wie vor etwas?

Habe ich hier noch ein Stück Heimat – oder gar nichts mehr? Ist alles für immer verloren?

Wir suchten zuerst ein Hotel, was recht schwierig war, weil es eines sein musste, das Aleviten gehört. Im Westen der Türkei gehören auch Linke zu den Sunniten, im Osten jedoch ist es anders, Sunniten gehören dort in erster Linie zur rechten Ideologie, obwohl sie selber meist nicht wissen, weshalb. Man müsste sie zuerst aufklären. Das System benutzt sie. Vor 30 Jahren hatten wir versucht, die Leute aufzuklären. Alle armen Leute sind gleich. Wenn ich armen Menschen helfen will, frage ich nicht, ob sie Sunniten oder Aleviten sind, sie sind einfach Menschen.

Wir fanden schliesslich ein schönes, modernes Hotel mit einem Café samt Konditorei, und die Leute, die dort arbeiteten, schienen aufgeschlossen zu sein. Es fiel mir jedoch unangenehm auf, wie laut es im Café war, ich habe mich längst an die Ruhe in der Schweiz gewöhnt, das ist mir wichtig geworden. In der Türkei fand ich nun alles zu laut. Die Türken sind sich gewohnt, laut zu sein, es hört sich an, als würden sie die ganze Zeit schreien oder streiten, aber sie reden nur laut und temperamentvoll. Ich war neugierig, wollte möglichst rasch mehr von Erzincan erkunden. Im Zentrum fühlte ich mich auf den Strassen sehr unsicher. Der Boden war fremd, alles war fremd, ich ging sehr unsicher, fast schwankend, als müsste mich jemand wie ein Kind an der Hand halten und

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führen, und ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte in der nicht mehr vertrauten Stadt. Erst einmal suchte ich den Stadtpark. Früher gab es dort nur Bäume, jetzt standen da auch Wohnblocks und ein grosses Restaurant mit einer Art Teich in der Mitte, wie in einem Kurpark. Hoffentlich befand sich dort in der Nähe immer noch meine Schule. Früher hatte ich jeden Stein gekannt, mich frei bewegt, alles war mir vertraut gewesen. Ich war damals sehr aktiv gewesen, jeden Tag mehrmals durch die Stadt gegangen. Jetzt kam mir alles fremd vor: die Strassen, die Gebäude, die Geschäfte, die Passanten … nur die Sprache nicht. Wie eine Fremde kam ich zurück und suchte meine alte Schule. Das Schulhaus wirkte verändert, aber ein Teil war noch wie vorher und trotzdem irgendwie anders. Ich hatte mir vorgenommen, vor der Schule auf einem Mäuerchen zu sitzen wie früher, als ich mit den Kollegen in der Pause gelacht und Spass gemacht hatte. Nun wollte ich rasch weitergehen, ich fand nichts Vertrautes mehr vor, es war ein eigenartiges Gefühl.

Auch das Gymnasium stand noch am gleichen Ort, das alte Gebäude war nicht abgerissen worden. Alles kam mir farblos vor. In meiner Erinnerung war alles farbig gewesen, ich sah noch das Rot vor mir, ein Burgunderrot. Jetzt glich das Gymnasium einem langweiligen Militärgebäude. Der Rasen im Garten vor dem Gymnasium war nicht mehr grün, sondern rötlichbraun, von der Sonne verbrannt. Für mich war jede Pause wichtig gewesen, ich hatte jeweils mit den Mitschülern leidenschaftlich über Politik diskutiert, und wir hatten auch viel gelacht und Witze gemacht. Erinnerungen kamen hoch, aber meine ehemaligen Mitschülerinnen und -schüler waren nicht mehr da, und das machte mich traurig. Am 18. Mai 1973

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war der junge Revolutionär Ibrahim Kaypakkaya umgebracht worden. Seither hatte ich an jedem 18. Mai, als ich ins Gymnasium ging, dort im Garten gesessen und an ihn gedacht.

Diese Jahre waren für mich eine wichtige Zeit gewesen, aber weder die Schule an sich noch das uns vermittelte Wissen fand ich damals wichtig, nur das politische Engagement. Wir wollten weder lernen noch studieren, wir lehnten die bürgerliche Kultur ab. Mein Vater sagte zwar immer: «Du musst lernen und in die Schule gehen.»

Das war für mich ein falsches Denken. Wir lehnten die bürgerliche Ideologie ab, den Armen brachte diese nichts. Viele Genossen studierten deswegen leider nicht, obwohl sie sehr intelligent waren. Auch meine Sehbehinderung war für ein Studium ein Problem. Du bist nicht gesund wie andere, dachte ich, aber ich zeigte das nach aussen nicht. Es war nicht mein Ziel zu studieren, obwohl meine Intelligenz dafür ausgereicht hätte. Ich wollte mich voll und ganz für die Armen und die Frauen einsetzen, für Freiheit, Gleichberechtigung und für fairen Lohn kämpfen. Durch mein politisches Engagement, meinen Einsatz wollte ich die Welt retten.

Heute habe ich viel gelernt und die Schule trotz allem abgeschlossen.

All dies lief nun wie ein Film in meinem Kopf ab. Ich war erfüllt von Freude und Trauer, dass die Jugend vorbei ist. Die Schönheit ist weg, überlegte ich, jetzt folgt eine andere Zeit. Jung sein bedeutet schön sein. Alt bedeutet: nicht schön. Die Schönheit versteckt sich vielleicht hinter den Falten im Gesicht, sie wird zu einer inneren Schönheit. Ich war sehr traurig, sagte aber meinen beiden Reisegefährten nichts, ich musste alleine mit meinen Gefühlen und Gedanken fertig werden.

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Wir konnten nicht alles an einem Tag besichtigen. Es wurde bereits dunkel, und wir gingen in ein Restaurant, ins «Kebabistan», ins Kebab-Land. Erzincan ist berühmt für besonders guten Kebab. Nicht aus Hackfleisch, sondern aus Fleischscheiben. Wir fanden einen freien Tisch. Zu meinem Erstaunen waren die Restaurants nämlich überall voll. Waren so viele Leute reich? Kenan erklärte, das seien alles europäische Touristen, gebürtige Türken aus der Schweiz und aus Deutschland, die im Sommer ihre ehemalige Heimat besuchen; im Winter werde die Stadt leer sein.

Auch in der nächsten Nacht schlief ich nicht gut. Zu viele Gedanken bedrängten mich. Was wird morgen auf mich zukommen, was werde ich erleben? Noch hatte ich nicht viel von Erzincan gesehen. Ich war traurig, nervös und enttäuscht. Bisher hatte ich mir gewünscht, fünf Tage in der Stadt zu bleiben, aber nun fand ich, drei Tage würden eigentlich genügen.

Am nächsten Morgen gingen wir sofort auf die Suche nach unserer ehemaligen Wohnung. Für mich ist es die wichtigste, ich habe dort etwa acht bis zehn Jahre verbracht, und ich wollte das ehemalige Zuhause nun unbedingt sehen. Wir gingen zu Fuss, und ich nahm an, ich würde jede Ecke kennen und gleichzeitig sehen, was sich verändert hatte. Das war nämlich viele Jahre mein Schulweg gewesen. Doch auch dieser war verändert. Ich hielt nur Ausschau nach alten Gebäuden, die neuen bedeuteten mir nichts. Nur wenige Häuser kannte ich noch; die Wohnungen der Offiziere gab es nicht mehr, und die Strassen waren verändert. Sogar mein Bruder fand die richtige Strasse nicht auf Anhieb, und wir irrten eine Weile herum, bis wir auf unsere Wohnung stiessen. Das Haus stand

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ganz verlassen da, kein Mensch schien mehr hier zu wohnen. Früher hatten hier mehrere Familien gelebt. Wir hatten jeweils Stühle ins Freie gestellt, uns gemütlich zusammengesetzt, Tee getrunken, diskutiert und gelacht, und die Kinder hatten Verstecken gespielt. Ich hätte schreien und weinen und laut fragen wollen: Warum verändert sich die Welt ständig und bleibt sich nicht gleich? Die Farbe an den Hauswänden war abgeblättert, das Geländer rostig, die Treppenstufen waren brüchig geworden … In meiner Erinnerung war alles neu und schön, und wir hatten uns damals über die grossen Fenster in der Kellerwohnung gefreut und darüber, dass wir nun mehrere geräumige Zimmer bewohnen konnten. Wir waren nicht wohlhabend, wir mussten eine günstige, einfache Wohnung mieten, doch das Wichtigste für meine Mutter war, dass wir alle zusammen sein konnten. Ein Leben in Luxus kannte und brauchte ich nicht. Ich wünschte mir nur, dass meine Mutter eines Tages nicht mehr so hart arbeiten müsste und bei uns zu Hause bleiben könnte. Nebenan gab es damals spezielle Häuser für Offiziere, und ich beobachtete, wie die Familien dort in Saus und Braus lebten. Offizierskinder besuchten die gleiche Klasse wie ich. Als Schülerin schämte ich mich manchmal für meine Mutter und befürchtete, man könnte sich wegen unserer Armut über uns lustig machen oder in der Schule schlecht über uns reden und denken: Hüsniye ist die Tochter einer armen Mutter, die arbeiten muss. Doch meine Mutter war eine sehr schöne und fleissige Frau, und ich hätte eigentlich auf sie stolz sein sollen. Sie kam für unseren Lebensunterhalt auf, und wir litten nie Hunger.

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Später habe ich mich geschämt, dass ich so schlecht über meine Mutter gedacht hatte. Musa, mein jüngster Bruder, hatte damals vor dem Haus ein Hundehaus gebaut und sich liebevoll um die Strassenhunde gekümmert. Er war so hilfsbereit und grosszügig, ein herziges Kerlchen. In seiner Kindheit war er glücklich gewesen. Die Jahre meiner Jugend liefen wie Szenen in einem Film vor meinem inneren Auge vorbei, ich sah alles wieder klar vor mir. Wichtige Menschen waren damals zu mir auf Besuch gekommen, und ich hatte in der Kellerwohnung vieles erlebt: meine erste Liebe, dann die Liebe zu meinem späteren Mann Ali Haydar und die Freundschaften zu meinen Genossen. Alles spielte sich in der Wohnung ab, vor der ich nun stand. Erfreuliches, Lustiges, Trauriges und Schwieriges. Und ich erlebte noch einmal in der Erinnerung, wie die Polizei vorbeikam und die Wohnung durchsuchte und was wir dabei für Ängste ausgestanden hatten … Und jetzt war alles still und verlassen. War denn niemand mehr da, der mich, Hüsniye, noch kannte?

Plötzlich kam eine Frau aus der Wohnung nebenan und sah uns. Vielleicht sind das neue Mieter, dachte sie wahrscheinlich, und fragte: «Was suchen Sie?» Ich nannte den Namen des Hausbesitzers und erkundigte mich nach ihm.

Ja, der habe einmal da gewohnt, aber nun schon lange nicht mehr, und auch sein Sohn lebe nicht mehr in Erzincan, er komme selten vorbei, erklärte sie.

«Wer sind Sie, wie heissen Sie?», erkundigte sich die Frau, die ich plötzlich erkannte.

«Ah, Güler, grosse Schwester, ich bin Hüsniye, die Tochter von Zehra. Wir haben vor über 30 Jahren hier gewohnt. Erinnerst du dich an mich?», rief ich aus.

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«Ja, natürlich, ich habe euch nie vergessen!», antwortete sie, sie erkannte mich nun ebenfalls. Wir umarmten uns spontan und gerührt. Nun erschien auch ihr Mann. Ich hatte ihn noch jung vor Augen, nun war er ein alter Mann geworden – und Güler eine alte, grauhaarige Frau. Sie war oft bei uns gewesen, hatte fast jeden Tag nach etwas gefragt, und wir hatten ihr immer alles, was sie benötigte, gegeben. «Ihr habt mir viel geholfen, du warst stets grosszügig, du hast alles mit uns geteilt, du warst sehr hübsch, spontan, intelligent. Warum habe ich dich nicht sofort erkannt, du hast dich gar nicht so sehr verändert», sagte sie gerührt.

«Doch, ich habe mich verändert, deshalb hast du mich zuerst nicht wiedererkannt», erklärte ich. Für mich war dieses Wiedersehen ein beglückender Moment. Als würde ich gleichzeitig auch meine Mutter wiedersehen. Wir hatten viel Zeit zusammen verbracht, die Nachbarn hatten zwei Kinder gehabt. Nun hatte ich doch noch ein Stück meiner Vergangenheit wiedergefunden, ein wichtiges Stück von mir. Ich war also nicht ganz verloren und vergessen in Erzincan. Wenn die Nachbarn eines Tages sterben, dann wird auch ein Stück von mir sterben, dann kennt mich hier niemand mehr, überlegte ich. Nach uns sei eine andere Familie eingezogen, aber das sei nicht mehr dasselbe gewesen, sie hätten uns immer sehr vermisst, erzählten die ehemaligen Nachbarn, und sie luden uns zu sich ein. Wir könnten bei ihr übernachten, sagte Güler. «Kommt herein!» Die beiden erzählten von ihrem Leben, von den Schwierigkeiten, von den Problemen ihrer Tochter. Wenn ich solches höre, zögere ich nicht zu helfen. Ich gab Güler spontan Geld, damit sie für ihre Tochter etwas kaufen konnte. Ihre Familiengeschichte gehört auch zu meiner, sie ist Teil meines Lebens.

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Es tat gut, willkommen zu sein, es tröstete mich. Die Begegnung mit Güler und ihrem Mann wühlte mich jedoch sehr auf. Ich versprach den beiden, diesmal nicht einfach aus Erzincan abzureisen, ohne mich vorher zu ver abschieden.

Nach dem Kaffeetrinken mit den Nachbarn gingen wir weiter zur Wohnung, in der ich seinerzeit verhaftet worden war. Wir wohnten dort nur zwei Jahre, ich nur eines. Hinter dem Haus hatte ich meine verbotenen Bücher vergraben. Nach meiner Freilassung und der von Ali konnten wir uns dort zum ersten Mal nach drei Jahren wiedersehen. Gegenüber wurde seinerzeit ein neues Haus gebaut, und wir bezogen dort eine Wohnung im ersten Stock. Zum ersten Mal wohnten wir nicht mehr in einer Kellerwohnung. Meine Brüder waren bereits weggezogen, sie studierten und kamen nur im Sommer nach Erzincan. Es war also keine richtige Familienwohnung mehr. Ali musste damals seinen Militärdienst absolvieren; er konnte während der Ferien heimkommen, und wir trafen uns jeweils in der neuen Wohnung – bis zu unserer Heirat.

Ali wollte nicht noch einmal fünf Jahre warten, sondern sobald wie möglich heiraten. Am 24. Oktober 1983 fand unsere Hochzeit statt. An diesem Tag musste ich von meiner Familie Abschied nehmen. Ich dachte damals, es sei gut für meine Mutter, wenn sie für eine Person weniger aufkommen müsse.

Wir gingen nun weiter und suchten im gleichen Quartier das Haus, wo ich nach meiner Heirat mit meinen Schwiegereltern gewohnt hatte. Die Umgebung hatte sich zwar verändert, aber ich fand den Laden, den Ali damals geführt hatte, und wusste noch gut, dass sein Elternhaus ganz in der Nähe sein musste.

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Das Haus meiner Schwiegereltern hatte ich als gross in Erinnerung. Jetzt kam es mir überraschend klein und unbedeutend vor, irgendwie geschrumpft, wie alle früheren Wohnungen. Nichts weckte Gefühle in mir, das Haus wirkte fremd, und ich habe ohnehin keine guten Erinnerungen an jene Zeit. Die Familie meines Mannes war mir von Anfang an ganz anders vorgekommen als meine, ich passte da nicht hinein, das spürte ich schon im Voraus. Endlich konnten Ali und ich zwar zusammen sein und uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Aber in der Wohnung der Schwiegereltern ging es mir nicht gut, es war eine Art Hölle, und ich wurde deswegen krank. Habe ich einen Fehler gemacht, in diese Familie hineinzuheiraten?, fragte ich mich damals. Ich war wie gefühllos und blieb eine Fremde. Meine Schwiegermutter lebte noch ganz in der alten Tradition, während ich eine moderne junge Frau war. Ich wollte nun nur das Zimmer sehen, in dem Cemil geboren wurde. Wir blieben nicht lange, tranken Tee mit meinen Verwandten, die vom Einkaufen zurückgekommen waren, sie verbringen hier jeden Sommer Ferien, und kehrten ins Hotel zurück. Am nächsten Tag besuchte ich mit Kenan noch einmal die ehemaligen Nachbarn, um mich von ihnen zu verabschieden. Güler hatte Börek gemacht, ein traditionelles Blätterteiggebäck, und auf uns gewartet. Wir sprachen noch einmal lange über die alten Zeiten und frischten Erinnerungen auf. Obwohl die beiden nun alt geworden waren und sich verändert hatten, machte mich die Begegnung mit ihnen nicht traurig. Wir tauschten Telefonnummern aus. Sie wolle den Kontakt mit mir nicht mehr verlieren, sagte Güler. Ich versprach, sie erneut zu besuchen, sollten wir irgendwann nach Erzincan zurückkehren.

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In der Gefahrenzone

Ich wollte unbedingt auch Tunceli, Ovacık und wenn möglich unsere Siedlung in den Bergen besuchen. Aus den Medien wusste ich, dass sehr viele Leute dort längst weggezogen sind und es kaum mehr Besucher gibt, die sich nach Ostanatolien wagen. Die Gegend gilt als gefährlich, von Reisen in Grenzgebiete der Türkei wird teilweise abgeraten und es wird zu Vorsicht aufgerufen, auch vom EDA: «Trotz erhöhter Sicherheitsmassnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Seit dem Sommer 2016 hat die Zahl der Anschläge zugenommen. Im Südosten und Osten des Landes und auch in Ankara und Istanbul haben die Attentate zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Buspassagiere, Demonstranten und Touristen.»

Auch im Report von Amnesty International 2016/17

steht: «Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Menschenrechtslage in der Türkei massiv verschlechtert. Unter dem Verdacht, mit den Putschisten zu sympathisieren, wurden Zehntausende festgenommen. Die Anwendung von Folter ist belegt. In den Kurdengebieten führen das Militär und die PKK Operationen durch, unter welchen die Zivilbevölkerung leidet.»

Das behielt ich immer im Hinterkopf. Die Angst, plötzlich wieder im Gefängnis zu landen, begleitete mich auf der ganzen Reise, vor allem in Tunceli, aber ich verdrängte und verschwieg sie.

Mein kleiner Bruder und mein Grossvater sind in unserer Siedlung begraben, allerdings nicht auf einem richtigen Friedhof. Der Ort liegt sehr abgelegen, verlassen, es ist zu gefährlich, dort zu leben. Wir hätten eine spezielle

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Erlaubnis gebraucht, um hinauffahren zu dürfen und hätten noch am gleichen Tag zurückkehren müssen. Es gibt zwar einen mit dem Auto befahrbaren Weg steil hinauf in die Siedlung, aber man weiss nie, ob man sich nicht in Gefahr begibt. Es passiere immer wieder, dass Menschen in der Gegend umgebracht würden, erzählte man uns. Dann heisse es jeweils, Terroristen, nicht das Militär, seien die Täter.

Obwohl ich unsere Siedlung gern wiedergesehen hätte, verzichtete ich darauf. Ich wollte nichts riskieren und auch Barbara nicht unnötig in Gefahr bringen. Dort oben gibt es keine Menschen, nur wilde Tiere, und wir wären ständig überwacht worden. Mehmet, der jüngste Bruder meines Mannes, reiste zwar ab Erzincan als Begleiter mit uns, weil er sich in der Gegend auskennt, und auch mein Bruder fährt regelmässig von Izmir in seine alte Heimat. Im Alter haben die Menschen auf einmal den Wunsch, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Bis zur Grenze von Erzincan hatte es bisher auf unserer Reise nie eine Personen- und Fahrzeugkontrolle gegeben. Wir wussten jedoch, dass es gefährlich war, nachts nach Tunceli zu fahren, das war nur tagsüber möglich. An der Grenze zu Tunceli gab es nun tatsächlich mehrere Kontrollen. Fünfmal wurden wir genaustens kontrolliert! Vor 30 Jahren hatte ich gezittert, wenn ich einen Polizisten nur von weitem sah. Jetzt machte es mir nichts aus, ich blieb erstaunlich ruhig. Es kam mir unwirklich vor wie in einem Film. Die Angst ist für immer weg, dachte ich erleichtert, ich habe sie überwunden. Die Soldaten, die in Tunceli ihren obligatorischen Militärdienst absolvieren müssen, verurteile ich nicht. Man kann in der Türkei Berufssoldat werden, und viele haben diesen Weg nur gewählt, weil sie keine andere Arbeit fanden.

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Sie sind deshalb keine Feinde für mich. Mir fiel bei einer Kontrolle ein junger Soldat auf, dessen Waffe grösser schien als er selber. Er kam mir so jung und unbeholfen vor, dass es mir fast weh tat, wenn ich daran dachte, wie sehr seine Mutter wahrscheinlich um ihren Sohn bangte. Aber die anderen, die nicht mehr jungen Polizisten, sind i n meinen Augen eigentlich Mörder. Wie viele unschuldige Menschen haben sie schon umgebracht?, fragte ich mich. Der Weg nach Tunceli führte durch eine sehr einsame Gegend, es hatte kaum Verkehr, und man sah, dass die Strassen nicht richtig unterhalten wurden. Wir kamen durch eine schöne Landschaft, doch kaum jemand schien dort zu wohnen, alles wirkte verlassen. Nach etwa zwei Stunden Fahrt kamen wir in Tunceli an, das früher Dersim hiess. Die Stadt kam mir ganz leer vor, allein und verlassen wie ein Waisenkind. Ich hatte dort Ende der 1970er-Jahre meine Kindergärtnerinnenausbildung absolviert. Damals war Tunceli eine Stadt voller junger Menschen gewesen, bekannt als sehr freizügig, eine Ausnahme in der Türkei. Eine ganz andere, freie Welt voller Leben und Aufbruchstimmung. Viele gebildete, aufgeschlossene, kritische, politisch engagierte Leute und Studenten lebten dort. Es gab sogar verschiedene linke Bewegungen. Anders als in den anderen Teilen des Landes wurde die türkische Flagge nicht ständig gehisst, und es wurde keine Landeshymne gesungen. Jetzt aber war die Stadt wie ausgestorben, man sah kaum jemanden auf der Strasse. Die Geschäfte waren zwar geöffnet, aber es kamen keine Kunden. Tunceli ist wie eine Wunde, in den Augen der Regierung ein kritischer, gefährlicher Ort, der gemieden und streng überwacht wird. Für mich war das eine grosse Enttäuschung. Ich konnte mit niemandem diskutieren, wie ich gehofft hatte.

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Erst als wir später aus Ovacık nach Tunceli zurückkehrten, kam ich zufälligerweise mit einer Frau, die in einem Restaurant arbeitete, ins Gespräch. Die Jungen seien weggezogen, die Touristen kämen nicht mehr, viele Bewohner seien festgenommen, inhaftiert oder getötet worden, erzählte sie. Tunceli sei eine verlassene Stadt, und dies sogar im Sommer. Die Armut sei gross, es gebe hier ja keine Verdienstmöglichkeiten, keine Industrie, nur Behörden, Militär und die Polizei. Sonst nichts. Niemand habe hier eine Zukunft.

Wir fuhren bald weiter Richtung Ovacık. Unterwegs erkannte ich die Stelle, wo der Weg zu unserer Siedlung hinauf abbiegt. Die Fahrt führte durch die Schluchten des Munzur, wo wilde Tiere leben und die Gefahr von Steinschlag gross ist. Doch auch der Fluss war nicht mehr der gleiche wie zu meiner Zeit. Früher war er ein richtiger Strom gewesen, der mir riesig vorgekommen war, mit unglaublichen Wassermassen und vielen Forellen. Man hatte den reissenden, tiefen Fluss damals nicht überqueren können. Jetzt führte er erschreckend wenig Wasser. Warum? War die Umweltverschmutzung schuld daran?, fragte ich mich. Erneut erlebte ich eine Enttäuschung. Kenan berichtete uns vom Munzur-Projekt, einem Staudammprojekt in Tunceli, von dem eine drohende Umweltgefahr ausgehe. Seit über zehn Jahren werde gewarnt, es könnte die Natur von Munzur in eine Katastrophe treiben und die Menschen, die dort leben, zur Flucht zwingen. Am 28. November 2016 sei von der Regierung durch einen Erlass festgelegt worden, vier Staudämme und fünf Wasserkraftwerke im Munzur-Vadisi-Nationalpark (42 000 Hektaren mit wichtigen, nur in der Türkei vorkommenden Tier- und Pflanzenarten) zu bauen. Der Fluss Munzur, einer der Quellflüsse des Euphrat, habe für

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