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ANDREAS TREICHL

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WELTBLICK

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FITTE BEINE FÜR DEN MARKT

Gesunde Beine sind ein wesentlicher Bestandteil eines gesunden Körpers. Falsch bewegt, werden sie über kurz oder lang zu einem Problem. So wie in Europa. Die Folgen sind dramatischer, als es den meisten Menschen bewusst ist.

„Der Kapitalmarkt braucht Kultur, und die haben wir in Europa fast nirgendwo.“

VITA ANDREAS TREICHL

Aufsichtsratsvorsitzender Erste Stiftung

Der langjährige Vorstandschef (69) der Erste Group Bank AG ist seit Jänner Aufsichtsratschef der ErsteStiftung und seit November 2020 Präsident des Forums Alpbach. Der gebürtige Wiener ist studierter Volkswirt, erfreut sich am Klavierspielen und ist für seinen Mut zur Meinung weltweit bekannt.

Kapitalmärkte sind die Beine der Wirtschaft, die in Österreich, der gesamten CEE-Region und mit wenigen Ausnahmen in ganz Europa zu wenig bewegt werden. Die Folgen dieser jahrzehntelangen Missachtung sind viel dramatischer, als es den meisten Menschen bewusst ist.

Die Nachkriegsgeschichte Europas, beginnend mit 1945, ist eine sensationelle Erfolgsgeschichte. Europa ist näher zusammengerückt. Wir haben den größten Konsumentenmarkt der Welt geschaffen. In fast allen Industrien der 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahre hat Europa am Weltmarkt führende Unternehmen hervorgebracht. Europa wurde zu einem ernstzunehmenden politischen Partner und zu dem sozial ausgewogensten Kontinent der Erde. Wir haben das alles geschafft, obwohl unsere Kapitalmärkte weit hinter jenen der Vereinigten Staaten und anderer angloamerikanischer Märkte nachhinkten. So, where is the problem?

Wir sind im Jahr 2021, und der Schwung der ersten 55 bis 60 Jahre hat dramatisch nachgelassen. Europa rückt nicht mehr näher zusammen, wir haben ein Mitglied der Union verloren, der Konsumentenmarkt Europa ist geschrumpft, und in keiner der neuen Industrien des 21. Jahrhunderts hat Europa am Weltmarkt führende Industrien hervorgebracht. Wir haben noch immer gute Universitäten, hervorragende Wissenschaftler und Techniker. Aber warum gibt es bei uns keine GAFAs, also Googles, Amazons, Facebooks, Apples. Warum sind die Weltmarktführer in IT, Internet, Digital, KI fast ausschließlich in den USA und China? Warum haben wir so viel weniger Start-ups in den neuen Technologien als die USA und Asien? Eine Antwort ist eindeutig: Wir haben uns in 76 Jahren viel zu wenig mit der Gesundheit unserer Beine beschäftigt.

Ein Kapitalmarkt braucht Handelsplätze, Instrumente, Regeln, Produkte, Liquidität, aber er braucht vor allem eines: eine Kultur, und die haben wir in Europa fast nirgendwo. Ein deutscher Finanzminister sagt voll Stolz, dass er keine Aktien besitzt. Ein österreichischer Kanzler nennt alle Aktienbesitzer Spekulanten. Ein österreichischer Industriepräsident sagt in der Öffentlichkeit, dass er nie den Schritt an die Börse getätigt hätte, wären ihm die Konsequenzen bewusst gewesen. Seit Jahrzehnten wird uns suggeriert, dass Investitionen in Aktien Spekulation sind. Lebensversicherungen, Bankeinlagen, Bausparen, Staatsanleihen und Immobilien sind seriös, Aktien sind es nicht. Das Resultat davon sind über acht Billionen an Spareinlagen bei Banken in ganz Europa, die niemandem etwas nützen und den Anlegern reale Verluste bescheren.

Wir haben höchsterfolgreiche Familienunternehmer, die lieber 100 Prozent von 5.000 als 50 Prozent von 50.000 haben. So entstehen nur Weltmarktführer in Nischenbereichen, aber nicht in den Industrien, welche die Welt prägen werden. Seit Jahrzehnten haben Banken in unseren Regionen langfristige Anlagen mit kurzfristigen Krediten finanziert und langfristige Kredite dort gegeben, wo Eigenkapital das richtige Instrument gewesen wäre. Wir hatten keine Kapitalmarktkultur, aber wir werden sie immer dringender benötigen – warum? Der Anteil der immateriellen Werte in den neuen Industrien des 21. Jahrhunderts ist wesentlich höher als in den traditionellen Industrien des 20. Jahrhunderts. Immaterielle Werte eignen sich sehr viel weniger für Bankfinanzierungen als materielle Werte. Eine Wirtschaft, die zu 75 Prozent von Banken finanziert wird, wie es in Europa der Fall ist, hat gegenüber einem Markt, der zu 75 Prozent über den Kapitalmarkt finanziert wird, wie zum Beispiel den USA, einen gewaltigen Wettbewerbsnachteil.

Wollen wir die Erfolgsgeschichte Europas der ersten 60 Nachkriegsjahre fortsetzen, müssen wir uns rasch und ernsthaft um unsere Beine kümmern. Politik und Wirtschaft müssen gemeinsam Problembewusstsein und Lösung schaffen. n

ANDREAS TREICHL

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