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Am Stehplatz Ernst Kobau
AM STEHPLATZ
Ernst Kobau
SERIE
Innerhalb des komplexen, spätfeudal sozial hierarchisch gestaffelten Systems des Zuschauerraums der Wiener Staatsoper mit der Kaiserloge, den erst- bis drittrangigen Logengästen, dem niederen Parterreadel und der Plebs auf dem „ Juchhe“ von Balkon und Galerie bildete die Stehplatzsektion vor fünfzig, sechzig Jahren ein dreigliedriges Untersystem: im Parterre die Fans, auf der Galerie die Intellektuellen, auf dem Balkon die Zuspätgekommenen. Erstere war ihrerseits untergliedert in Restbestände des Claquewesens der Zwischenkriegszeit und in naiv Begeisterte, die ihre Stehplätze in Knieplätze zwecks anbetender Bewunderung ihrer Sängerlieblinge umfunktioniert hatten. Die den Ultras des Rapidplatzes verwandten mafiosen Gestalten in der ersten Stehparterrreihe waren gefürchtet, denn sie kassierten Schutzgelder und konnten ihre kollektive Macht bis zu terroristischen Aktionen gegenüber nicht zahlenden Dirigenten oder Sängern steigern. Auf der Galerie, in zehntausend Metern Flughöhe und ohne Sicht auf die Hinterbühne, standen Studenten der Gesangsklassen mit Klavierauszügen und feiner strukturierte, kritikaffine Charaktere, die die selbstgefällige Arroganz der Stehparterrebonzen verabscheuten und schlechte Leistungen bloß schweigend oder kopfschüttelnd missbilligten. Was Stehparterre und Galerie indessen einte, war die Inanspruchnahme von Expertise und die Verachtung der ahnungslosen Sitzplatzbesucher in Logen und Parkett, welche ihre exquisite Garderobe zur Schau stellten und im Tannhäuser auf den Schwan warteten. Der Balkonstehplatz schließlich war Dilettanten und Schülern vorbehalten, die diese Karten zumeist von ihren Gymnasiums-Musiklehrern erhalten hatten und durch Capriccio von jedem weiteren Opernbesuch abgeschreckt wurden. Die Soziologie des Stehplatzes in den 60er-Jahren wäre indes unvollständig ohne Erweiterung in den psychologischen Bereich. Der „Palast der Gefühle“ (Claus Helmut Drese) diente nämlich – und hier schließe ich naiv von mir auf andere – vor allem dazu, jenen Ballast der Gefühle loszuwerden, der (sloterdijkisch gesprochen) wegen fehlender Anlagemöglichkeiten nicht in gewinnbringendere Emotionsbanken investiert werden konnte. Wer täglich dem trostlosen Bildungssystem der bis 1970 währenden Nachkriegszeit ausgesetzt war, für den begann das wahre Leben um 19 Uhr in der Wiener Staatsoper, wo man authentischen Leidenschaften, elementaren Gefühlsausbrüchen und einer musikalisch ins Unendliche gesteigerten Form von Hass ausgesetzt war, den man in der Schule eben nur in prosaischer Weise empfand. Die unerwünschte Nebenwirkung dieser selbsttherapeutischen Opernbesuchs-Medikation stellte sich indes augenblicklich beim Verlassen des Opernhauses ein, wenn man in die schäbige Realität der Opernpassage hinuntergestoßen wurde und erkennen musste, wie fundamental sich die eigenen banalen Kontakte von der transzendenten Leidenschaft Tristans und Isoldes unterschieden.