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Kunst in der Krise

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden /

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt / Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden / Hast mich in eine bess’re Welt entrückt!

So wird die Kraft der Musik, der Kunst in Schuberts An die Musik besungen. Was gibt aber tatsächlich Halt in schwierigen Zeiten? Eine Arie, ein Gedicht, ein Text, ein Bild? Was entrückt in eine „bess’re Welt“? Auf den folgenden Seiten übermitteln dem Haus am Ring verbundene Persönlichkeiten, allen voran Künstlerinnen und Künstler, ihrem Publikum Werke und Kunst-Momente, die ihnen in Ausnahmesituationen Trost schenken.

BEETHOVEN OP. 132

ICH NEHME wieder Russisch-Unterricht, mein Mann lernt Italienisch. Abends schauen wir alte Filme – wir haben eine riesige Sammlung, in verschiedenen Sprachen – und neue Rezepte werden ausprobiert. Ich musste neulich eine Reihe von Interviews für Composer of the week auf BBC radio3 machen, und das Thema war Beethoven. In diesem Zusammenhang bin ich dem Streichquartett op. 132 nach vielen Jahren wieder begegnet und es begleitet mich jetzt fast jeden Tag. Das kann ich wärmstens empfehlen.

Simone Young

MOZART KV 421

SEIT ANFANG der Corona-Krise wohne ich mit meiner Frau und meinem Schwager in seinem Wochenendhaus in einer freiwilligen Quarantäne. Wir haben viel Zeit. Wir haben gestern Nachmittag alte CDs gehört, darunter das d-Moll Streichquartett von Mozart KV 421. Und den letzten Satz habe ich mir dann gleich dreimal wieder aufgelegt. wieder, und sie versetzt mich in einen anderen, verklärten Seelenzustand. Mozart hat viele Wunder geschaffen, die anderen Sätze sind sicher auch schön, und ganz sicher auch das g-Moll Streichquintett, das ich mir für morgen vorgenommen habe. Aber im Augenblick habe ich das Gefühl, wenn ich nur ein einziges kurzes Musikstück auf eine unbewohnte Insel, oder in die Quarantäne mitnehmen darf, dann soll das der letzte Satz des KV 421 sein. Meine Gefühle sind zwar, wie immer, ohne Gewähr – morgen wird es vielleicht das Streichquintett sein, oder die Arie Scherza infida von Händel, oder … aber heute komme ich von dieser Musik nicht los. Will ich auch nicht. Sie vermittelt Glück, Traurigkeit, Versöhnung, Abgeklärtheit, Freude, Melancholie – wenn ich an sie denke, mache ich meinen Frieden mit der Welt. Und natürlich kann man dieses Gefühl mit Worten nicht beschreiben. Musik ist eine andere Dimension. Ich kann jeder und jedem empfehlen, in der Quarantäne KV 421 zu hören, und hoffen, dass sie alle durch sie glücklich werden.

Lange war ich traurig darüber, dass ich als ausübender Musiker nichts direkt mit Streichquartetten zu tun habe. Ich spiele kein Streichinstrument. Aber mittlerweile denke ich, dass das auch etwas Schönes sein kann. Bei Symphonien oder Opernaufführungen ertappe ich mich immer wieder, dass ich unwillkürlich auch auf die technische Verwirklichung achte. Auch dann, wenn ich nicht dirigiere, sondern nur zuhöre. Ob Oboe und Kontrabass genau zusammen sind oder ob ein Fagott genau mit dem Sänger gleich atmet, und ähnliches. Beim Streichquartett kann ich Musik pur besser genießen, weil ich das Gefühl habe, fürs Praktische nicht zuständig sein zu müssen.

Je älter ich werde, desto wichtiger werden für mich Streichquartette. Diese Erkenntnis ähnelt einer anderen, die ich auch erst im Alter gemacht habe: dass Kinder zu haben zwar das Schönste auf der Welt ist, doch es noch schöner ist, Enkelkinder zu haben. Bei Enkeln hat man keine Verantwortung, keine Sorgen, sie liebt man pur. Wie den letzten Satz des KV 421.

IM ABENDROT

Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand; vom Wandern ruhen wir nun überm stillen Land.

Rings sich die Täler neigen, Es dunkelt schon die Luft. Zwei Lerchen nur noch steigen nachträumend in den Duft.

Tritt her und lass sie schwirren bald ist es Schlafenszeit. Dass wir uns nicht verirren in dieser Einsamkeit.

O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot. Wie sind wir wandermüde –ist dies etwa der Tod?

DAS IST mein liebstes Lied aus den Vier letzten Liedern von Richard Strauss. Der Text – von Joseph von Eichendorff – strahlt großen Frieden aus und obgleich am Ende des Gedichts vom Tod die Rede ist, wirkt es nicht verstörend oder unheilvoll. In dieser aktuellen Krise, die jeden von uns betrifft, kann die Natur einen großen Trost spenden. Ich liebe es, in Toronto alleine durch die Wälder zu spazieren, dem Vogelgesang und dem Laut der Wipfel im Wind zu lauschen. Diese kleinen Dinge schenken mir ein Wohlgefühl und den Eindruck, mit dem Universum verbunden zu sein. Und wenn ich dieses Gedicht lese, stellt sich große Ruhe ein… Ich wünsche allen in Wien das Beste und sehne mir den Tag herbei, an dem die Wiener Staatsoper wieder ihre wunderbare Musik erklingen lässt! KS Adrianne Pieczonka

TROST DER SCHALLPLATTE

DIE AKTUELLE ISOLATION, bedingt durch ein bislang unbeherrschbares Virus, zwingt uns, alle Aktivitäten in den digitalen Raum zu verlagern. Doch an den ruhig gewordenen Abenden möchte man dem auch entgehen. Wie froh bin ich, dass ich meinen Plattenspieler und die Schallplattensammlung, mit der die Geschichte meiner Beziehung zur Musik untrennbar verknüpft ist, nie dem technischen Fortschritt geopfert habe. Nun ist die Zeit gekommen, in von Sorgen umwölkten Mußestunden zum Plattenschrank zu gehen, die schwarzen Vinyl-Scheiben aus ihren verschlissenen und doch so eindrucksvoll gestalteten großen Umhüllungen zu holen, auf den Plattenteller zu legen, lange zu säubern, vorsichtig die Nadel aufzusetzen und dann mit nostalgischem Knistern und Rauschen ein ganz privates, von Erinnerungen durchsetztes Beethoven-Jahr zu feiern: Die Symphonien in der legendären Einspielung des Royal Philharmonic Orchestra unter René Leibowitz, über die ich bei Theodor W. Adorno las, als diese Aufnahme schon längst vergriffen war und der ich dann durch halb Europa nachreiste, um in Paris endlich fündig zu werden; der unglaubliche „ungarische“ Fidelio, den Otto Klemperer 1948 aufgenommen hatte, knacksend und krachend, eine alte Hungaroton-Produktion, die ich lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Budapest entdeckt hatte; die Streichquartette in der unfassbar differenzierten und präsenten, klangtechnisch unerreichten, noch bei CBS erschienen Schallplattenaufnahme des Juilliard-Quartetts; und die schwere LP-Box mit 11 kostbaren Scheiben: Friedrich Gulda, den ich gewagt hatte, als Gymnasiast beim Musikforum Ossiach um ein Interview für unsere Schülerzeitung zu bitten, was einfach gewährt wurde, exekutiert die Klaviersonaten. Keine digitale Datei, auch keine CD kann den Assoziationsreichtum dieser Schallplatten ersetzen: Welch eine Fülle an Klang in dieser nun so karg gewordenen Welt!

GORETSCH!

WÄHREND der Proben zur Premiere meiner Tschechow-Oper Tri Sestri in russischer Sprache an der Wiener Staatsoper bat mich die Sängerin der Mascha, Margarita Gritskova, um ein kurzes Stück für ihre über drei Oktaven hinausreichende dramatische Stimme. Sie gab mir das tiefgründige Gedicht Goretsch! Goretsch! von Marina Zwetajewa, eine der neben Anna Achmatowa wichtigsten russischen Dichterinnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Als ich meinen russischen Freunden erzählt habe, dass ich Goretsch! Goretsch! vertonen werde, habe ich in ihren Augen gesehen, dass dieses Gedicht von Marina Zwetajewa wirklich in das Herz aller Russen eingeschrieben ist. Das Stück für Margarita Gritskova konnte deshalb nur ein unbegleitetes Solo werden, das man überall singen kann: im Konzert, als Zugabe, oder bei anderen Gelegenheiten.

Péter Eötvös

GLEICHES MIT GLEICHEM

GLEICHES mit Gleichem heilen – eine Weisheit, die mir dieser Tage oft in den Sinn gekommen ist, wenn sich Blödeleien und Zerstreuung zwar als Betäubungsmittel für den Augenblick bewährten, die tieferen Winkel der von Berichten aus Bergamo, São Paulo, Zagreb oder sonstwo verdüsterten Seele aber schon im nächsten Moment noch düsterer erscheinen ließen. Ist das Höchste nicht aus dem Tiefsten geschöpft? Trost fand ich nie bei den Leichtlachern und Spaßvögeln, aber in Gesellschaft derer, die sich auf die Finsternis verstehen – bei Nick Cave zum Beispiel, seinen beispiellosen Murder Ballads, oder bei Leonard Cohen: Ein Lied wie The Partisan springt mir rettend an die Gurgel, wenn mich die Sehnsucht würgt oder ein Selbstmitleid. Anna Baar

LITERATUR

DIE ZEITEN sind wirklich nicht rosig, am besten haben es noch die schaffenden Künstler, sie können schreiben, malen, Skulpturen aus dem Stein hauen, von mir aus auch Bananen an die Wand kleben. Wir als Interpreten haben es echt schwer, ohne direkten Kontakt mit Publikum fühle ich mich wie ein halber Mensch, habe keine Lust zum Singen und Üben. Ich betrachte es wie einen seit langem schon fälligen Urlaub, keine sechs Tage zwischen Vorstellungen an denen man sowieso permanent über das Singen nachdenkt, sondern ein echtes Abschalten, Herunterfahren. Ein Gefühl, das ich seit mehr als 20 Jahren kaum kenne. Meine Kompensation heißt lesen. Ich hole nach, was ich in den letzten Jahren vernachlässigt habe, stehe gerade bei Olga Tokarczuk, aber mein Plan ist, in den nächsten Wochen alles zu lesen, was hier zu Hause – wir sind in Südpolen in unserem Landhaus – steht. Das Haus braucht übrigens viel Pflege, auch das wird uns beschäftigen. Und wenn es noch länger dauert, dann baue ich im Garten einen Pizza/Brot-Ofen ...

KS Piotr Beczała

FINLANDIA

IN SCHWIERIGEN Zeiten, und ich glaube diese Zeit ist eine der schwierigsten, die ich bisher durchlebte, habe ich immer Sehnsucht nach Finnland, nach meiner Heimat. Ich denke dann an Finlandia von Jean Sibelius. Die Musik und der Text haben schon vielen Generationen Trost gespendet.

KS Camilla Nylund

DIE GRÖSSE FREIHEIT: LIEBE

Come again! Sweet Love doth now invite, thy graces that refrain, to do me due delight. To see, to hear, to touch, to kiss, to die, with thee again in sweetest sympathy.

ES IST ALLES wirklich sehr surreal, was wir gerade durchleben müssen, und ich gestehe, als sehr aktiver Singvogel fühlt es sich ein bisserl so an, als seien meine Flügel gestutzt. Wenn ich im Wetterbericht die Insel Island sehe, denke ich mit Wehmut an die vielen Reisen von Nordamerika nach Europa (oder retour), denn da ist Island immer der „half way point” – man ist also bald wieder zuhause. Ich denke an die Seefahrten, die ich als Leiter der Stella Maris Vocal Competition machen durfte, an die schier unbegrenzte Freiheit, die wir verloren haben, und an das, was sie nun wirklich bedeutet. Mir fallen die Florestan-Arie oder Mozarts Konzertarie Misero! o sogno, o son desto ein. Die Kerker-Szenen verstehen wir nun anders. Wobei, es ist für mich, Gott sei Dank, so, dass ich mit meiner Frau zusammen sein darf, die ich nicht nur liebe, sondern auch mag! Ich denke also dankbar daran, dass ich atmen und leben darf und wie gut es mir geht, während andere wirklich leiden ... ich bete für Sie und entdecke, dass doch die wahre Liebe die größte Freiheit ist, die wir haben ... und so singe ich oft beim täglichen Üben auch das schönste Lied von allen, John Dowlands Love doth now invite. Und ich denke daran, dass, wenn alles vorbei ist, vieles, wie etwa bei unseren Barocktage in Melk, doch am Ende nur aufgeschoben und nicht aufgehoben ist ... Und ich weiß: Es wird wieder alles gut!

KS Michael Schade

GEDULD UND ERMUTIGUNG

WIE OFT musste ich meiner Familie, meinen Freunden an Aufführungstagen den Lebensstil eines Sängers erklären: ruhig zu Hause sein, lesen, Musik hören (eher wenig), verantwortungsbewusst essen … Und heute? Heute befindet sich die halbe Welt zwangsläufig und aus Solidaritätsgründen genau in derselben Situation. In solchen Momenten nähren die Künste die Seele und erinnern uns an die Platonischen Gedanken zu den wesentlichen Werten der Menschheit: Schönheit, Güte und Wahrheit. Sie trösten uns und ermöglichen uns zu reflektieren; sie helfen uns, die Zeit zu vertreiben, die wir jetzt wie nie zuvor zu besitzen scheinen. Insbesondere Musik wird zum Mittel, um den Sinnen Freude, Energie und Vergnügen zu bereiten. Ich lese derzeit Zweigs Sternstunden der Menschheit noch einmal, während ich Bartóks Konzert für Orchester lausche: unerwartete Wendepunkte in der historischen Entwicklung vereint mit einer Musik, die die derzeitigen Empfindungen auszudrücken scheint! Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass unsere Arbeit so aufhören könnte. Ein Theater ist aufgrund seiner akustischen und visuellen Grundbedingungen der beste Ort für eine Opernvorstellung, allerdings auch der Ort des persönlichen Kontakts, der mit der drohenden Gefahr der Ansteckung durch COVID-19 unvereinbar ist. Aber wir werden zurückkehren und uns um die großen Meisterwerke versammeln, um zu feiern, dass wir in der Lage waren, diese Krise gemeinsam zu überwinden. Geduld und Ermutigung. Bis bald!

KS Carlos Álvarez

NICHT MÜDE WERDEN | Hilde Domin

Nicht müde werden. Sondern dem Wunder wie einem Vogel leise die Hand hinhalten.

DER STOTTERNDE MOTOR

WELCHE MUSIK beschäftigt mich gerade und was scheint mir wesentlich? Zunächst: Ich habe derzeit die Gnade, mich mitten in der Wildnis von Westwales aufhalten zu dürfen. Es ist niemand um mich herum und die Natur und der Frühling trösten und stärken mich. Die aus Afrika neu angekommenen Vögel wissen nichts von dieser Pandemie, die der Menschheit zu schaffen macht – sie überqueren, ohne aufgehalten zu werden, einfach alle europäischen Grenzen. Die Blumen heben wie gewohnt ihre Köpfe. Die Glockenblumen legen ihre Hände in die Hüften und schütteln ihre schönen Locken in der kalten Frühlingsluft. Ein Versprechen von Sommer und baldigen helleren Zeiten – wie ich hoffe. Das Musikstück, das mir in den Sinn kommt, ist Strawinskis Le Sacre du printemps. Die eindringlichen Rhythmen der Monate April und Mai: die zwingende Ordnung der Natur. Führen Sie diese mit den aufreibenden Frustrationen der modernen Welt, der industriellen Welt zusammen und spüren Sie die unbequemen Reibungen mit den alten pastoralen Traditionen und Überzeugungen … die allerdings rasch verschwinden …Vorboten der bevorstehenden und katastrophalen europäischen Konflikte … das alles steckt in der Musik von Le Sacre du printemps. Mehr noch, wenn man an die schreckliche spanische Grippepandemie denkt … ein Vorläufer dessen, was wir derzeit durchleben: Sie hören die stotternden Motoren der Anstrengung: Der Mensch kämpft ums physische und wirtschaftliche Überleben. Hier, tief in der Wildnis von Wales, fühle ich etwas Ähnliches. Unsere Welt der Musik … der große prächtige Motor von Oper, Ballett und klassischer Musik ist schaudernd zum Stillstand gekommen. Wir müssen diesen Motor neu starten und antreiben wenn die Pandemie vorbei ist. Um für die Rückkehr von Werten zu kämpfen, die uns am Herzen liegen und die wir früher hochgehalten haben. Ich gehe davon aus, dass der Kampf hart sein wird, da es für uns alle schwer ist … aber wenn wir solche Schönheit, wenn wir die Musik als Teil unserer Welt sehen wollen, müssen wir darum kämpfen

FRÜHLING

ICH BEOBACHTE jeden Tag, wie der Frühling erwacht – das ist für mich eine große Hilfe in dieser schwierigen Zeit! Sonst koche ich gerne (Desserts wie le „merveilleux“), schaue Theaterfilme von Molière und Shakespeare und lerne die nächste Partien wie Marie in Wozzeck, Herodias in Salome oder Sieglinde in der Walküre.

KS Sophie Koch

DIE SANDUHR | José Mújica

Der Mensch kontrolliert heute nicht die Kräfte, die er selbst geschaffen hat, aber die Kräfte, die er geschaffen hat, kontrollieren ihn …

ES GIBT einen Haufen an Überlegungen über das „Warum, Wer, Wann und Wie“ des COVID-19-Virus. Wir können solchen Gedanken nichts Neues hinzufügen, ohne in die gefährlichen und trüben Gewässer der Verschwörungstheorien zu geraten: Das Spektrum reicht von „das ist die Schuld eines kleinen Tieres“ bis zu „man hat eine virale Waffe eingesetzt, um damit einen verdeckten internationalen Finanzkrieg zu beeinflussen“ (und ähnliche Spekulationen innerhalb dieses Spektrums mehr). Die Ursache der Tendenz zu solchen Konzeptualisierungen ist verständlich, da wir in einem Klima ständiger Unsicherheiten verzweifelt nach Antworten suchen – aber sie sind unverantwortlich, wenn wir uns bemühen, an sachlichen Informationen festzuhalten. Jeder scheint heutzutage zu lügen oder zumindest nicht die Wahrheit zu sagen. Und gerade deshalb sollte jeder sorgfältig überlegen, ehe er zu skurrilen – und zugleich ziemlich attraktiven – Schlussfolgerungen gelangt.

hin tun – vorsichtig sein, aufeinander aufpassen, uns gegenseitig so gut es geht unterstützen, aber meistens zu Hause bleiben – sollte der nächste Schritt, den wir unternehmen, der Versuch sein, diese erzwungene Pause vom täglichen Wahnsinn dafür zu nutzen, darüber nachzudenken, was wir anders oder besser machen könnten. Ich werde mich selbst als Beispiel anführen, um zu erklären, was ich meine: Jeder, der in den letzten 30 Jahren direkt oder indirekt mit klassischer Musik zu tun hatte, wird wissen, wer „ José Cura“ ist. Aber nur wenige kennen den Preis, den ich für eine so lange und privilegierte Karriere gezahlt habe. So dankbar ich für die großen Erfolge in meinem Leben bin, so fern liegt es mir, mich beklagen zu wollen. Aber wenn ich zurückblicke und feststelle, wie viel ich von der Entwicklung meiner Kinder im Laufe ihres Aufwachsens verpassen musste, bin ich gezwungen, in mich zu gehen. Ich erinnere mich, dass ich einmal meine Kinder bei einem Familientreffen mit eben diesem Gedanken konfrontiert habe und ich erinnere mich an ihre Antwort: „Du warst immer da, wenn wir dich wirklich gebraucht haben und du hast uns durch deine Erfolge die bestmögliche Kindheit ermöglicht. Entspann dich und sei glücklich, wir lieben dich“. Und wenn ich dann mein Glück mit denen vergleiche, deren Arbeit unendlich schwieriger ist, kann ich nur dankbar sein. Trotzdem gehört es zu dieser „Zeit der Meditation“ in der unerwarteten Pause unserer kollektiven Routinen dazu, über solche Dinge nachzudenken, die vergangenen Jahre zu analysieren, um ähnliche Fehler zu vermeiden.

Zu den vielen Dingen, die ich in diesen vielen Jahren im Musikgeschäft zurückstellen musste, gehörte das Komponieren. Nachdem ich vor etlichen Jahren meine Karriere als Dirigent wieder aufgenommen habe – mit all den Klippen, die sich all jenen in diesem Metier stellen, die die etablierte Ordnung in Frage zu stellen wagen – finde ich nun Zeit, um wieder mit dem Komponieren zu beginnen: dieser eigentliche Hauptgrund für mein Werden vor 40 Jahren ist stets außerhalb des Möglichen gestanden. In den letzten Jahren hatte ich zwar das große Glück, mein Oratorium Ecce Homo mehrmals aufzuführen – doch stammt dieses Stück noch aus der Zeit um 1988/1989! Daher war es für mich ein Muss, gerade jetzt Zeit zum Komponieren zu finden. Seit dem Beginn der Ausgangssperre konnte ich endlich das Gitarrenkonzert schreiben, das ich immer schon geplant hatte – indem ich die Idee für ein „Concierto para un Resurgir“ (Auferstehungskonzert) für Gitarre und Orchester entwickelte, das ich der „im Jahr 2020 wiedergeborenen menschlichen Solidarität“ widmete. Außerdem beendete ich auch mein Te Deum, das ich vor einiger Zeit entworfen, aber nie fertiggestellt habe; korrigierte die Orchestrierung meiner vor kurzem uraufgeführten komischen Oper Montezuma und der rote Priester, während ich die Veröffentlichung der Aufnahme von Ecce Homo vorbereitete. Von all dem abgesehen kann ich endlich Zeit investieren, um mein Archiv und meine Bibliothek aufzuräumen, meine Webseite zu aktualisieren und viele andere Dinge in meinem Haus in Ordnung zu bringen. All das, was mich jetzt in meinem An-mein zu-Hause-Gefesseltes Dasein beschäftigt, vereinige ich mit Momenten – nachdem ich endlich den nötigen inneren Frieden gefunden habe – in denen ich mich hinsetze, um der Musik Bachs konzentriert lauschen zu können … Was ich hier beschreibe, wäre im Grunde ein paradiesischer Zustand, wenn es nicht die Ursache gäbe, die mich mit einem Mal in diese Situation geworfen hat und die täglich Leid und menschliche Tragödien hervorruft. Während jeder von uns einen Weg sucht, um mit diesen Gegebenheiten fertig zu werden, dürfen wir jene nicht vergessen, die viel weniger Glück haben: Ganz oben auf der Liste stehen diejenigen, die einen ihrer Lieben verloren haben.

Jeder muss diese uns auferlegte Lektion nutzen, damit der lang erwartete Neustart unseres Alltags mit jener Weisheit angegangen wird, die wir in der während der Pandemie geschuldeten Pause gewonnen haben. KS José Cura

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